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Eine Geschichte der Juden (Vollständige Ausgabe)
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Eine Geschichte der Juden (Vollständige Ausgabe)

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"Von allen Kulturvölkern, die auf der Erde leben, ist das jüdische Volk zugleich das bekannteste und das unbekannteste. Es gehört zu den tragischen Sonderheiten seines Geschickes, daß es niemals ignoriert werden konnte und daß es folglich immer im Urteil der Anderen, der nichtjüdischen Umgebung, bestehen oder versagen mußte. Es ist oft versucht worden, in diesem und jenem Punkte die Verfälschung auszugleichen, die so am Bild des Juden vorgenommen wurde, vorgenommen werden mußte, weil solche Urteile aus Zwecken, Leidenschaften, Feindseligkeiten und Gegensätzen kommen. Das führt zu nichts. Ein Volk von der Lebensintensität des jüdischen darf nicht auf die Apologie angewiesen sein. Es braucht vielmehr die ewige Selbstbesinnung, damit es nicht vergißt, mit welch ungeheurer Verantwortung es in die Welt gestellt worden ist.
Dieses Buch will zeigen, wo die Verantwortung und also der Sinn in der Existenz des jüdischen Volkes liegt. Es will zugleich einer aktuellen historischen Situation des Judentums gerecht werden, die es nötig macht, daß noch einmal in einem großen und gedrängten Zuge das Lebens- und Schicksalsbild des jüdischen Volkes entstehe. Denn dieses Volk steht am Beginn eines neuen Geschichtsabschnittes, vor einem neuen Anfang. " J. Kastein
LanguageDeutsch
PublisherFV Éditions
Release dateJun 8, 2018
ISBN9791029905544
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    Eine Geschichte der Juden (Vollständige Ausgabe) - Josef Kastein

    erhältlich

    Copyright

    Copyright © 2018 / FV Éditions

    Bild : Pixabay.com

    ISBN 979-10-299-0554-4

    Alle Rechte Vorbehalten

    EINE GESCHICHTE

    DER JUDEN

    von

    JOSEF KASTEIN

    — 1931 —

    ERSTER TEIL

    VON DER ENTSTEHUNG DER THEOKRATIE BIS ZUR HERRSCHAFT DES GESETZES

    DAS MOTIV

    Von allen Kulturvölkern, die auf der Erde leben, ist das jüdische Volk zugleich das bekannteste und das unbekannteste. Es gehört zu den tragischen Sonderheiten seines Geschickes, daß es niemals ignoriert werden konnte und daß es folglich immer im Urteil der Anderen, der nichtjüdischen Umgebung, bestehen oder versagen mußte. Es ist oft versucht worden, in diesem und jenem Punkte die Verfälschung auszugleichen, die so am Bild des Juden vorgenommen wurde, vorgenommen werden mußte, weil solche Urteile aus Zwecken, Leidenschaften, Feindseligkeiten und Gegensätzen kommen. Das führt zu nichts. Ein Volk von der Lebensintensität des jüdischen darf nicht auf die Apologie angewiesen sein. Es braucht vielmehr die ewige Selbstbesinnung, damit es nicht vergißt, mit welch ungeheurer Verantwortung es in die Welt gestellt worden ist.

    Dieses Buch will zeigen, wo die Verantwortung und also der Sinn in der Existenz des jüdischen Volkes liegt. Es will zugleich einer aktuellen historischen Situation des Judentums gerecht werden, die es nötig macht, daß noch einmal in einem großen und gedrängten Zuge das Lebens- und Schicksalsbild des jüdischen Volkes entstehe. Denn dieses Volk steht am Beginn eines neuen Geschichtsabschnittes, vor einem neuen Anfang. Um das deutlich zu machen, müssen wir zwei frühere Zäsuren von eindringlicher Bedeutung in den Vordergrund rücken.

    Die eine wurde erreicht, als Rom den Jüdischen Staat zertrümmerte und als das Volk endgültig in die Zerstreuung ging. Von der Zeit an mußte es nicht nur seine eigene Geschichte leben, sondern auch die seiner Umgebung. Es schuf sich seine inneren Begebenheiten und erduldete die äußeren Begebenheiten. Gewalten, die nicht in ihm begründet lagen, insbesondere das Christentum, machten es immer wieder zum Objekt der Geschichte. Dagegen stellte das jüdische Volk sein Bemühen, wieder selbstschöpferisch zu werden, sich als Nation in allen seinen Äußerungen fortzusetzen, wieder die subjektive Geschichtsgewalt zu erlangen. Es entledigte sich dieser Aufgabe in ganz anderer Weise, als es sonst Völker zu tun pflegen. Fast alle sichtbaren Vorgänge, die in die Geschichte anderer Völker die Zäsuren bringen, fehlen hier. Es fehlen Kriege, Eroberungen, Kolonisationen, Herrscher, Revolutionen. Krieg ist hier bei den Juden Abwehr gegen Mord und Totschlag; Eroberungen bedeuten Erringung von Lebensmöglichkeit; Kolonisation ist Aufrichtung einer Gemeinschaft in einem neuen Lande; Herrscher sind Gelehrte, Künstler, Rabbiner; Revolutionen brechen im Bezirk des Geistigen aus. Es ist alles vorhanden, aber alles verhängnisvoll um eine Ebene verlagert.

    Diese Situation wurde gebrochen, als die europäischen Staaten die Juden mit der bürgerlichen Gleichberechtigung beschenkten. Damit verlor für ein kurzes Jahrhundert das Erringen der subjektiven Geschichtsgewalt seine Bedeutung. Es trat zurück gegenüber der Tendenz der Angleichung an die Umgebung. Das war nicht nur als Reaktion auf die barbarische Unterdrückung von Jahrhunderten verständlich, sondern entsprach auch einem Gesetz, dem die Geschichte der Juden in der Zerstreuung zuneigt. Die geistigen Leistungen des Judentums begeben sich in Abhängigkeit zum Problem der nackten Existenz. Das heißt: je bedrängter die Existenz wird, desto enger und restriktiver zieht sich die geistige Betätigung auf den Innenraum, insbesondere auf die religiöse Grundlage des Volkstums zurück. Dehnt sich der Existenzraum aus, so weitet sich auch automatisch der geistige Raum. Hört das Existenzproblem wirklich oder scheinbar auf, ein spezielles jüdisches Problem zu sein, so tritt die weltliche, an keinen Glauben und an keine Religion gebundene Kulturleistung in den Vordergrund.

    So war es auch nach der Emanzipation, als man das Existenzproblem nicht mehr sehen wollte und als man andererseits die Bereitschaft der Umgebung, aus dem Gedanken der Emanzipation auch geistig die Konsequenzen zu ziehen, überschätzte. Es ist nämlich zu einem freien, gleichberechtigten Austausch zwischen den emanzipierenden Staaten und den emanzipierten Juden in Wirklichkeit nie gekommen. Soweit die Gleichberechtigung nicht einfach Theorie blieb, wurde sie nur der Ausgangspunkt für neue Spannungen. In diesen Spannungen begann eine Verfälschung des Sinnes der jüdischen Geschichte, und zwar nicht nur durch den Verzicht auf die subjektive Geschichtsgewalt, sondern auch durch das Bemühen, diese Spannungen durch zahllose Konzessionen an die Umgebung zu mildern; sich die bürgerliche, geistige, soziale, künstlerische und sogar die menschliche Gleichberechtigung zu erwerben und zu verdienen; sich in den Motiven und Handlungen in Abhängigkeit vom Urteil und von der Auffassung der anderen zu begeben; ein unauffälliges Judentum zu erzeugen, das heißt: das Judentum als unschädlichen Begriff existieren zu lassen und es als Energie mit völlig eigener und unvergleichbarer Gesetzmäßigkeit abzutöten.

    Es ist das Verdienst der zionistischen Ideologie, diese rückläufige Bewegung unterbrochen und eine geistige Verfassung vorbereitet zu haben, welche die eigene Leistung und die eigene Bestimmung des Juden in der Welt vom Urteil wie vom Angriff der nichtjüdischen Welt unabhängig macht. Damit erst ist die Grundlage erneuter Produktivität des Judentums als Träger einer Weltidee wiederhergestellt. Die Geschichte der Juden kann wieder weitergehen. Das ist der Punkt, an dem das Judentum jetzt hält.

    Wo diese Produktivität liegt, soll in diesem Buche am Ablauf der jüdischen Geschichte gezeigt werden. Wenn Völker nicht isoliert, sondern wirklich miteinander leben, dann kann schon das Anderssein, die bloße Andersartigkeit Produktivität bedeuten. Darum wird in diesem Buche Wert darauf gelegt, die Eigenart und damit die Andersartigkeit des Judentums zu betonen. Wir meinen dabei, daß nicht die klare Scheidung, sondern nur die wertbetonte Trennung verderblich sei. Die klare Scheidung muß – Hoffnung aller wahrhaft gläubigen Menschen – eines Tages versagen und entbehrlich werden vor einem sittlichen Niveau der Menschheit, das Unterscheidungen nicht mehr erlaubt. Die Trennung hingegen verewigt das Element der Feindschaft und gibt selbst dem sublimsten Glauben den Charakter einer Kampfmeinung.

