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Krypto-Zoo
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Ebook430 pages5 hours

Krypto-Zoo

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About this ebook

Selfmade-Milliardär John Woody aus New York hat alles, was man für Geld kaufen kann. Kein Wunder also, dass er sich ein ausgefallenes Hobby sucht: Er will einen Tierpark gründen, in dem Fabeltiere – sogenannte Kryptide – ausgestellt werden. Der Name dieses Unternehmens: Krypto-Zoo.
Während der Bau des Parks schon begonnen hat, heuert der Milliardär ein Team von Spezialisten an, das Kryptide aufspüren und fangen, erforschen und züchten soll.
Ausgerechnet da präsentiert der Stahlindustrielle Thomas Loky aus Detroit der Öffentlichkeit einen ausgestopften Drachen, den er in der Republik Kongo erjagt haben will.
Woody, nun unter Zugzwang, übergibt seiner Krypto-Zoo-Mannschaft einen Satz Geo-Koordinaten, der sie in die südlichen Alpen führt, wo angeblich ebenfalls ein Drache lebt. Fragen, woher er die Koordinaten hätte, lässt Woody unbeantwortet.
Mit gemischten Gefühlen macht sich das Team auf den Weg.
LanguageDeutsch
PublisherEdition Z
Release dateJun 14, 2018
ISBN9783964544094
Krypto-Zoo

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    Krypto-Zoo - Roland Zingerle

    Roland Zingerle

    Krypto-Zoo

    1

    „Ist der Aberglaube wirklich besiegt? Unsere Welt war noch nie so voller Mysterien wie heute. All die Berichte über unerklärliche Phänomene, übersinnliche Erscheinungen, Außerirdische – sind wir wirklich so aufgeklärt, wie wir es glauben? Wissen wir tatsächlich, dass die Wassermänner und fliegenden Hexen unserer Vorfahren psychologische oder physikalische Abweichungen von der Norm waren oder hat sich unser Aberglaube einfach nur den neuen Verhältnissen angepasst?"

    Er setzte eine Pause, ließ seine Frage wirken. Ein geisterhaftes, gelbliches Licht beleuchtete sein Gesicht fahl von unten.

    „Vielleicht aber, fuhr er fort, indem er sich so über das Licht beugte, dass seine Augen gelblich zu schimmern begannen, „geht es gar nicht um Vorstellungen. Vielleicht waren übersinnliche Erscheinungen schon immer Teil unseres Lebens. Vielleicht traten sie einfach nur so selten auf, dass wir sie nicht unter unsere Kontrolle bringen konnten. Vielleicht verleugnen wir seit Jahrtausenden unsere Angst vor dem unheimlichen Unbekannten und es fällt uns leichter, jeden für verrückt zu erklären, der davon berichtet und jeden als Kindskopf, der die Berichte glaubt.

    Er hatte sich in eine Euphorie hineingeredet. Es war eine taktische, eine künstliche Euphorie, doch sie war überzeugend.

    „Vielleicht ist es an der Zeit, ehrlich zu uns selbst zu sein. Vielleicht ist es an der Zeit, uns selbst als ganze Wesen zu begreifen, Zeit für jeden Einzelnen von uns, sich selbst an der Hand zu nehmen und keine Angst mehr vor der Welt zu haben, in der die Menschheit aufgewachsen ist."

    Er wartete, bis seine letzten Worte im Halbdunkel verhallt waren.

    „Ab heute, sprach er schließlich weiter und es klang, als hätte er einen Kloß im Hals, „wird die Welt für uns nie wieder so sein, wie wir sie bisher gekannt haben. Das Wort ‚Aberglaube’ wird eine neue Qualität bekommen und wir alle werden erkennen, dass es mehr in unser aller Leben gibt, als wir glauben. Taktische Pause. „Zur Lage der Fakten wird Ihnen der anerkannte Zoologe Doktor Fred A. Qurios nähere Auskunft geben."

    Thomas Loky wandte sich dem neben ihm Sitzenden zu und deutete mit ausgestrecktem Arm zu ihm hin. Doktor Qurios sah aus, als hätte er bis vor wenigen Sekunden in seinem grauen Anzug geschlafen. Seine Finger durchfuhren fahrig sein fettiges, grauschwarzes Haar in dem Versuch, es in einem Linksscheitel zu bändigen. Der Erfolg war, dass der widerspenstige Kopfschmuck nun waagrecht über seine rechte Schläfe hinausragte, wie auf der Flucht eingefroren.

