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Angewandte Volkstumsideologie: Heinrich Himmlers Kulturkommissionen in Südtirol und der Gottschee
Angewandte Volkstumsideologie: Heinrich Himmlers Kulturkommissionen in Südtirol und der Gottschee
Angewandte Volkstumsideologie: Heinrich Himmlers Kulturkommissionen in Südtirol und der Gottschee
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Angewandte Volkstumsideologie: Heinrich Himmlers Kulturkommissionen in Südtirol und der Gottschee

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Im Jahr 1939 wurde die überwiegend deutschsprachige Bevölkerung Südtirols vor die Wahl gestellt, entweder in Hitlers Deutsches Reich auszuwandern oder in Mussolinis faschistischem Italien zu verbleiben. Viele wählten die "Option" für Deutschland, ehe das Projekt "Umsiedlung Südtirol" 1943 infolge der Kriegsereignisse zusammenbrach. In der überwiegend von Deutschsprachigen bewohnten Gottschee im heutigen Slowenien erfolgte ein ähnliches Umsiedlungsreferendum im Jahr 1941. Verantwortlich für die Umsiedlung sogenannter "Volksdeutscher" war Heinrich Himmler als "Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums". Ihm war auch die als nationalsozialistische Wissenschaftsorganisation etablierte Forschungs- und Lehrgemeinschaft das "Ahnenerbe" der SS unterstellt, deren Aufgabe laut Satzung darin bestand, "Raum, Geist und Tat des nordischen Indogermanentums zu erforschen" und "die Forschungsergebnisse lebendig zu gestalten und dem deutschen Volke zu vermitteln". Im Sinne dieses Mandats formierte das Ahnenerbe in Südtirol und der Gottschee sogenannte "Kulturkommissionen", die, untergliedert in volkskundliche und sprachwissenschaftliche Arbeitsgruppen, bis 1943 umfangreiche Dokumentationen und Auswertungen angeblich "nordisch-germanischer Kultur" in den Umsiedlungsgebieten vornahmen. James R. Dow liefert durch die vorliegende Monografie nicht nur eine erste zusammenfassende Darstellung und Evaluierung der Forschungsaktivitäten der Ahnenerbe-Kulturkommissionen anhand zahlreicher Fallbeispiele und Forscherbiografien, sondern zeigt auch eindringlich die auf sie einwirkenden "Schatten" einer pseudo- und populärwissenschaftlichen "Junk Science" auf, die ein buntes Spektrum von Hanns Hörbigers wirrer "Welteislehre" bis hin zu Hans F. K. Günthers NS-"Rassenlehre" umspannte.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateFeb 22, 2018
ISBN9783706559003
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    Angewandte Volkstumsideologie - James R. Dow

    sein.

    Kapitel 1 – 21. Oktober 1939

    Am 21. Oktober 1939 unterzeichneten die Delegationen des Deutschen Reichs und des faschistischen Italien in Rom ein Umsiedlungsabkommen mit schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung der italienischen Provinz Südtirol.10 Hitlers und Mussolinis Anliegen war primär politisch motiviert: Das Deutsche Reich beabsichtigte die Umsiedlung dieser ethnischen Deutschen aus Südtirol11 und Italien die endgültige Italianisierung dieser nordöstlichen Provinz. Jedenfalls zielte das Abkommen von Rom ausschließlich auf die Umsiedlung der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung ab und keineswegs auf Feldforschungen zur Erfassung ihrer kulturellen Überlieferung – darüber findet sich im Abkommen kein Wort.

    Die Grundlagen für das Abkommen waren schon im Frühjahr 1938 in einem Treffen von Hitler und Mussolini und dann besonders in der ersten Hälfte des Jahres 1939 festgelegt worden. Im zweiten Kapitel seines Buchs Südtirol und die Achse Berlin-Rom 1938–1945 (1962) beschreibt Conrad F. Latour diese Sitzungen als ein „diplomatisches Vorspiel zur Unterzeichnung des Abkommens im Oktober 1939 und im dritten Kapitel zeigt er die Entwicklung der später so bezeichneten „ethnischen Radikallösung auf. Aus den Verhandlungsakten zitiert er einen äußerst zynischen Begriff für die geplante Umsiedlung: „Völkische Flurbereinigung"12 (Latour 1962: 51, Anm. 31). Latour bezieht sich des Öfteren auf seine Hauptquelle Otto Bene, den damaligen deutschen Generalkonsul in Mailand, und auch ich beziehe mich zur Skizzierung des historischen Kontextes teilweise auf sein unveröffentlichtes Manuskript (Bene 1951), wenngleich Bene natürlich insgesamt eine fragwürdige Quelle ist.