    Über solche Einstellung hinaus muß zu allem Anfang bekannt werden, daß dieses Buch kein neutrales Buch ist. Keiner, der sich aus tiefverwurzelter Leidenschaft gedrängt fühlt, Geschichte zu schreiben, zumal die Geschichte seines eigenen Volkes, kann neutral sein, weil er sie sonst nicht erleben könnte. Und wer Geschichte nicht als Schicksal erlebt, das bis zu ihm dringt und wirkt, bleibt Materialsammler. Soweit aber hinter jedem Erleben die innere Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit stehen, erwächst daraus so viel Verantwortungsgefühl vor sich selbst, vor seinem Volk und vor der Umwelt, daß man dem Ergebnis zutrauen darf, es sei im Rahmen des subjektiven Erlebens doch das objektiv Wahre, das zutiefst Richtige aus dem Sinn der Vorgänge erspürt worden.

    KRISTALLISATION

    Volkswerdung ist immer ein geheimnisvoller Prozeß. Aus Gruppen, Horden und Sippen, aus Einzelheiten, die nur an sich selber denken, erwachsen eines Tages Verbundenheiten, Gemeinsamkeiten der Art und des Schicksals, bekommen Geburt und Tod, Glückseligkeit und Verhängnis einen veränderten Sinn, entstehen neue Gefühle und neue Denkarten, die der Erde ein neues Angesicht aufdrücken. Nichts ist damit gedient, wenn man uns lehrt, dafür gebe es nachweisbare Ursachen: Klima, Ernährung, wirtschaftliche Notwendigkeiten. Das ist richtig, aber unzulänglich. Menschliche Gemeinschaften wachsen so organisch, wie der Mensch als Stück Natur selber wächst. Das Entscheidende daran ist der Gehalt an Seele, Geist, Idee. Das ist das Unbeweisbare und Geheimnisvolle in jeder historischen Entwicklung. Ideen sind nicht zu beweisen. Sie manifestieren sich nur. Ob einer sie annehmen kann oder nicht, ist Sache des Glaubens.

    Solche Manifestationen treten schon in der frühesten, noch eben erkennbaren Zeit der jüdischen Geschichte in einem prägnanten Kristallisationsprozeß zutage.

    Etwa zu Beginn des Dritten Jahrtausends vor der heutigen Zeitrechnung dehnen sich über Vorderasien Teile jener Volksgruppe aus, die man Semiten nennt und deren Urheimat vielleicht die arabische Halbinsel gewesen ist. Sie dringen von dorther nach Norden, in das Gebiet des Euphrat und Tigris, Mesopotamien genannt, breiten sich im südlichen Babylonien als Akkader aus, sitzen im Westen, an der Grenze Kanaans, als Amurru oder Amoriter, entlassen Abzweigungen nach Palästina hinein und fluktuieren an dessen Südrand bis an Ägypten heran in zahlreichen nomadischen Stämmen. Sie sind ein Gemisch von Nomaden und Bauern. Es sitzt ihnen allen die Unruhe im Blut und doch zugleich das Verlangen, irgendwo seßhaft zu werden. Darum wandern sie viel weiter, als es sonst Nomaden auf ihrer Suche nach neuen Weideplätzen zu tun pflegen. Sie bewegen sich in einem großen, unruhigen, immer drängenden Zuge zwischen den beiden Zentren der damaligen Zivilisation, zwischen Ägypten und Babylonien. Sie durchstreifen immer wieder das Land zwischen zwei Polen: Palästina, diese natürliche Brücke zwischen Asien und Afrika. Gruppe auf Gruppe bleibt hängen und siedelt sich an. Eine Unzahl kleiner Herrschaftsgebiete entsteht und engt den freien Raum des Landes ein. Zugleich strecken die beiden Großmächte aus Norden und Süden die Hand nach diesem Durchgangsland aus. Sie brauchen es als Handelsweg. Schon um das Jahr 2500 hält Babylonien das Land besetzt. Das hat zur Folge, daß die Wanderströme an den Grenzen wie an Deichen künstlich gestaut werden und endlich mit Gewalt in das umwehrte Land einbrechen müssen. Dann dringt Ägypten vor und bemächtigt sich des Landes. Damit schafft es die gleichen Bedingungen, wie die Babylonier sie geschaffen hatten: es staut die Völkerwanderung. Folgerichtig brechen, etwa um 1400, wieder semitische Stämme in Palästina ein. Aber diesmal handelt es sich innerhalb der semitischen Völkerschaften um eine besondere Gruppe: die Hebräer.

    Wie und wann sie sich aus der größeren Gemeinschaft abgesondert haben, steht nicht fest. Sie neigten alle zur Absonderung im engeren Rahmen ihrer Familienverbände. Nur aus ihren Namen und dem historischen Kern der Erzväterlegenden läßt sich folgendes sagen: sie werden zuerst am unteren Lauf des Euphrat sichtbar, ziehen dann hinauf nach Mesopotamien und verfolgen den Weg, den alle Gruppen dort und in jener Zeit gingen: nach Syrien, weiter nach Kanaan, in die Randsteppen und – wenn die Hungersnot sie trieb – sogar bis nach Ägypten. Für die, in deren Sichtweite sie traten, kamen sie »von der andern Seite« des Stromes. »Die andere Seite« heißt im Hebräischen ewer. Die von der andern Seite Kommenden sind die Iwrim, oder, in der deutschen Transkription: Ebräer, Hebräer. Das ist etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Diese hebräische Gruppe der Semiten wird zu einem Teil in den Grenzgebieten Kanaans seßhaft. Aber da Seßhaftigkeit und schweifendes Dasein nicht nur begriffliche Gegensätze sind, sondern auch widersprechende Inhalte an Gedanken und Lebensformen haben, muß die hebräische Gruppe sich so notwendig spalten, wie es die größere semitische getan hat. Als ein Teil dieses Spaltungsvorganges steht eines Tages vor uns der Stamm der Bne Jisrael, der Söhne Israel, mithin das Ergebnis einer doppelten Auslese sowohl aus den Semiten wie aus den Hebräern.

    Aber der Differenzierungsprozeß geht weiter. Noch im Gebiete und in Reichweite des Landes Kanaan löst sich der Stamm der Bne Jisrael in zwölf Geschlechtergruppen auf, die sogenannten zwölf Stämme. Nach Ursprung, Sprache und Sitte auf das engste verwandt, sondern sie sich doch zunächst in Wegen und Schicksalen völlig voneinander. Ein Teil bleibt in den Grenzgebieten Kanaans, ein Teil bleibt auf der großen Heerstraße der orientalischen Völker und in den angrenzenden Steppen und Wüsten als Nomaden, ein geringer Teil endlich gelangt, von Hungersnot getrieben, nach Ägypten und wird dort von den Pharaonen unter ihren Schutz genommen.

    Für diese Auswanderer nach Ägypten waren alle Voraussetzungen gegeben, sich dort aufzulösen oder sich in anderen semitischen Stämmen zu verlieren. Denn sie siedelten dort nicht allein. Die Landschaft Gosen, in die sie eindrangen, das Deltagebiet zwischen dem östlichen Nilarm und der Wüste, war ein begehrtes und ersehntes Einfallgebiet aller benachbarten semitischen Nomaden und war mit seinen großen Weidestrecken vielfach das Ziel Langsamer Infiltration oder stürmischer Einbrüche. Aber es kam weder zu einer Vermischung noch zu einer Auflösung, sondern im Gegenteil zu der ersten prägnanten Herausbildung ihrer Eigenart.

    Als Ägypten seine Expansion bis nach Babylonien hin ausführen wollte, mußte es zunächst in seinem beweglichen Randgebiet Gosen stabile Verhältnisse schaffen. Es machte folglich die Insassen zu Untertanen. Ägyptische Untertanen waren aber nach der sozialen Verfassung dieses Landes Unfreie, Sklaven. Den Bne Jisrael geschah also nichts anderes als den übrigen Ägyptern. Aber sie reagierten anders darauf. Sie waren als ein freier Stammesteil nach Gosen gekommen. Ihr Anspruch auf Freiheit und Freizügigkeit war nicht verjährt. Eine Situation, die der ägyptischen Bevölkerung erträglich schien, war für sie, die sich schon durch den fortgesetzten Prozeß der Absonderungen als Individualisten auswiesen, schlechthin unerträglich. Es kam zu einem Aufstand und zu der Erhebung des Anspruches, aus der Untertänigkeit in die Freiheit und in ein anderes Land entlassen zu werden.