    Der Doktor stotterte einige sinnlose Silben, räusperte sich dann nervös und begann noch einmal von Neuem:

    „Die … was … womit wir es hier zu tun haben, ist die sogenannte Kryptozoologie. Die Kryptozoologie erforscht noch nicht entdeckte Tiere und die Möglichkeit, dass es zum Beispiel Fabeltiere überhaupt gibt, nicht? Der Bigfoot zum Beispiel oder der Yeti, das sind bekannte Kandidaten der Krypto- … die Krypto- … – Also: ‚kryptos’ heißt ja … versteckt, und ‚zoon’, nun ja, das … das Tier, nicht wahr? Das ist … das ist altgriechisch und …"

    Loky legte seine Hand beruhigend auf Doktor Qurios’ Unterarm, der bei dieser Berührung zusammenzuckte und Loky erschrocken ansah.

    „Doktor, sagte Loky ruhig, „ich glaube, die Jungs hier im Raum sind eher am wissenschaftlichen Hintergrund interessiert.

    „Ja – ja, natürlich", lenkte Doktor Qurios ein und ordnete alibihalber die Papierbögen neu, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Seine Hände zitterten. Er hob ruckartig den Kopf und schob mit einer fließenden Bewegung seine dickrandige Brille mit dem Zeigefinger die Nase hinauf. Dann begann er erneut und seine Stimme klang nun betont fest, zu betont.

    „Einige Fabeltiere haben sich im westlichen Kulturkreis im Laufe der Jahrtausende etabliert. Nehmen wir zum Beispiel den Drachen: Von der biblischen Schlange, die der Teufel ist, reicht sein Einfluss über die europäischen Sagen bis in die Computerspiele heute herein. Und auch überall sonst auf der Welt gibt es Drachenmythen – in Indien, in Fernost, Arabien. Drachen sind manchmal gut und manchmal böse. Einstmals waren sie böse. Nur böse. Heute aber, in Kinderbüchern und anderen Geschichten, sind sie auch lieb, und …"

    Ein Zucken durchlief Doktor Qurios, als er erneut Lokys Hand auf seinem Unterarm spürte.

    „Kurz gesagt, er räusperte sich erneut, „der Drache ist ebenso ein ständiger Begleiter der Menschen wie etwa ein Schwein oder ein … ein Reh, nur mit dem Unterschied, dass wir immer nur Geschichten über ihn gehört haben und nie einen zu Gesicht bekommen haben. Bisher.

    In dem nun folgenden Schweigen zog sich jede Sekunde wie eine Ewigkeit dahin.

    „Sie haben uns eine aufsehenerregende Entdeckung versprochen, Mister Loky, klang plötzlich eine Stimme aus dem Halbdunkel. „Lassen Sie endlich die Katze aus dem Sack!

    Und eine andere Stimme rief:

    „Sie werden uns ja kaum einen lebenden Drachen vorführen, oder?"

    Gelächter.

    Loky schmunzelte hintergründig.

    „Aber nein, nein", antwortete er väterlich.

    Irgendwo weit draußen brüllten Flugzeugturbinen auf.

    O ja, alles lief nach Plan! Loky hatte diese Pressekonferenz bis ins Detail inszeniert, sie war Infotainment reinsten Wassers.

    Es war früher Vormittag. Am späten Vormittag hatten die Tageszeitungen ihre Redaktionssitzungen, was die Journalisten in die Lage versetzte, seine Enthüllung noch rechtzeitig in die morgige Ausgabe zu bringen. Sie würden sie sowieso in die morgige Ausgabe bringen, aber dieser Zeitdruck machte sie ein bisschen nervös, steigerte ein bisschen ihre Unruhe, machte sie aufmerksamer, reizte ihre Emotionen.

    Außerdem hatte Loky einen Freitag gewählt. Radio- und Fernsehanstalten würden seine Sensation ohne Zeitverlust in den Äther schicken und damit eine Geschichte ankündigen, die die Tageszeitungen über das ganze Wochenende hinweg ausbreiten würden. Umfragen hatten ergeben, und das wusste Loky, dass sich die Menschen am Wochenende mehr Zeit nahmen, um Zeitung zu lesen; die Wirkung würde also umso stärker ausfallen. Die Gegenseite würde es am Wochenende außerdem schwer haben, ihre Experten vor die Kameras zu bringen, Loky hatte deshalb als Gegenschlag kaum stärkere Geschütze zu befürchten, als zahnlose Gehässigkeiten und schwach untermauerte und dadurch wenig glaubhafte Dementi. Das würde seine Position noch stärker aussehen lassen.

    Mit dieser Inszenierung gewann Loky für die Dauer von zwei langen Medientagen und drei langen Mediennächten einen Offensivvorteil.