    Im Anhang zum Abkommen finden sich die von Bene und Giuseppe Mastromattei, dem Präfekten von Bozen, erstellten Richtlinien zur Umsiedlung, die sich primär mit dem Abtransport von materiellen kulturellen Wertgegenständen der Südtiroler Bevölkerung ins Deutsche Reich befassen. Auf der Grundlage des Abkommens versprach Himmler selbst der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols eine Umsiedlung in neue deutsche Siedlungen „irgendwo auf seinem Machtgebiet, z.B. im Osten".13 Für ein künftiges „geschlossenes Siedlungsgebiet" aller umzusiedelnden Südtiroler(innen) wurden gleich mehrere Gebiete in Betracht gezogen: zunächst Mähren in der Tschechoslowakei, dann die Beskiden im Süden Polens, später die französischen Regionen Elsass-Lothringen und Burgund und schließlich die Krim in der Sowjetunion.14 Der bereits erwähnte italienische ultranationalistische Senator Ettore Tolomei schlug sogar vor, die deutschsprachige Südtiroler Bevölkerung in der italienischen Kolonie Abessinien (im heutigen Eritrea) anzusiedeln.15 Letztlich konnte man sich bezüglich eines neuen Siedlungsterrains nie einigen und der Plan blieb nicht mehr als eine wilde und wahnwitzige Fantasie, die aber immer wieder diskutiert wurde.

    Zur organisatorischen Bewältigung der geplanten Massenumsiedlung wurde in Bozen von reichsdeutscher Seite ziemlich rasch eine Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle (ADERSt) mit mehreren Unterabteilungen und zugeordneten Ämtern gegründet. Die dem Umsiedlungsabkommen vom Oktober 1939 beigefügten Richtlinien veranlassten Himmler, am 2. Januar 1940 eine Südtiroler Kulturkommission innerhalb des SS-Ahnenerbes zu gründen,16 die mit deutschen und ehemals österreichischen Wissenschaftlern und einer Reihe von assistierenden Einheimischen zu besetzen war. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Südtiroler Kulturkommission, wenngleich sie als Unterabteilung des Ahnenerbes existierte und der Großteil der unter ihrer Ägide geplanten Feldforschungen in der Tat ausgeführt wurde, unter den vielen von Kater 1974 aufgezählten Ämtern des SS-Ahnenerbes nicht aufscheint. Bezeichnend dafür ist, dass kein Dokument der Südtiroler Kulturkommission einen offiziellen Briefkopf trägt. Alle Briefe, Memoranden, Vermerke und andere Akten sind mit der Bezeichnung und gelegentlich der Adresse der Kulturkommission in der oberen linken oder rechten Ecke maschinenschriftlich versehen. Erkennbar ist auch, dass die Südtiroler Kulturkommission nicht nur dem Ahnenerbe, sondern auch der ADERSt in Bozen unterstellt war (siehe Abb. 1). Ich fand lediglich ein einziges Dokument mit einem Stempel der Kulturkommission. In den Augen der Ahnenerbe-Geschäftsführung und der Kommissionsmitglieder war die Südtiroler Kulturkommission aber dennoch primär eine offizielle Abteilung des Ahnenerbes.

    Es ist heute schwierig festzustellen, wer als erster auf die Idee kam, für das Umsiedlungsgebiet Südtirol ein großes volkskundliches Forschungsunternehmen zu planen. Dokumentiert ist lediglich, dass Hugo Hassinger, der Leiter des Südostdeutschen Forschungsinstituts in Wien, im Jahr 1939 detaillierte Vorschläge für die volkskundliche Erforschung des Optionsgebietes erarbeitete (Schwinn 1989: 86). Sein Hauptanliegen war aber die Umsiedlung der ethnischen Deutschen Südtirols in die polnischen Beskiden in Galizien. Am 18. November desselben Jahres unterbreitete sein Wiener Kollege und Leiter der Ahnenerbe-Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde in Salzburg, Richard Wolfram, dem Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, SS-Sturmbannführer Wolfram Sievers, folgenden Vorschlag:

    Abb. 1: Provisorischer Briefkopf der „Südtiroler Kulturkommission" auf einem ihrer in den Bundesarchiven Berlin und Koblenz aufbewahrten Dokumente.