    Schon in dieser Situation der jüdischen Geschichte sind deutlich drei Elemente sichtbar, die von dauernder und entscheidender Wirkung sind und die schon hier, unter Vorwegnahme späteren Geschehens, geklärt werden sollen. Das jüdische Volk entsteht erst aus einem Jahrhunderte währenden, immer fortschreitenden Isolierungsprozeß. Dieses Isolierungsbestreben geht durch die Jahrtausende bis in die Gegenwart. Es ist ein inneres Merkmal der Rasse, ein metaphysisches Element. Das Schicksal hat über die jüdische Geschichte ferner das Prinzip der Auslese gestellt. An jedem großen Wendepunkt der Geschichte steht eine Verminderung des Bestandes, ein Herausschälen des Kernes. Wenn diese zwangsweise Auslese zugleich bedeutet, daß sie die widerstandsfähigen Bestandteile am Leben erhält, dann wird begreiflich, daß diesem Volke eine Art vitaler Überlegenheit über jede Umgebung eigen wird. Und endlich: sobald in der Umgebung des jüdischen Volkes Feindseligkeiten auftreten, wird dadurch ein Widerstand ausgelöst, je nach Zeit und Ort ein aktiver oder ein passiver, immer aber ein solcher, der fruchtbar ist, indem er stets erneut Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung zur Folge hat und dem Willen zum Dasein unaufhörlich Nahrung gibt.

    Isolierung, Auslese und Konzentration sind aber für sich allein betrachtet nichts als Worte für Vorgänge. Die Frage, warum das so sei, ist damit noch nicht geklärt, und doch stellt sie sich schon jetzt, am Ende der ägyptischen Periode, notwendig zur Beantwortung: diese Menschen vegetierten in der Reichweite einer religiösen Idee. Keine historische Entwicklung ist in ihrem Anfang ohne das überwiegende Mitwirken religiöser Kräfte zu begreifen. Jeder historische Ablauf wird genau um so viel für das wahrhaft menschliche Geschehen unwesentlicher, als in ihm das religiöse Moment an Kraft verliert. Das jüdische Altertum lebte viel tiefer und sichtbarer aus religiösem Fundus als spätere Zeiten. Wer das vergißt, wird die Triebkräfte immer falsch einschätzen. Wer in den Begriffen Gott, Glaube, Religion keine Wirklichkeit erkennt, sieht an der entscheidenden Gestaltung dieses Volkskörpers hoffnungslos vorbei.

    MOSCHE

    In den Mittelpunkt des Geschehens stellt der biblische Bericht die Gestalt des Mosche, zu deutsch: Moses. Er ist zweifellos eine historische Figur. Aber was ist er und was will er? Er ist kein Religionsstifter. Es gibt keine Religionserzeuger, so wenig wie es einen Revolutionserzeuger gibt. Es gibt immer nur den Menschen, der das verschlossene Gefäß sprengt, in dem die neuen Kräfte schon unter Druck stehen. Mosche ist auch nicht Volksbefreier. Kein Volk bricht in die Freiheit aus, wenn nicht in ihm von langer Hand schon alles für das Erlebnis der Freiheit vorbereitet ist. Aber Mosche war der äußerste, feinfühligste Exponent der Volkskräfte. Welche das sind, lehrt der historische Kern dessen, was über Mosche überliefert worden ist.

    Von seinen persönlichen Eigenschaften heben die Quellen nur eine hervor: Sanftmut. Sanftmut ist Güte. Güte ist das Hauptattribut des freien und gerechten Menschen. Unfreiheit und Ungerechtigkeit sind verschwistert. Mosche, der Mann mit dem ägyptischen Namen, der den Hof von Memphis so genau gekannt hat wie seine eigene Stammesgruppe, sieht diese beiden verbündeten Feindseligkeiten in ihrer besonderen Ausprägung als Ergebnis einer Religionsform, fast als notwendige Attribute von Glaubensvorstellungen, die nicht die seinen und nicht die seines Volkes sind. Zu allem Anfang seines Weges muß diese erstmalige Erkenntnis von der Verschiedenheit der Auffassungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Glauben gestanden haben. Zum ersten Male in der greifbaren Geschichte der Menschheit entsteht hier aus dem bewußten Vergleich die Erkenntnis, aus der Erkenntnis die Verpflichtung und aus der Verpflichtung die Zielsetzung.

    Zweifellos war die ägyptische Auffassung von Welt und Gottheit schon sehr ausgebildet und kompliziert, während die Bne Jisrael über nicht viel mehr verfügten als über eine stark ahnungsmäßige Vorstellung, daß außer ihnen noch göttliche Kraft existiere, schlechthin das Walten einer Macht, von der ihr Geschick im Guten wie im Bösen abhängig sei. Aber in solcher Unbestimmtheit liegen unendliche Möglichkeiten. Mosche hat seinem Volk diejenige enthüllt, von der seine religiöse Kraft erspürte, daß sie die letzte und endgültige sei. Er hat ihnen ihren Gott benannt und ihn damit erkennbar gemacht. Gott rief Mosche, sagt die Quelle. Rief nicht vielmehr Mosche nach einem Gott? Es rief in ihm, daß der Mensch nicht Tier, der Freie nicht unfrei, der Hinaufblickende nicht der Kriechende werden dürfe. Indem er diese Unabhängigkeiten in eine heilige Abhängigkeit von Gott brachte, dokumentierte sich in ihm zum ersten Male der Begriff der Einordnung und Unterordnung in Freiheit, in Freiwilligkeit. Damit umriß er die Grundbegriffe der jüdischen Theokratie. Er ist der erste Mensch, dessen Idee eine Aktualität von 4000 Jahren besitzt.

    Nichts tat er und nichts erdachte er, was seinem Volke nicht gemäß gewesen wäre. Sonst wäre es ihm nie gefolgt. Ein anderes ist es, ob sie sein Denken und Handeln, ob sie die Idee, die sie jetzt zu leben begannen, sogleich in ihrer ganzen Ausdehnung begriffen. Sie taten es nur zögernd und schrittweise; aber wie sie es taten, beweisen sie, daß sie den richtigen Weg einer organischen Entwicklung eingeschlagen hatten; und daß sie es überhaupt taten, beweist die endgültige Qualität Mosches als eines Führers kat' exochen.

    Führerschaft ist der eigentliche Sinn seiner Persönlichkeit. Die Quellen nennen ihn einen Propheten. Auch das ist richtig, denn in seinem Denken und Handeln ist die vorausblickende Schau. Der Augenblick, in dem schweifende Völker seßhaft werden, entscheidet über ihr kulturelles Schicksal. Im Entwicklungsgang der Bne Jisrael war der innere Trieb zur Seßhaftigkeit und damit der Beginn ihres kulturellen Geschicks überreif geworden. Aber Mosche erkennt: so, wie der Beginn jetzt gemacht ist, in Gosen und unter seinen örtlichen und geistigen Bedingungen, muß die Entwicklung notwendig fehlerhaft werden. Darum unterbricht er den Siedlungsprozeß. Er reißt das Volk von der kaum erworbenen Scholle fort. Er macht sie willig dazu, indem er ihnen ein Ziel setzt: Landnahme in Kanaan. Eine scheinbar einfache Lösung, denn zahllose andere Semiten- und Hebräergruppen hatten dort gesiedelt. Aber eben diese fortgesetzten Siedlungen hatten das Land überfüllt. Jede neue Siedlung mußte auf Gewalt und kriegerischen Einbruch begründet werden, bedeutete Kampf gegen engere und weitere Stammesgenossen. Gerade diesen Kampf setzt er ihnen als Aufgabe. Er gibt ihnen auch die Begründung: das altererbte Recht der Vorfahren. Es verschlägt nichts, daß die tatsächlichen Verhältnisse in Kanaan dieses Recht längst überholt und illusorisch gemacht haben. Gegen die Tatsachen spielt er eine Idee aus: ein eigenes, unabhängiges, isoliertes Dasein unter einem eigenen, von allen anderen Gottheiten verschiedenen Gotte leben und entwickeln.

    Unmöglich, daß das Volk diese Idee sogleich ganz begreift. Aber daß es die Eignung dazu in sich hat, beweist es dadurch, daß es seinem Führer folgt. Es zieht mit ihm in die benachbarte Sinai-Wüste. Dort, in einem der Hochtäler, die von lange her Stätten lokaler Kulte gewesen sein müssen, gibt er ihrem Ziel den Sinn einer Sendung durch die Entfaltung eines grandiosen religiösen Symbols: durch die Schließung eines Bundes mit ihrem Gott.