    Seine Bühne war ein Flugzeughangar am „DTW, dem „Detroit Metropolitan Wayne County Airport. Es war gerade hell genug hier drinnen, um alles sehen zu können, aber dunkel genug, um nichts wirklich gut zu sehen. Für die Presseleute hatte er inmitten der Halle Sessel eng aneinanderreihen lassen. Diese Kombination von Gedrängtheit einerseits und Verlorenheit in einer riesigen, düsteren Halle andererseits schuf eine Atmosphäre von Beklemmung, von Verwundbarkeit. Sie waren ihm ausgeliefert und das erzeugte ein Gefühl angstvoller Gereiztheit.

    Alle waren sie hier: Die seriösesten Tageszeitungen, die namhaftesten Fernsehstationen, die populärsten Radiosender, Vertreter nationaler und internationaler Presseagenturen. Loky hatte alle Beziehungen spielen lassen und seine PR-Abteilung alle Register gezogen. Das, was er hier zu bieten hatte, würde einschlagen wie eine Bombe und einen medialen Flächenbrand auslösen, der sich nicht nur über die Vereinigten Staaten von Amerika ausbreiten würde, sondern über die ganze Welt!

    Loky lachte in sich hinein. Es funktionierte – und wie es funktionierte! Der außergewöhnlich heiße Frühsommer ließ die Temperatur im Hangar schon jetzt merkbar ansteigen, das trug noch zusätzlich zur gereizten Stimmung bei. Hätte der Wetterbericht einen Kälteeinbruch vorhergesagt, hätte Loky die Pressekonferenz verschoben.

    Er sah in die Gesichter der Presseleute, soweit er sie erkennen konnte: Sie warteten alle gebannt darauf zu sehen, was sich hinter dem riesigen, schwarzen Vorhang verbarg, der hinter Loky von der Decke bis zum Boden der Fliegerhalle hing.

    „Hey, Oliver", raunte einer der Journalisten einem anderen zu, der in der Reihe vor ihm saß.

    „Was gibt’s?"

    „Bist du wegen der Pressekonferenz hier oder wegen Sam?" Er deutete mit dem Kinn zu dem Tisch, an dem Loky, Doktor Qurios und Doktor Rih saßen.

    Oliver betrachtete lange die außergewöhnlich hübsche, zierliche Blondine, die hinter Loky im Halbdunkel neben einem Berg von einem Schwarzen stand und eine Ledermappe in ihren verschränkten Armen hielt.

    „Keine Ahnung, antwortete Oliver, nachdem er sich wieder nach hinten gedreht hatte, „warten wir auf Lokys Enthüllung, dann sag ich es dir. Was ist mit dir, Stanley: Lokys Sensation oder Lokys Assistentin?

    „Oh Mann, stöhnte Stanley verhalten, „ich wünschte, ich wäre ihre Mappe!

    Beide lachten schäbig.

    „Halten Sie das etwa für professionell?, empörte sich die Reporterin, die neben Stanley saß. „Halten Sie sich für lustig? Sie war Mitte vierzig, hatte hochgestecktes Haar, eine dickrandige Brille, die ihr einen strengen Gesichtsausdruck verlieh und war so auffallend geschminkt, dass man es trotz des schummrigen Lichts erkennen konnte. „Man könnte meinen, dass selbst die primitivsten Sexisten die Steinzeit inzwischen überlebt hätten!"

    „Keine Sorge, entgegnete Stanley und sah sie betont langsam von oben bis unten an, „Ihre Jungfräulichkeit ist bei uns nicht in Gefahr!

    Oliver riss die Hand zum Gesicht und hielt sich die Nase zu, um nicht laut loszuprusten. Beide lachten sich leise die Lunge aus dem Hals. Die Reporterin öffnete den Mund, doch noch bevor sie ihrer Empörung Luft machen konnte, ergriff Thomas Loky wieder das Wort und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es schien nun ernst zu werden.

    „Es ist nicht unsere Absicht, Sie länger hinzuhalten als nötig, deshalb haben wir Sie auch hierher zum DTW gebeten, um Sie ohne Zeitverlust direkt nach der Ankunft unseres Expeditionsteams über unsere Entdeckung zu informieren. Denn, und so viel sei vorausgeschickt, was Sie hier und jetzt erwartet, ist zweifellos die größte Sensation, seit es Journalismus gibt!"

    Oliver und Stanley sahen einander an. Thomas Loky war bekannt für seine großspurigen Reden, aber eine solche Aussage würde selbst er nicht von sich geben, wenn sie nicht einen wahren Kern hätte. Und obwohl beide nicht wirklich glaubten, heute Zeugen einer epochalen Sensation zu werden, so waren sie doch gespannt, was nun kommen würde.

    Loky sah die Blicke der Medienvertreter, las ihre Gedanken in ihren Gesichtern. „Ihr habt ja alle keine Ahnung, was Euch erwartet", dachte er voll Genugtuung und es war, als würde er vor lauter Vorfreude gleich platzen müssen, als er feierlich verkündete:

    „Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen voller Stolz die Verkörperung unserer Märchen vorstellen, die Fleisch gewordene Legende. Er stand auf, wandte sich dem riesigen Vorhang zu und ergriff eine Kordel, die vor diesem herabhing. Den Journalisten zugewandt hielt er einige atemlose Sekunden lang inne. „Ich präsentiere Ihnen niemand Geringeren, als den König der Fabeltiere!

    Noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, zog er ruckartig an der Kordel. Der Vorhang löste sich aus seiner Halterung und fiel für eine lange, lange Sekunde zu Boden.

    Dahinter stand – riesengroß, majestätisch und bedrohlich – ein Drache.

    Ein Keuchen und Kreischen ging durch die Reihen der Journalisten. Sie sprangen von ihren Sesseln auf, stolperten, rannten im Reflex einige Schritte davon. Niemand, absolut niemand behielt seine Fassung.

    Indem Loky die Szene beobachtete, wurde ihm bewusst, dass er ein solches Maß an Selbstzufriedenheit nicht für möglich gehalten hätte. Das waren echte Gefühle – und er fing sie aus mehreren Perspektiven mit Kameras ein, die er im Hangar hatte anbringen lassen. Er war der Herr über diese Show.

    Die Schrecksekunde der Reporter löste sich rasch in einem allgemeinen erlösenden Gelächter auf. Das Gewirr der Zurufe ließ keinen Zweifel daran, dass alle Anwesenden Lokys Inszenierung für ebenso lächerlich hielten wie seine offensichtliche Annahme, irgendjemand würde sie ihm abnehmen.

    Die Sessel blieben dennoch leer, denn alles drängte nach vorne. Die Show war schließlich trotzdem gut und alle wollten das Filmmonster aus der Nähe betrachten. Lokys Sicherheitskräfte, die bislang im Halbdunkel gestanden waren, traten nun vor und bildeten wenige Meter vor dem Drachen eine menschliche Mauer.

    Nun trat Doktor Rih vor und hob die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als sich der Tumult nach geraumer Zeit wieder legte, ergriff er das Wort:

    „Uns ist bewusst, dass Sie den Drachen für eine Fälschung halten, aber nichtsdestotrotz ist er echt – wenn auch präpariert! Wir haben Unterlagen für Sie vorbereitet, in denen wir den Fang des Tieres für Sie dokumentiert haben. Ich garantiere Ihnen mit meinem Ruf als Zoologe: Dieser Drache war noch vor wenigen Tagen genauso lebendig, wie Sie und ich!"

    Wieder wurden Zwischenrufe laut, diesmal empörter Natur; die Reporter fühlten sich für dumm verkauft.

    „Geschafft!", frohlockte Loky innerlich. Ob ihm die Journalisten nun glaubten oder nicht, die Beweise würden sie überzeugen – aus dem einfachen Grund, weil er kein Motiv hatte, sie anzulügen. Die von der Gegenseite konnten einpacken, die waren die Zweiten!

    Stanleys Herz klopfte immer noch bis zum Hals, als hätte er gerade den New-York-City-Marathon hinter sich. Loky war es zumindest gelungen, ihn zu schocken, wenn auch nur kurz. Auch wenn er es nicht gerne zugab, doch Stanley war durchaus beeindruckt von Lokys Inszenierung, selbst wenn ihm nicht klar war, was das Ganze hier sollte.