    Wer war dieser Gott? Wie begriffen sie ihn? Die Antwort muß lauten: sie begriffen ihn gar nicht. Die Juden haben nicht explosiv einen Gott aus sich geschaffen; sie haben ihn über viele lichte Höhen und durch viele dunkle Tiefen mühsam und leidvoll aus sich herausgelebt, durch nichts anderes als die Tatsache, daß sie immer von neuem sich zum Menschlichen hinneigten und aus der Summierung aller Erlebnisse und Erfahrungen zu der Erkenntnis vordrangen, daß das nackte Leben an sich, auch wenn es jede Befriedigung und jeden Wohlstand verschafft, nicht Selbstzweck sein könne. Die Möglichkeit, das zu ahnen, hatten sie schon am Sinai. Darum trägt das, was ihnen dort als Norm ihres Verhaltens verkündet wurde, zunächst einmal das Gepräge ethischer Vorschriften, den Sinn von Anweisungen, die den Vorgängen des täglichen Lebens einen geistigen Grund geben; mehr noch: sie unter eine sittliche Verpflichtung stellen. Die Zehn Gebote (der Dekalog) und das »Bundesbuch«, auf die sie sich damals verpflichteten, waren nicht in jeder Einzelheit etwas schlechthin Neues und Originelles. Sie tragen zum Teil Übereinstimmung und Ähnlichkeit mit dem Kodex des babylonischen Königs Hammurapi und ähneln hier und da Formulierungen aus dem ägyptischen Totenbuche des XVI. Jahrhunderts. Aber in Zielsetzung, Ausprägung und Nutzanwendung ist es ihr freies Eigentum. Während noch im ägyptischen Totenbuch die Seele des Abgeschiedenen sich vor dem Gotte Osiris verteidigt: »Ich habe nicht getötet«, brechen aus dem Dekalog die Imperative des sittlichen Verhaltens: Morde nicht! Buhle nicht! Stiehl nicht! Ehre Deinen Vater und Deine Mutter! Begehre nicht das Haus Deines Genossen! Und zu alledem kommt ein Gebot von atemberaubender Wichtigkeit: die Heiligung des siebenten Tages, die Einfügung einer Zäsur in den Ablauf der Alltagsfron, die grundsätzliche Überwindung des Fluches der Arbeit durch das Recht auf Feier und Besinnlichkeit, die Grundlage einer unsterblichen Idee.

    Das alles sind Anfänge. Aber sie bekommen ihre entscheidende Entwicklungsmöglichkeit durch einen weit vorausgreifenden Gedanken, dessen Geburtsstunde die Symbolhandlungen am Sinai sind und der das Gesicht der Welt gewandelt hat: durch die Proklamation eines einzigen, nicht sichtbaren und nicht bildlich darstellbaren Gottes. In einer Welt der vielen Götter und Gottheiten entläßt das Judentum aus sich den Monotheismus als Idee und zugleich als Ziel seiner Entwicklung. Damit sind die Bne Jisrael für alle Zeiten aus den umgebenden Völkergruppen abgesondert. Der Isolierungsprozeß hat einen weiteren, entscheidenden Schritt getan.

    Wir können uns nicht dazu entschließen, ein präzises, persönliches, göttliches Walten vorauszusetzen. Wir können nur aus dem Ablauf der Tatsachen einen Sinn abstrahieren. Einen Sinn in seiner Bedeutung als: innerer Grund. Gott hat nicht dieses Volk und diesen Sinn des Volkes gewollt. Das Volk wollte diesen Gott und diesen Sinn. Sucht aber einer zu erklären, woher menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften, woher Bemühungen und Zielsetzungen überhaupt kommen, landet er entweder beim toten Wort oder bei einem Begriff von Gott. So schließt sich der Kreis.

    LANDNAHME

    Jetzt erst, in der Wüste, beginnt Mosche eine Tätigkeit, die nur bewußt als eine erzieherische verstanden werden kann. Die Oasenstadt Kadesch, die schon durch ihren Namen (kodesch – heilig) auf eine Kultstätte hinweist, wird der Mittelpunkt von vierzig Jahren eigenartiger Entwicklung. Das Volk wächst an Zahl. Geschlechtergruppen, die in nächster Verwandtschaft zu den Bne Jisrael stehen, werden aufgenommen. Es entsteht eine neue ethnische Einheit, aus der allmählich, in den vierzig Jahren Wanderung zwischen Kadesch und dem Meerbusen von Ailat, alle diejenigen aussterben, die sich noch erinnern können, daß sie in Ägypten Sklavenbrot gegessen haben. Ein neues Nomadengeschlecht wächst heran, aber nicht eines, das morgen wieder zu schweifendem Leben in die Steppe ausbrechen könnte, sondern eines, über dem der gestaltende Wille des Führers Mosche ruht. Er gibt ihrem Landhunger die Richtung: Kanaan. Er sublimiert den natürlichen Drang nach Seßhaftigkeit durch eine Idee: Kanaan ist verheißenes Land. Er gibt ihnen kein Versprechen, sondern stellt ihnen eine Aufgabe: Eroberung eines Landes unter göttlicher Sanktion.

    So wächst dieses Volk auf mit einer eigenartigen Beziehung zu einem Lande, das noch keiner von ihnen gesehen hat und das sie gleichwohl als ihre Heimat ausgeben und begehren. Hier entsteht der Begriff Heimat nicht aus dem Wachstum von Generationen auf einer Scholle, sondern aus einer Idee, aus dem Glauben, daß der zugewiesene göttliche Auftrag nur in diesem bestimmten Lande erledigt werden könne. Dadurch werden Land und religiöses Bewußtsein unlösbar miteinander verkoppelt, eine Verbindung, die bis auf unsere Tage intakt geblieben ist. Sonst wachsen Völker mit ihrer Landschaft und zu einem großen Teil durch sie. Hier wächst ein Volk, das seine entscheidende seelische Grundlage schon empfangen hat, einem Lande zu. Der primitiv naturhafte Teil des Wachstums wird übersprungen. Erst ist die Idee des Landes da, dann erst das Land. Darum spielt das Landschaftliche, das Klimatische eine untergeordnete Rolle. Die Juden haben daher später in jedem Lande und jedem Klima leben können, ohne die Grundzüge ihres Wesens aufzugeben oder zu verlieren.

    Dem Lande, das sie erstrebten, könnte man die Bezeichnung »seelische Mittellage« geben. Es ist durch seine Gebirge und durch den Lauf des Jordan fast streng nordsüdlich orientiert und durch die Meeresküste, die fruchtbaren Ebenen und die jenseitige Wüste ebenso streng westöstlich. Auf einem Gebiete von kaum 500 Quadratmeilen sind Bergkuppen mit ewigem Schnee und Gesenke mit subtropischer Wärme, sind saftgrüne Ebenen und sandgraue Wüsten; aber alles ohne den panischen Schrecken »großer« wilder Natur und ohne den Überschwang göttlicher Schönheit. Der Mensch braucht dort weder zu verkümmern noch zu entarten. Wie er dort werden will, ist seiner eigenen Entschließung anheim gegeben.

    Dieses Land sucht Mosche mit dem geringsten Aufwand an Mitteln und Kräften zu erreichen. Da fremde Stämme ihm den kürzesten Weg nach Norden sperren, umgeht er den Süden des Landes in einem großen Bogen und gelangt mit der Mehrzahl der Stämme zwangsläufig in die transjordanische Ebene. Aber der Stamm Jehuda bleibt zurück. Es gelingt ihm, in den Süden Kanaans einzubrechen und sich bis in die Nähe des späteren Jerusalem, das im Besitz der Jebusiter blieb, anzusiedeln. Mit ihm geht der Stamm Schimeon. Den übrigen Stämmen in Transjordanien bleibt, wenn sie jetzt nicht in die syrisch-arabische Wüste abgedrängt werden wollen, nichts übrig, als alles zu bekämpfen, was ihnen im Wege steht. Das geschieht mit einem solchen Elan, daß sie in kurzer Frist ganz Transjordanien in der Hand haben. Nun ist der Weg frei für die Eroberung Kanaans. Aber da setzt sich der Spaltungsvorgang fort. Die Stämme Gad, Rëuben und ein Teil des Stammes Manasse erklären, daß sie in Transjordanien bleiben wollen. Das äußerste Zugeständnis, zu dem Mosche sie bewegen kann, ist, daß sie für die Aktionen jenseits des Jordan Mannschaften stellen. Im übrigen beginnen sie ihr eigenes Schicksal und ihre eigene Entwicklung. Mosche erlebt den Übergang über den Jordan nicht mehr. Die Führung geht über auf Jehoschua ben Nun (Josua), den Feldherrn. Er setzt über den Jordan, sprengt die Koalitionen amoritischer und nordkanaanitischer Fürsten und bringt eine vehemente, aber unvollkommene Eroberung zustande. Es sind drei Siedlungsgebiete entstanden. Jehuda, im äußersten Süden, ist von allen übrigen jisraelitischen Stämmen durch eingesessene Stämme völlig getrennt. In Transjordanien ist ein geschlossenes Siedlungsgebiet, aber der Jordan grenzt es ab und isoliert es. In der Mitte des Landes, bis zum Norden, dem späteren Galiläa, siedelt der Rest der Stämme, teils zwischen den eingesessenen Kanaanitern, teils sogar in Abhängigkeit von ihnen. Das nördliche Küstengebiet gehörte den semitischen Phöniziern und blieb ihnen. Das südliche Küstengebiet war von Philistern besetzt, Zuwanderern von den ägäischen Inseln her.