    Er trat an die Sicherheitskräfte heran und legte den Kopf in den Nacken. Direkt über ihm hing das Haupt des Untiers, seine starren, fast bösartigen Augen schienen ihn anzusehen und aus dem geöffneten Maul ragte eine lange, spitze Zunge. Der Drache war etwa zehn Meter hoch aufgerichtet, stand auf zwei stämmigen Hinterbeinen und hatte seine Flügel ausgebreitet. Das Aussehen des Tieres war reptilienartig, von sumpfgrüner Farbe. Sein Kopf ähnelte dem eines riesigen Krokodils, nur dass die Stirn deutlich nach oben gewölbt war. Aus seinen Kiefern ragten Zähne unterschiedlicher Größe, bis zu einer Länge von zwanzig Zentimetern. Zwischen seinen tütenförmigen Ohren wuchsen, hintereinander gereiht, zwei nach hinten gebogene Hörner aus der Stirn, das vordere größer als das hintere. Hinter den Hörnern begann ein aufrecht stehender Schuppenkamm, der über den Hals, den gesamten Rücken bis zum Schwanz verlief, eine Länge von mehr als zehn Metern. Der Torso wirkte plump. Das ganze Tier war mit großen Panzerschuppen bedeckt, sein Bauch ähnelte dem eines Krokodils. Die Beine des Drachen erinnerten an jene eines Tyrannosaurus Rex, sie liefen in drei mächtigen Klauen aus und hatten einen Sporn an der Ferse. Anstelle von Vorderbeinen wuchsen dem Drachen riesige, fledermausartige Schwingen aus den Schultern. Drei der Finger waren zu langen Spanten ausgebildet, zwischen denen sich die Flughaut spannte, eine ledrige, geäderte Haut, die bis zum Schwanzansatz am Körper angewachsen war. Die anderen beiden Finger waren verkümmert, nach vorne gerichtet und standen krallenbewehrt vom Flügelarm ab. Die Spannweite war schier unglaublich, dreißig Meter, wenn nicht mehr.

    In den Augen seiner Kollegen spiegelten sich die gleichen Gefühle, die auch Stanley bewegten: Ablehnung des hier Dargebotenen – aber auch ein Schimmer von Zweifel, ob es nicht doch möglich wäre, dass …

    2

    Drei Monate vorher.

    Earl Grey. Da konnte man nicht alles falsch machen, nicht einmal die Amerikaner. Kaffee war in den Vereinigten Staaten nicht trinkbar, zu dünn. Außerdem hatten sie die falsche Bohne, vermutlich aus Kolumbien. Die Kolumbianer wussten, wie man mit den Kulturlosen umsprang: starke Drogen und schwacher Kaffee.

    Professor Charles Robert Kent nippte missmutig an seiner Tasse Tee.

    Eine echte Kaffeebohne musste aus Afrika stammen. Kenia – das war ein Anbaugebiet! Nicht Südamerika – Südamerika taugte ja nicht einmal als Kolonie – die Falklandinseln, ein einziges Desaster!

    Draußen gab es einen Tumult, Professor Kent sah von seiner Teetasse auf. Ein aufgebrachter Mann Mitte dreißig im Designeranzug und mit dickrandiger Brille erschien in der offenen Doppeltür, dicht gefolgt von einer Sekretärin, mit der er sich in einer lautstarken Auseinandersetzung befand.

    „Sie haben kein Recht dazu", schrie der Mann zum wiederholten Male und zeigte mit vor Erregung bebendem Zeigefinger auf sie.

    „Mister Murdoch, Sie können jetzt nicht hinein", sagte die Sekretärin selbstbewusst und unpersönlich.

    Die beiden waren in der Tür stehengeblieben. Es war wie ein Theaterstück, das mit einer Streitszene begann und die offene Doppeltür war die Bühne. Professor Kent lehnte sich amüsiert zurück und verschränkte die Hände vor seinem Bauch.

    „Ah, dachte er, „eine Provinzposse. Er lächelte ironisch.

    Der Mann in der Tür schnaubte wütend, ging zwei Schritte von der Sekretärin weg und wirbelte so schnell herum, dass seine gelglänzenden, nach hinten gelegten Haare aufflogen. Dann stolzierte er gekünstelt wieder auf die Frau zu. Seine Lackschuhe reflektierten die Deckenbeleuchtung.

    „Sie, sagte er laut und eindringlich, indem er unangenehm nahe an die Sekretärin heranging und wieder mit dem Finger auf sie zeigte, „handeln sich gerade eine Menge Probleme ein!

    Normalerweise hätte Professor Kent nun laut in die Hände geklatscht und „Bravo" gerufen, doch er wollte wissen, wie es weiterging. Er musste nicht lange warten: Auftritt des noblen Retters. Ein zweiter Mann – etwa fünfzig Jahre alt, groß, stattliches Auftreten, grauschwarzes Haar – betrat die Szene und fragte mit einer voluminösen, grundsätzlich angenehmen Stimme:

    „Was ist hier los?"

    Die Sekretärin antwortete:

    „Mister Van Hagen, Mister Murdoch möchte unbedingt den Chef sprechen."

    „Und zwar jetzt – und – sofort!" rief Murdoch, indem er nun mit seinem Finger auf Van Hagen zeigte. Dieser sah ihn eine Sekunde lang an, bevor er antwortete:

    „Ich sage Ihnen, was Sie hier zu wollen haben, Mister Murdoch. Der Chef hat angeordnet, dass er bis zur Sitzung nicht gestört werden will."

    Murdoch schüttelte den Kopf und kicherte.

    „Ach ja?, antwortete er, „das Ganze ist wahrscheinlich auf Ihrem Mist gewachsen, nicht? Aber das hat Konsequenzen, verlassen Sie sich darauf!

    Sogar von seiner etwa zehn Meter entfernten Position aus konnte Professor Kent sehen, wie sich Van Hagens Nasenflügel blähten.

    „Nehmen Sie im Sitzungssaal Platz, der Chef wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein", wandte sich nun wieder die Sekretärin an Murdoch und wollte ihn durch Berühren seiner Schulter dazu bewegen, durch die Tür zu gehen.

    Doch bevor es dazu kam, riss Murdoch die Hand abwehrend nach oben. Die Sekretärin hielt inne. Murdoch fügte sich widerwillig. Er kam in den Sitzungssaal herein, in dem Professor Kent saß, nahm mit einem wütenden Schwung einen Sessel vom Konferenztisch, zog ihn hinter sich her, knallte ihn in eine Ecke an der Fensterfront und ließ sich drauffallen. Er überschlug die Beine, verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und sah zum Fenster hinaus. So blieb er regungslos sitzen.

    Mister Van Hagen und die Sekretärin hatten mittlerweile ein wortloses Kopfschütteln gewechselt und waren aus dem Blickfeld verschwunden.

    Nur wer Professor Kent kannte wusste, dass er nun lächelte. „Das kleine Welttheater", dachte er abschätzig. Diese Amerikaner …

    Eine andere Sekretärin, ein hübsches, junges Ding, kam herein. Ihre trippelnden Schritte verursachten kein Geräusch, sie schien durch ihre Anwesenheit nicht stören zu wollen. Ihre Garderobe vermittelte den Eindruck, als sei sie nach den Erwartungen anderer ausgewählt worden. Sie blieb in einigem Abstand zu Murdoch stehen und fragte mit dünner Stimme:

    „Möchten Sie etwas zu trinken haben?"

    Murdoch ignorierte sie.

    Die Sekretärin schien unschlüssig, was sie tun sollte. Nach einigen Sekunden wiederholte sie ihre Frage in gleicher Lautstärke und Tonfall. Murdoch rührte nicht einen Muskel. Die Sekretärin ging wieder, ebenso leise, wie sie gekommen war. In der Tür stieß sie beinahe mit einem Mann zusammen, der so schwungvoll den Saal betrat, als surfe er auf einer Welle herein.

    „Verzeihen Sie, meine Dame", sagte er fröhlich, nachdem er ihr elegant ausgewichen war. Seine untersetzte, dickliche Figur und seine von einem grauen Haarkranz umrahmte, sonnenverbrannte Glatze gaben seiner schwungvollen Art etwas Skurriles.

    Sein Arm vollführte eine galante Geste, die der Sekretärin freies Geleit durch die Tür hindurch anzeigte. Sie kicherte, zog ein wenig den Kopf ein und trippelte durch die Tür.

    Der Eintretende wandte sich um und musterte den Saal. Die Sekretärin erschien wieder und stellte sich neben ihn. Sie schien etwas vergessen zu haben.

    „Möchten Sie etwas zu trinken haben?", fragte sie den Neuankömmling und Professor Kent schien es mittlerweile, als legte sie immer dieselbe Platte auf.

    Der Neuankömmling wandte sich ihr zu und rief fröhlich:

    „Kaffee aus der Neuen Welt, junge Dame!"

    Die Sekretärin blickte etwas irritiert um sich und meinte dann:

    „Ich werde sehen, ob wir welchen haben."

    Der untersetzte Mann sah ihr amüsiert lächelnd nach, dann wandte er sich wieder dem Raum zu, musterte ihn abermals und schlug laut patschend die Hände zusammen, um sie ausgiebig aneinanderzureiben. Er wippte einige Male auf seinen Zehenspitzen und betrat dann endgültig den Saal.

    Professor Kent war der Akzent des Ankömmlings aufgefallen. Er war Europäer, ein Niederländer wahrscheinlich oder noch schlimmer: ein Deutscher.

    Er griff zu seiner Tasche, die er an das Tischbein unter sich gelehnt hatte und holte die jüngste Ausgabe der Times heraus. Nicht, dass er sie nicht schon gelesen hätte, aber eine Ausgabe der Times zweimal zu lesen hatte immer noch ein höheres Niveau, als eine Ausgabe der New York Times einmal zu lesen.