    Entscheidend für den Abbruch des Eroberungszuges waren aber nicht eigentlich die Widerstände der eingesessenen Völkerschaften, sondern das überschnelle Auseinanderbrechen der Stammesverbände. Mit einer ungewöhnlichen Gier stürzen sie sich auf jedes Stück Land, das sie besetzen können, wie besessen von der Idee, endlich zur Ruhe zu kommen. Jeder Stamm läßt den anderen im Stich, sobald er Land hat. Von gemeinsamen Aktionen ist keine Rede mehr. Sie haben es so eilig, Bauern zu werden, daß sie sich nicht einmal die Mühe nehmen, das eingenommene Gebiet zu sichern. Sie machen den verbliebenen Insassen, wenn sie sich von dem ersten Überfall erholt haben, lieber jedes Zugeständnis, als daß sie von neuem zu den Waffen gegriffen hätten.

    In einem solchen Verhalten manifestiert sich ein hemmungsloser Individualismus. Aber er hat eine mächtige Kompensation in der konträren Eigenschaft: einem intensiven Kollektivgefühl. Untergründig sind sie sich bei allen Eigenbröteleien der bewegenden gemeinsamen Idee stets bewußt. Das wird bewiesen durch eine Reihe von präzisen Umständen, die man vergeblich soziologisch zu deuten versucht hat.

    Einer der Stämme, Lewi, hat überhaupt kein Land bekommen. Er war auch nicht unter das Patronat eines anderen Stammes gegangen, wie etwa Schimeon unter Jehuda. Er hatte auch nie Ansprüche auf Land erhoben. Im Gegenteil: alle Stämme sind sich darüber einig, daß er kein eigenes Siedlungsgebiet haben soll, daß aber seine Angehörigen das Recht haben, sich in jedem Stamme aufzuhalten, in dem sie wollen. Diesen Lewiten weisen sie priesterliche Funktionen zu, und indem sie ihnen die Landnahme verwehren und damit die Möglichkeit des Erwerbes, übernehmen sie die selbstverständliche Verpflichtung, durch Abgaben für ihren Unterhalt zu sorgen. Sie erkennen also damit im weitesten Umfange an, daß diese priesterlichen Funktionen eine Sache der Gesamtheit bedeuten, die durch keine eigenmächtige Siedlung und Absonderung aufgehoben wird. Es kommt hinzu: wann immer in der Folge sie Krieg führen, um ihren Besitz zu erhalten oder zu erweitern, ob sie nun allein kämpfen oder in größeren Verbänden, bezeichnen sie ihn nicht als Krieg dieses oder jenes Stammes, sondern als »Krieg Jahves«. Wenn es ernst wird, wissen sie um die verpflichtende Gemeinsamkeit der Idee. Der Inhalt dieser Idee war die Verwirklichung der Theokratie.

    THEOKRATIE

    Jeder Eroberung, bei der der Eroberer sich im Lande niederläßt, folgt das Nachspiel kultureller Kämpfe. Wir wissen, daß oft der Eroberer im Ergebnis der Besiegte ist. Der gleiche Vorgang bahnte sich auch nach der Landnahme der Jisraeliten an. Das Besondere dieses Prozesses ist aber, daß nach einem anfänglichen Schwebezustand weder so noch so eine Ausgleichung zwischen Eroberern und Eingesessenen stattfand, sondern eine verstärkte Eigenentwicklung der Eroberer und eine fortschreitende geistige Isolierung. An sich waren alle Voraussetzungen für eine Angleichung und sogar für eine Vermischung gegeben. Die Jisraeliten waren in der Minderheit. Phönizier, Philister, Aramäer, Idumäer, Moabiter, Amalekiter, Ammoniter, Araber und Halbaraber umgaben sie in einem dichten Kreis und wohnten zum Teil als feste Einsprengsel unter ihnen. Sie waren in Ackerbau, Handwerk und Handel auf einer beachtlichen Stufe der Entwicklung. Sie hatten auch schon ein ausgebildetes religiöses Gefüge, das sich trotz aller lokalen Verschiedenheiten in Sitten und Kulten einheitlich auf älteste babylonische Religionsauffassung bezog.

    Die kanaanitischen Kulte waren Bodenkulte, Ausdruck der Naturkräfte, insbesondere der Kraft, die die Erde befruchtet. Diese Kraft oder dieser Gott, Baal genannt – oder auch, dem Gehalt nach der gleiche, Dagon bei den Philistern, Milkom bei den Ammonitern – ist also der Gott des Landbaues und ist damit an den Ort gebunden. Folglich beschützt er auch den jeweiligen Ort, der ihn errichtet. Er findet, konsequent aus dem Naturbegriff gedacht, seine Ergänzung in dem weiblichen Prinzip der Göttin Baala oder Baalti oder Astarte. Die Übertragung des göttlichen Schutzes auf das einzelne Anwesen erzeugt im weiteren eine Reihe von Hausgöttern. Die Untertänigkeitsbeziehung zwischen den Menschen und ihren Gottheiten dokumentiert sich vorwiegend in der Form der Opfer jeden Grades, von Naturalspenden bis zur Darbringung der Jungfrauenschaft und bis zum realen Menschenopfer.

    Mit Ausnahme der Philister, die sich schon durch ihre barbarische Behandlung der Gefangenen als Verwandte der Griechen ausweisen, schöpften die kanaanitischen Völker ihre sozialen und rechtlichen Auffassungen aus der gemeinsamen Quelle altorientalischen Rechtes. Von da nahmen auch die beiden großen Gesetzeskodifikationen der Babylonier und der Hebräer ihren Ausgang. Wenn sich also die jisraelitischen Stämme einem solchen numerisch und kulturell starken Gefüge gegenüber behaupten wollten, mußten sie schon beachtliche Kräfte einsetzen. Das taten sie, und zwar sowohl in ihrem ererbten Bestande als auch mit der Stoßkraft der neuen Idee, die in ihnen lebte. Was sie auf ihren Wanderzügen durch Generationen an Kulturgütern gesammelt hatten, war schon sehr früh zu einem derartigen Abschluß gelangt, daß es im »Bundesbuch« fixiert werden konnte. Es kam jetzt darauf an, ob die darin enthaltenen Gesetze sich hier, unter völlig veränderten Bedingungen, bewähren würden.

    Auch ihre Religion hatte sich zu bewähren. Ihre religiöse Vorstellung beschränkte sich in den Anfängen auf die Anerkennung einer göttlichen Macht schlechthin. Sie wird durch den Begriff El oder Elohim ausgedrückt. Von Anfang an verhindert die nomadische Lebensweise, daß solcher Begriff sich als an den Boden gebundener Gott materialisiert. Folgerichtig haben die Jisraeliten das Stadium des Polytheismus einfach übersprungen. Es mag jeder Stamm sich diesen Gott nach persönlicher Veranlagung geformt haben, aber in jeder Formung – und das ist das Entscheidende – lagen schon die gleichen Grundelemente des Monotheismus: ein Gott, der nicht durch ein plastisches Bild fixiert und der nicht an den Ort gebunden wird. Jeder Stamm hat seinen Gott; aber er ist ein monotheistischer Gott. Sie trieben Eingötterei.

    Eine Generation vor der Landnahme erleben sie den entscheidenden Umbruch, der sie für alle Zeiten aus dem allgemeinen Gefüge hebt: sie erfahren ihren Gott, der ihnen allen gemeinsam ist. Sie erfahren ihn wie die endgültige Enthüllung einer uralten Erbschaft. Sie erfahren, daß die allgemeine, schwebende Vorstellung einer übermächtigen Gewalt sich im letzten Erlebnis zu einer Idee verdichten läßt.

    »Gott redete zu Mosche,

    »er sprach zu ihm:

    »Ich bin Jahve.

    »Ich gab mich Abraham, Jizchak und Jaakob zu schauen

    »(in meiner Eigenschaft) als den gewaltigen Gott.

    »Aber (in meiner Eigenschaft) als Jahve habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben.«

    Das tut er jetzt. Es geschieht in einer besonderen Form und mit einem besonderen Inhalt, beide wichtig, weil sie beide fortdauernd sind. Die Form ist das Bündnis zwischen einem Volk und einer Gottheit. Dieses Bündnis wird freiwillig geschlossen. Niemand zwingt sie dazu, wenn nicht ihr Bedürfnis nach religiöser Ausschließlichkeit. Der Inhalt des Bündnisses ist in der Ausschließlichkeit der Gotteseinheit begründet und in der Aufrichtung sittlicher Verpflichtungen. Es wird von diesem Augenblick an nicht mehr nackt in den Tag hinein gelebt, nach Laune, Zufall und Gutdünken. Es wird fortan die Tat des Alltages wesentlich gemacht, mit sittlichem Gewicht versehen, mit einem höheren Sinn ausgestattet. Es wird ihnen angeboten, sich mit dem Göttlichen zu verbinden. Sie entschließen sich, ja zu sagen. Sie tun es angesichts eines Übermaßes von Verpflichtungen, die ihnen daraus erwachsen, und angesichts vieler Drohungen, die ihnen sagen, daß es kein Zurück mehr gibt, wenn sie einmal ja gesagt haben. Denn dieser Gott, den sie da begreifen, den sie da konzipieren, zu dem hin zu entwickeln sie sich entschließen, duldet weder das Ausweichen noch die Unentschiedenheit. Zwar die Verheißung ist groß:

    »Und jetzt, hört ihr gehorsam auf meine Stimme und wahrt ihr meinen Bund,

    »dann seid ihr mir

    »aus allen Völkern ein Sonderschatz.

    »Denn mein ist die ganze Erde.

    »Ihr aber

    »sollt mir sein

    »ein Reich von Priestern,

    »ein heiliger Stamm.«

    Aber die Erfüllung der Verpflichtungen steht unter der Wachsamkeit eines eifernden Gottes, der nicht mit sich markten läßt. Er betont immer wieder die Ausschließlichkeit seiner Existenz und seiner Forderungen: Er oder niemand, alles oder nichts. Man muß endlich einmal mit dem aus Fehlübersetzung und Fehlbetrachtung geborenen Begriff »Gott der Rache« aufhören. Den hat es nie gegeben. Es gibt den »Gott des Eifers«, und zwar einen, der nichts für sich selbst verlangt. Er ist ja kein Mensch, den man durch Tun oder Versagen kränken könnte. Nicht einmal Opfer sind ihm wesentlich. Er verlangt das unbedingte Verhalten vom Menschen zum Menschen, und von ihm deshalb, damit der Mensch eine reine und beseelte Kreatur werde. Es ist dabei nicht entscheidend, daß das Ziel dieses Bundes immer weitab von der Verwirklichung stand. Es genügt, daß das Bemühen lebendig und fruchtbar geblieben ist.

    Was sich da vor der Landnahme anbahnt, ist also nichts anderes als die Errichtung der Theokratie. Die Stämme haben wohl jeder für sich eine Führung, aber keiner von ihnen und insbesondere nicht die Gesamtheit der Stämme haben irgendein Oberhaupt für ihre religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten. Ihr Oberhaupt ist vielmehr der Gott, wie sie ihn begreifen und wie sie ihn geschaffen haben. Und er wird ihnen zum Schicksal. Mit der Sekunde des Auftretens Mosches geschehen ihnen unaufhörlich Dinge, die sie in der Besonderheit ihrer jungen innern Einstellung mit wachsendem Bewußtsein erleben, wenn auch nicht immer mit letzter Konsequenz. Das gibt auch ihrem Zusammenstoß mit der neuen Umgebung die besondere Note.

    Ihren Landhunger stillen konnte nur die unmittelbarste, nächste Beziehung zum Boden. Sie mußten notwendig Ackerbauer werden. Sie begaben sich damit in tausend alltägliche Berührungen zu den Eingesessenen, waren bei jedem Tausch und Kauf, bei jeder Saat und Ernte von den einheimischen Gewohnheiten und Zeremonien abhängig. Je zerstreuter sie wohnten, desto schwerer wirkte sich die unvollendete Eroberung aus und desto mehr waren sie auf friedliches Zusammenleben mit der Urbevölkerung angewiesen. So nahmen sie nicht nur an ihren Bräuchen und Kulten teil, sondern begannen auch, insbesondere in den Randgebieten, sich durch Eheschließungen mit der Umgebung zu verschmelzen. Sie übernahmen die Kulte der lokalen Baal-Gottheiten, sie legten den Grund zu ihren Jahresfesten aus den bäuerlichen, landhaften Anschauungen der Umgebung, sie bildeten ihre Lebenskultur nach dem Vorbild der Städte, in die sie den Überschuß ihrer Ernten trugen – mit anderen Worten: sie waren unmittelbar nach der Landnahme im Begriff, sich ihrer Umgebung zu assimilieren und in ihr als eine zugewanderte Minderheit aufzugehen.

    Daß es nicht dazu kam, sondern bei aller Bedrohung der eigene Kern wuchs, lag zunächst an einem sonderbaren, man könnte sagen: »religiösen Doppelleben«, das sie führten. Alle Hinneigung zu den örtlichen Baalkulten verhinderte nicht, daß alles, was sie als Gesamtheit unternahmen, ihrem eigenen Nationalgott unterstellt wurde. Sobald es um den Zusammenhang und das Ganze ging, gab es nur den einen Gott und die theokratische Idee. Der Baal mochte ihre Ernte segnen und ihre Kaufverträge sichern. Aber die Kriege, in denen sie sich gegen ihre Vernichtung wehrten, führte Jahve. So, während sie Baal dienten, wuchs Jahve weiter in ihnen, blieben sie auf dem Wege zum einmal gesetzten Ziele. Alles, was sie taten, war im eigentlichen Sinne nicht »Abfall« von Gott, sondern Hin-Entwicklung zu ihrem Gottesbegriff. Sie hatten unter sich auch noch eine stets lebendige Repräsentation ihrer Idee, das Priestertum in Silo, wo die Lade des Bundes zur Aufstellung gelangt war. Wenn Silo auch nicht das praktische und politische Zentrum werden konnte, so war es doch ein ideales, imaginäres Zentrum von nicht zu unterschätzender Bedeutung, der sichtbare Ausdruck ihres theokratischen Systems.

    Es ist also das, was seit dem Auszuge aus Ägypten an Elementen äußerer und innerer Einigung geschaffen worden ist, in ihnen am Leben geblieben. Als Schutz gegen die drohende Assimilierung kann auch nur ein geistiges Gebot von ungewöhnlicher Kraft begriffen werden. Das kommt nicht nur bei den inneren, sondern besonders stark bei den äußeren Gefahren ihrer Situation zum Ausdruck. Aus vielen Richtungen her bedroht sie der Untergang. Soweit die eingesessenen Völkerschaften sich von dem ersten Ansturm der Eroberung erholen konnten, gingen sie allmählich zum Angriff oder zur Verdrängung der Jisraeliten über. Wo das wegen der Dichte der jisraelitischen Siedlung nicht der Fall war, suchten die einst besiegten Völkerschaften oder in den Randgebieten auf Eroberung ausgehenden Stämme durch Einfälle, Raubzüge und wohlvorbereitete Kriege die gerade zur Ruhe gekommenen Ansiedler zu vernichten. Keine Zugehörigkeit zu irgendeinem Baalkult und keine Form der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Assimilation schützte die Jisraeliten davor, von der Umgebung als zusammengehörige Gegner angesehen und bekämpft zu werden. Die Verteidigung war also notwendig Sache der jisraelitischen Gesamtheit, ein Umstand, der zur Herausbildung eines Kernes und zur Steigerung des nationalen Ich-Gefühls beitragen mußte, zugleich aber auch zum weiteren Wachstum ihrer religiösen Idee. Ihren sichtbaren Niederschlag findet diese Entwicklung in der Erscheinung der Schoftim oder Richter.