    New York – was um alles in der Welt tat er hier? Unfreundliche Menschen, unmögliche Taxifahrer – ein Mix aus unzähligen Kulturen ohne jede Ordnung! Nun gut, wenigstens das Wetter war schön, einen so strahlend blauen Himmel konnte er sich in London nur wünschen. Aber das hob die negativen Seiten nicht auf. Professor Kents Kopf konnte ja nicht die ganze Zeit in den Himmel gucken, während sein Körper bis zum Hals im Chaos steckte.

    Er war tatsächlich dieser kryptischen Einladung zu einem „neuen Projekt, das sicherlich Ihr Interesse finden wird, gefolgt. „Aus Gründen der Geheimhaltung, hatte es in dem Schreiben geheißen, „ersuchen wir Sie um Verständnis dafür, dass wir Ihnen nähere Informationen nur bei einem persönlichen Treffen vermitteln können". Aus Gründen der Geheimhaltung! Wenn er so etwas schon hörte!

    Aber er war neugierig geworden, das musste er zugeben. Der Mensch, der ihn eingeladen hatte, dieser John Woody, bezahlte die Reisekosten samt Spesen und ersetzte den Verdienstentgang. Professor Kent hatte also nichts zu verlieren, im Gegenteil: Wenn einer einen solchen Aufwand betrieb, dann steckte irgendetwas Großes dahinter. Und einer wahrhaft großen Sache hatte Professor Kent schon lange nicht mehr gedient, eigentlich nicht mehr seit Poppers Tod.

    Der sonnengegerbte Glatzkopf, der vorhin gekommen war, schlenderte inzwischen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf die Fensterfront zu. Er schien nicht viel Erfahrung darin zu haben, sich geschmackvoll zu kleiden, denn weder passte sein blassgrünes Sakko zu seinen braunen Hosen noch sein gestreiftes Hemd zu seiner schmalen Lederkrawatte. Sein Gewand schien außerdem nicht richtig an seinem Körper zu sitzen und sein Krawattenknopf war so locker, dass er sich in jedem Moment aufzulösen drohte.

    Als er an Murdoch vorbeikam, der sich gerade betont gelangweilt umdrehte, um zu sehen, wer da gekommen war, nickte er ihm gut gelaunt zu. Murdoch ignorierte den Gruß und wandte sich wieder dem Fenster zu, wobei er mit den Händen über seine gelglatten Haare nach hinten fuhr, ein schlürfendes Geräusch dabei verursachend.

    Professor Kent sah auf die Uhr: Fünf Minuten vor zwölf. Das war ja wie ein amerikanisches Drama: „Zwölf Uhr mittags"! – Wer würde denn jetzt gleich zur Tür hereinkommen? Gary Cooper alias Will Kane?

    Unvermittelt blickte er zur Tür und erschrak fast. Der Mann, der da zur Tür hereinkam, war zwar nicht Gary Cooper, aber mit seinem Aussehen hätte er ohne weiteres Will Kane verkörpern können: Er war relativ jung, groß gewachsen und äußerst athletisch gebaut. Seine blonden Haare waren kurz getrimmt und seine Kleidung schlicht, aber elegant. In der Hand hielt er eine schwarze Mappe.

    Professor Kent war fasziniert vom Auftreten dieses Mannes. Seine Bewegungen waren fließend, als würde sein Körper nicht vom Wechselspiel einander gegenüberliegender Muskelpartien angetrieben. Sein pockennarbiges Gesicht war ausdruckslos, aber seine Augen aufmerksam.

    Der Mann kam an den Konferenztisch, sah Professor Kent kurz in die Augen und nickte ihm zu. Dabei verzog er den Mund ein wenig, es war eine unscheinbare, aber aufrichtig höfliche Geste. Dann nahm er Professor Kent gegenüber Platz, legte die Mappe vor sich auf den Tisch, verschränkte die Finger und blieb aufrecht und regungslos sitzen, seinen Blick geradeaus an Professor Kent vorbei aus dem Fenster gerichtet.

    Der Professor konnte nicht umhin, so etwas wie Faszination für diesen Mann zu empfinden. Die Farbe seiner Augen war stahlblau und sein Blick auf eine gefährliche Art lebendig, gelassen und doch interessiert. Er schien alles mit einer kurzen Augenbewegung erfassen zu können. Professor Kent wusste, wo er einen solchen Blick schon einmal gesehen hatte: In den Augen eines Löwen, bei einem Zirkusbesuch – so viel Kraft, so viel Selbstvertrauen, eine schier tödliche Überzeugung von der eigenen Überlegenheit! Der Professor war damals wie gebannt stehen geblieben. Das Gitter zwischen ihm und dem Raubtier schien mit einem Mal nicht mehr existiert zu haben, er war Beute gewesen.

    Die schüchterne Sekretärin trippelte wieder herein und brachte dem fröhlichen, älteren Herrn, der vor dem Blonden gekommen war, eine Tasse Kaffee. Sie sah ihn unsicher an, ob er damit auch zufrieden war. Nachdem dieser sich überschwänglich bedankt hatte, trippelte sie um den Konferenztisch herum zu Professor Kents Gegenüber und sagte wieder ihr Sprüchlein auf. Es machte den Eindruck, als wäre sie im Stehen kleiner als er im Sitzen.

    „Ein Glas Wasser, bitte", sagte der Blonde. Professor Kent konnte keinen Akzent in der Aussprache erkennen, aber so wie der junge Mann aussah, war er wahrscheinlich auch Deutscher, bestenfalls Skandinavier. Merkwürdigerweise wertete ihn das für Professor Kent nicht ab.

    Es war Punkt zwölf Uhr, als eine Gruppe von fünf Leuten den Saal betrat. Der ältere Herr, der die Gruppe anführte, war zweifellos der Gastgeber, dieser John Woody. Er nahm am Kopf der Tafel Platz, seine Begleiter verteilten sich am Konferenztisch.

    Der fröhliche Mensch mit dem Kaffee aus der Neuen Welt setzte sich neben Professor Kent und Mister Murdoch hatte sich wieder gelangweilt umgedreht und das Geschehen beobachtet. Er machte den Eindruck, als wollte er zum Tisch gebeten werden. Da dies aber nicht geschah, sprang er schließlich auf und kam eilig herbei, als hätte er plötzlich Angst, keinen guten Platz mehr zu bekommen. Er setzte sich neben den blonden Hünen.

    Der ältere Herr am Kopf der Tafel ergriff unverzüglich das Wort:

    „Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Mein Name ist John A. Woody, ich bin der Eigentümer von ‚People Incorporated’, in dessen Stammsitz wir uns hier befinden." Woody sah in die Runde. „Jeder von Ihnen ist eine Kapazität auf seinem Gebiet. Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, werde ich Sie alle der Reihe nach vorstellen, beginnend mit mir selbst.

    Ich begann in den frühen 1960er-Jahren als Hafenarbeiter hier in New York. An Arbeitern herrschte damals kein Mangel, sehr wohl aber an zuverlässigen Arbeitern. Ich gründete deshalb ein eigenes Unternehmen mit dem Namen ‚People’, im Wesentlichen eine Personalvermittlungsagentur. Heute würde man dieses Konzept Personal-Leasing nennen, doch der Begriff war damals noch völlig unbekannt. Mein Erfolg begründete sich auf meinem Ruf, nur zuverlässige, tüchtige und belastbare Arbeiter zu vermitteln. In wenigen Jahren hatte ich mir quasi ein Monopol auf die Hafenarbeit erarbeitet und weitete mein Konzept auf andere Branchen aus, so dass ich bald auch den Kleinhandel und die Gewerbebetriebe der Gegend mit Hilfskräften versorgte und später auch qualifiziertes Personal anbot wie Handwerker, Kellner und so weiter. Meine Idee fand Nachahmer, dank denen im ganzen Land eine Nachfrage nach Miet-Arbeitskräften erwachte und so erschloss ich einen Bundesstaat nach dem anderen mit Zweigniederlassungen.

    In weiterer Folge kaufte ich mich in andere Unternehmen ein und nutzte meinen Einfluss dort, um einen Teil der Firmenleistung auf meine Leasing-Kräfte auszulagern.

    Im Alter von dreißig Jahren war ich bereits Millionär und das hieß damals noch etwas! Seither verfolge ich dieselbe, bewährte Strategie: Ich kaufe mich in Unternehmen aller Branchen ein und erwerbe im Laufe der Zeit die Anteilsmehrheit. Dann nutze ich meinen Einfluss, um einen Teil der Arbeit auf mein Stammunternehmen, das Personal-Leasing, auszulagern. Deshalb befindet sich die Konzernzentrale auch hier, im Firmengebäude von People Incorporated und wenn Sie aus dem Fenster blicken, dann sehen Sie zwanzig Stockwerke unter uns den Hafen, wo alles begann.

    Wenn Sie mich heute fragen, womit ich mein Geld verdiene, dann bin ich in der seltenen Lage zu sagen: mit fast allem! Meine Vernetzung der verschiedenen Branchen hat mir den Spitznamen ‚Mister Network’ eingebracht."

    Woody legte eine effektvolle Pause ein

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