    SCHOFTIM

    Die äußeren Vorgänge in der Richterzeit haben mit kleinen Varianten alle dasselbe Aussehen; feindliche Angriffe unterwerfen einen oder mehrere der jisraelitischen Stämme und zwingen sie unter eine Botmäßigkeit, die bis zum Halbsklaventum geht. Dann ist eines Tages ein Führer da, der alle Kräfte des Volkes gegen die Bedrückung aufruft und die alte Freiheit in vermehrtem Umfange wiederherstellt. An sich also Vorgänge, die mancher geschichtlichen Entwicklung eigen sind, die einen Schulfall aller nationalen Entwicklung aufzeigen und die doch vom Religiösen her ihre eigentliche Bedeutung bekommen. Nacheinander und mit unterschiedlichen Zeitabständen werden Unterdrückungen durch die Idumäer, Moabiter, Philister, Midianiter und Ammoniter berichtet. Als Retter aus der Not werden Othniel, Schamgar, Balak, Gideon, Jephta und Schimschon (Simson) überliefert. Sie haben alle etwas Gemeinsames: keiner kommt aus irgendeiner Führerfamilie; keiner ist nach Herkunft oder besonderen früheren Leistungen zu seinem Amte vorherbestimmt. Sie kommen schlechthin aus dem Volke, aus dem Dunkel. Jephta ist ein Räuberhauptmann aus Gilead, den seine eigenen Stammesgenossen verjagt haben. Schimschon, an den sich die Sage liebevoll heftet, ist eine Art Rübezahl. Von der zärtlich umhegten Figur der Debora weiß die Quelle nur zu berichten, sie sei die Frau eines Mannes namens Lapidot gewesen. Sie alle werden Schoftim, Richter, genannt; auch Debora. Schon daß sie unter die Zahl der Schoftim gerechnet wird, spricht entscheidend dafür, daß die nackte Übersetzung des Wortes keinen zulänglichen Sinn vermittelt. Sie waren nicht Richter in dem Sinne, daß sie die Rechtsprechung ausübten. Sie waren da, wenn die Not rief; sie tauchten unter, wenn sie vorüber war. Sie richteten etwas aus: die jeweilige Befreiung des Volkes. Wie das Beispiel Deboras zeigt, brauchte es dazu nicht einmal eine Heldentat mit dem Schwert. Es genügte, daß einer ein Wort fand, das ihnen ans Herz ging, das ihre seelischen Kräfte mobil machte. Und eben das ist Deboras Art und Amt. Sie kämpft nicht. Sie gibt die Idee des Kampfes und seine Parole. Wie der Kanaaniter Chazor die Nordstämme unterwirft, spielt sie gegen seine eisernen Streitwagen den Gedanken aus: es muß für Gott gegen Chazor gekämpft werden. Noch begreift die Gesamtheit der Stämme den Gedanken nicht. Jehuda nimmt an diesen Vorgängen überhaupt nicht teil. Andere Stämme sind auf ihre Ruhe bedacht und bleiben abseits. Dennoch gelangt der Rest, der ihr folgt, zu einem Sieg, dessen Umfang und Bedeutung in dem ungewöhnlich reifen und dramatisch gespannten Debora-Lied seinen Niederschlag findet.

    »In den Tagen Schamgars, Sohns Anats,

    »in den Tagen Jaels

    »stockten die Wanderzüge,

    »die Straßengänger

    »gingen krumme Wanderpfade,

    »das Bauerntum, es stockte in Jisrael,

    »stockte,

    »bis du aufstandest, Debora,

    »aufstandest, eine Mutter

    »in Jisrael!«

    Der Ausgang dieses Liedes umreißt mit kürzester Formel die innere Situation, den Sinn dieser kriegerischen Bemühung:

    »So müssen schwinden

    »alle deine Feinde,

    »Jahve!

    »Aber die dich lieben,

    »sind, wie die Sonne ausfährt in ihrer Heldenwehr.«

    Jeder Kampf hat den gleichen Sinn. Zuweilen ist er in der Parole enthalten, so in der, die Gideon ausgibt: »Schwert für Jahve und für Gideon!« Das Verständnis für solche Parolen wird geweckt und lebendig erhalten durch die Tätigkeit der Lewiten. Sie sind es, die zwischen den inneren und den äußeren Gefahren, zwischen dem Verlust der eigenen Art durch Angleichung an die Umgebung und dem nackten Untergang in Kriegen den geistigen Zusammenhang herstellen und auflichten: alles Unheil ist Folge der vernachlässigten Bundespflicht gegen Gott. Die Lewiten haften nirgends am Boden; sie haben keinen persönlichen Besitz zu verteidigen. Sie bleiben also von den Verlockungen der Angleichung frei. In solcher Freiheit empfinden sie sich als Amts- und Ideenträger. Ungleich anderen Priesterkasten kennen sie keine persönliche Machtstellung, sondern nur Dienst an einer Aufgabe: das Volk soll seelisch wachsen; es soll der Theokratie eine steigende Wirklichkeit bereiten. Sie schaffen die geistige Atmosphäre, aus der allein der Begriff des »Richters« verstanden werden kann, so verstanden, wie das Volk selbst ihn von Mal zu Mal auffaßte und begriff: als jeweils berufenen Vollstrecker eines göttlichen Auftrages.

    Die Schoftim sind also weder identisch mit Richtern im üblichen Sinne noch mit Stammesführern, noch sind sie einfach Kriegshelden. Debora hat nie gekämpft. Eli war oberster Priester in Silo; Schemuël (Samuel), der aus dem Kreis der Lewiten in Silo hervorging, war weder Kriegsführer, noch hatte er sonst ein Amt. Dennoch sind sie Schoftim, Richter. Und das ist ihr Sinn, der trotz erkennbarer Redaktion des Buches »Richter« im monarchischen Sinne unangetastet mit seinem wahren Gehalt dasteht: von Mal zu Mal, wenn die Not des Augenblicks das Volk besinnlich macht, entsteht ihm ein Vollstrecker göttlichen Willens, begreift es den Menschen, der sie durch Tat oder Wort führt, als den Beauftragten ihres wahren Oberhauptes: ihres Gottes. Sie verstehen den Richter einfach als den mit einem einmaligen Auftrag belehnten Menschen, als einen Funktionär der Theokratie, als den, der aus höherem Gebot über den Gegner den Auftrag zu vollstrecken, das Gericht abzuhalten hat: Richter, der ihnen das Recht verschafft, indem er das Gericht über die anderen vollstreckt. In den Gestalten der Richter realisiert das Volk sein Leben unter der Theokratie. Die Richter selbst – Debora, Eli und Schemuël beweisen es – fassen ihr Amt auch keineswegs als Befreiung im politischen Sinne auf. Es soll nur durch die Befreiung eine immer erneute Möglichkeit zu innerer Selbstbefreiung gegeben werden. Darum erlischt ihre Existenzberechtigung mit dem Vollzug ihres Auftrags. Sie sind einmalig und ohne Nachfolgeschaft. In den Zeiten zwischen ihrem Auftreten ist das Volk wieder sich selbst und der eigenen Auseinandersetzung mit seinem Oberhaupt, Gott, überlassen.

    Aber so sich selbst überlassen sein und je und je der eigenen Entscheidung vertrauen müssen, ist in diesem jungen Stadium der Entwicklung für das Volk eine ungewöhnliche Last, die es gerne von sich abwälzen möchte. Jede sichtbare Art der Führerschaft erleichtert die Entschließung, weil sie nichts braucht als den momentanen Gehorsam. Und so wächst das Bedürfnis nach einer bleibenden Institution. Mit Gideon beginnt es schon. Sein Name ist schon in die Parole eingeschlossen. Es scheint, daß man ihm die Königswürde von Seiten der Stämme angeboten hat, denen er Hilfe brachte. Jedenfalls hat er in seinem Heimatsstamme Manasse die Rolle eines Oberhauptes bis zu seinem Tode nicht abgegeben. Aber da beginnen auch gleich die Konflikte, die man als die Wehen des Königtums bezeichnen kann. Abimelech, einer seiner Söhne, läßt – bis auf einen – alle seine Brüder ermorden, um zur Macht zu kommen. Ihn unterstützt der Stamm Ephraim. Aber wie Abimelech von der Macht, die ihm zugefallen ist, wirklich Gebrauch machen will, lehnen sie sich auch gegen ihn auf. Er wird in den Kämpfen, die daraus entstehen, getötet.

    Aber die Idee der ständigen Führerschaft, einmal konzipiert, wächst trotz dieses entmutigenden Beispiels weiter. Eine vernichtende Niederlage, die ihnen die Philister bereiten, gibt dem Gedanken neuen Anstoß. In der Ebene Saron gehen schwere Kämpfe zwischen den Philistern und den verbündeten jisraelitischen Stämmen unentschieden hin und her. Um ihren Mut zu heben und um die sichtbare Vertretung ihres Gottes in den eigenen Reihen zu haben, lassen sie die Lade des Bundes von Silo holen und im Lager aufstellen. Es nützt ihnen nichts. Sie werden zurückgeworfen, die Lade wird von den Philistern erbeutet, das Land weit hinein besetzt und gebrandschatzt und der Ort Silo samt seinem Heiligtum zerstört.

    Die Zerstörung dieses ideellen Zentrums treibt die Lewiten, die sich dort aufgehalten haben, durch das ganze Land und in alle Stämme hinein. Ihr Wirken ist jetzt im verstärkten Maße auf die Erweiterung des theokratischen Gedankens gerichtet. Das Volk selbst weist ihnen jede erdenkbare Autorität zu, aber in dem Wunsche nach ständiger Führerschaft bleiben sie hartnäckig. Wollen die Lewiten sie durch den Gottesbegriff einigen, so wollen hingegen sie selbst geeinigt sein nach dem Vorbild ihrer Umgebung: durch einen König. Sie wissen: ihre Kraft zur Einigung unter einem gemeinsamen und ausschließlichen Gott ist da. Es fehlt nur einer, der sie immer wieder anruft. Sie sind jung als Volk. Darum wünschen sie sich nicht selbst überlassen zu sein. Sie wünschen sich heimlich jemanden, der ihnen Gewalt antut. Aber sie begreifen völlig richtig, daß in dieser Situation die Erfüllung ihres Wunsches nicht von ihnen selbst abhängt, daß sie nicht einfach zusammentreten und sich einen König wählen können. Der König bedeutet für sie im Grund doch nur das dauernde Richtertum, den erblichen und nicht mehr den einmaligen Vertreter des göttlichen Auftrags. Folglich müssen sie sich an diejenigen wenden, die sie als Diener und Vertreter ihres Oberhauptes anerkennen, und unter ihnen an denjenigen, der durch sein Wesen und Wirken bei ihnen die größte Autorität besitzt. Das ist Schemuël, der unter Eli in das Heiligtum zu Silo gekommen ist.

    GEBURT DER MONARCHIE

    Schemuël ben Elkanah aus Rama, im Zelttempel von Silo herangebildet und durch dessen Zerstörung ohne festen Wirkungskreis, findet jetzt einen viel weiteren und fruchtbareren, indem er immer wieder von seiner Heimatstadt aus das Land durchzieht, um so zu wirken, wie er die Aufgabe des jisraelitischen Volkes begriff. Er begriff sie streng im Sinne der Theokratie und des Bündnisses, das das Volk vor Zeiten mit dem von ihm erwählten Gott eingegangen war. Alle Gesetze, die von daher datiert waren, und alle Anweisungen, die auf Mosche zurückgeführt wurden, stellt er zur strengsten Befolgung immer wieder in den Vordergrund. Die Kraft seiner Wirkung beruht in der Schlichtheit und zugleich Hartnäckigkeit, mit der er Abwendung von den fremden Kulten und Unterordnung unter Jahve verlangt. Darin ist weit mehr einbegriffen als nur die Vornahme bestimmter Kulthandlungen. Zur Entwicklung eigener kultischer Formen war bislang kaum Zeit und Gelegenheit gegeben. Selbst als Silo noch existierte, war seine Anziehungskraft nicht wesentlich größer gewesen als die anderer lokaler Jahve-Stätten. Nun es zerstört war, konnte es auf den Kult nicht wesentlich ankommen. Es mußte schon einen Richtungspunkt geben, der ohne örtliche Verankerung bestehen konnte. Er ist auch nicht so sehr in der Befolgung der Sittengebote und Rechtssätze begründet, sondern geht geradenwegs auf die Idee hin, daß ein Leben ohne den einmal begriffenen Gott ein Leben ohne gütiges Schicksal sei. Wie er und seinesgleichen dachten, verraten Verse aus dem Gebet, das seiner Mutter Channa zugeschrieben wird:

    »Er tötet und belebt,

    »senkt zur Gruft, läßt entsteigen,

    »Er enterbt und begütert,

    »erniedert und hebt auch empor.

    »Aufrichtet vom Staub er den Armen,

    »den Dürftigen hebt er vom Kot,

    »sie zu setzen neben die Edlen,

    »eignet ihnen den Ehrenstuhl . . .

    »Er

    »hält Urteil über die Enden der Erde,

    »daß er seinem König gebe den Sieg,

    »den Scheitel seines Gesalbten erhebe.«

    Solche Gedanken, die nicht aus einer Betätigung, aus Handlungen kommen können, sondern nur aus einem religiösen Ausgeliefertsein, erzeugen, wenn sie Anhängerschaft bekommen, notwendig den Extatiker. Schemuël selbst gehört nicht zu ihnen. Ihm ist der erkennende, durchschauende Blick eigen. Er ist Seher. Aber der Kreis von Lewiten, der sich um ihn sammelt, hat schon die Form eines Ordens, in dem das extatische, religiöse Erlebnis das glühende Element bildet. Sie ziehen in Gruppen im Lande umher und erregen das Volk, durchsetzen es mit Unrast und Glaubensbereitschaft, rufen es gegen die Sieger zum heiligen Kriege auf. Sie werden zu Propagandisten der Einigung unter den Stämmen, die immer noch bereit sind, ihre eigenen Wege zu gehen. Vielleicht ist es nicht das unmittelbare Ergebnis ihrer Tätigkeit, bestimmt aber fällt es in die Zeit ihrer Wirksamkeit, daß der im Süden isolierte Stamm Jehuda, von Feinden bedrängt, Anschluß an die Gemeinschaft sucht. Dieser Stamm hatte in der Isolierung seine eigene Entwicklung erlebt, zwar aus den gleichen Elementen wie die Mitte und der Norden des Landes, aber weniger zivilisiert, schlichter, bäurisch-gläubiger. Sein Auftreten fördert den Gedanken der Einheit sehr wesentlich.

    Aber bei der Errichtung dieser Einheit, die mit dem Gedanken an Machtzuwachs und endgültiger Erledigung der Feinde ringsum unlösbar verbunden ist, gehen Volk und Lewiten doch verschiedene Wege. Wenn die Lewiten, Schemuël an ihrer Spitze, von der Einheit sprechen, verstehen sie darunter eine völlige Durchsetzung der Theokratie: ein politisches Reich mit dem unsichtbaren und nicht darstellbaren Oberhaupt und mit seinem Funktionär, dem Richter. Das Volk will die Einheit, aber mit der ständigen Repräsentation, dem König.

    Darum allein geht der innere Kampf in dieser Zeit. In ihrem Beginn steht ein neuer Angriff der Philister. Schemuël vermag es, die Energien des Volkes zu beleben, so daß sie in der Schlacht bei Eben ha Eser siegen können. Er nimmt von da an die Stellung eines Richters ein, aber sein wirklicher Einfluß ist auf die Mitte des Landes beschränkt. Weder im Norden noch in Transjordanien hat er Autorität. So weit sein Machtbereich ging, bereiste er das Land und rief abwechselnd für jedes Jahr eine Versammlung der Ältesten der Stämme nach Bethel, Gilgal und Mizpah zusammen, um Gericht zu halten, die gemeinsamen Interessen durchzusprechen und im Sinne der Einheit nach seinen Begriffen zu wirken. Dennoch wird, wie Philister und Ammoniter erneut angreifen, aus dem Wunsch und der Sehnsucht nach einem Könige eine mit aller Energie und Hartnäckigkeit erhobene Forderung des Volkes. Sie kommen zu ihm und verlangen den König. Sie tragen nicht etwa ihm, der sie doch in Wirklichkeit gerettet und geführt hat, eine solche Würde an, denn sie begreifen die grundlegende Verschiedenheit zwischen Richter und König. Aber von ihm, als dem göttlichen Repräsentanten, verlangen sie den irdischen Führer.

    Mag man von der Darstellung des Buches »Schemuël« abziehen, was man will, es bleibt immer noch genug übrig, um aufzuzeigen, daß Schemuël der Antimonarchist kat' exochen gewesen ist. Er wehrt sich aus allen Kräften gegen das Begehren des Volkes und gegen den Untergang der Theokratie. Seine Rede, in der er dem Volke die Konsequenzen darstellt, ist das früheste Manifest gegen das Königtum. Er sprach:

    »Dies wird die Gerechtsame des Königs sein, der über euch gekönigt wird:

    »Eure Söhne wird er nehmen,

    »daß er sie für sich zu seinem Gefährt und zu seinen Reisigen versetze,

    »daß sie vor seinem Gefährt herlaufen

    »und um sich Obere von Tausendschaften und Obere von Fünfzigschaften einsetzen zu können –

    »und um sein Pflugland zu pflügen,

    »und seine Ernte zu ernten,

    »und sein Kriegszeug und sein Fahrzeug zu machen.

    »Und eure Töchter wird er nehmen

    »zu Salbmischerinnen,

    »zu Schlachtköchinnen,

    »zu Bäckerinnen.

    »Und eure Felder, eure Weingärten, eure Ölbäume, die besten, wird er nehmen und seinen Dienern geben,

    »wird eure Saaten und eure Weingärten bezehnten und es seinen Höflingen und seinen Dienern geben,

    »und eure Dienstknechte und eure Mägde, eure Rinder, die besten, und eure Esel wird er nehmen und seiner Wirtschaft übermachen,

    »euer Kleinvieh wird er bezehnten,

    »ihr selber werdet ihm Dienstknechte sein,

    »an jenem Tag werdet ihr euch von eurem König losschreien wollen, den ihr euch erwählt habt,

    »und ER wird euch nicht antworten an jenem Tage.«

    Dennoch beharrt das Volk auf seinem Willen. Es ist einem Leben ohne Führerschaft nicht mehr gewachsen. Vor der Erkenntnis dieser Unfähigkeit gibt Schemuël nach. Sein Verstand befiehlt ihm Nachgiebigkeit. Aber in aller Nachgiebigkeit sucht er von der Idee noch zu retten, was zu retten ist. Ein König, wie ihn die anderen Völker auch haben, ist für ihn unbegreiflich. Machtvollkommenheit aus Anmaßung oder Erbschaft ist dem jisraelitischen Geiste noch unverständlich.

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