    „Bei der Umsiedlung müßte ferner darauf Bedacht genommen werden, daß die gesamten Kulturgüter (einschliesslich des Hausrates) mitgenommen werden, so weit dies nur irgend möglich ist. Die Höfe selbst aber wären noch vorher volkskundlich aufzunehmen. Ferner wären bei der Umsiedlung nach unserer Meinung erprobte und mit dem Volkstum dieser Gruppe vertraute Berater einzusetzen, die beim Wiederaufbau für eine möglichst artgemässe Gestaltung zu sorgen hätten".17

    Mit der Anordnung 12/II vom 2. Januar 1940 beauftragte Reichsführer-SS Himmler in seiner Eigenschaft als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums" das Ahnenerbe mit der „Aufnahme und Bearbeitung des gesamten geistigen und dinglichen Kulturgutes aller umsiedelnden Volksdeutschen (Menscheneinsatz 1940: 219), und damit waren die Grundvoraussetzungen für das Projekt in Südtirol geschaffen. Nur wenig später, im März 1940, unternahm Sievers eine längere Dienstreise nach Südtirol, „um in Vorbesprechungen Aufgabe und Umfang der Erfassung und Sicherstellung der gesamten geistigen und dinglichen Kulturwerte in Südtirol festzustellen. In seinem anschließenden Bericht an Himmler schlägt er vor, „die Sachbearbeiter der einzelnen Arbeitsgruppen zu einer „Kommission zusammenzufassen und „eine einheitliche Arbeitsrichtung festzulegen. Das groß angelegte, auf fünf Millionen Lire veranschlagte Forschungsvorhaben, um dessen Bewilligung er „nachdrücklich bitte[t], versucht er Himmler in superlativischer Übertreibung schmackhaft zu machen:

    „Bei der Durchführung der kulturellen Aufgaben ist in besonderem zu berücksichtigen, dass Südtirol volkstumsmässig und volkskundlich bisher nur ungleichmässig erforscht18 wurde. Da Südtirol eine einmalige Erscheinung im deutschen Volksgebiet mit einem unerhörten Reichtum an Überlieferungen ist, ist für eine ganze Reihe von bedeutenden wissenschaftlichen Fragen eine Lösung gerade mit Hilfe des Südtiroler Materials zu erwarten. Vor der Auflösung dieser Stammessiedlung muss deshalb ihr Reichtum allseitig erfasst werden; deshalb gilt es jetzt, diese einzige und letzte Gelegenheit restlos auszuschöpfen".19

    Hier wurde möglicherweise zum ersten Mal der Begriff „Kommission, und bald darauf „Kulturkommission, verwendet, und ferner deuten zahlreiche Indizien darauf hin, dass Richard Wolfram die treibende Kraft bei der Bildung der Südtiroler Kulturkommission war. Viele Jahre später, 1987, versuchte Wolfram aber, sich von der Kulturkommission zu distanzieren: „In voller Verzweiflung [wegen der geplanten Umsiedlung Südtirol, der Verf.] suchte ich – soweit ich dazu beitragen konnte – auf meinem Wissensgebiet vom Südtiroler Kulturerbe zu retten was möglich war […] Es gelang mir, Aufnahme in die Kulturkommission für Südtirol zu finden" (Wolfram 1987a: 6).

    Den Kommissionsmitgliedern bot der Forschungsauftrag nicht unbeträchtliche Vorteile, insbesondere angesichts des sich ausweitenden Krieges. Während der Feldforschungen in einem landschaftlich schönen und lange Zeit sicheren Winkel Europas erhielten die meisten von ihnen die Uk-Stellung (Unabkömmlichkeitsstellung), d.h. sie waren vom Kriegsdienst freigestellt. Die Arbeitsgruppenleiter der Kulturkommission waren ausnahmslos uk-gestellt, weil ihre Aufgabe von Himmler selbst als „kriegswichtig eingestuft wurde. Hier konnten sie ihren beruflichen Interessen und ihrer Hauptaufgabe, „vom Südtiroler Kulturerbe zu retten was möglich war, nachkommen.20 Es sei noch einmal betont, dass das deutsch-italienische Abkommen an keiner Stelle eine Kulturkommission erwähnt. Man findet darin lediglich den Hinweis, dass „Möbel, Hausrat, Wäsche, für den eigenen Bedarf bestimmte und selbsterzeugte Lebensmittel […] Inneneinrichtung wie Wandschränke, alte Wandtäfelungen, Kachelöfen usw." ins Deutsche Reich mitgenommen werden dürfen. Diese Formulierungen wurden später als Lizenz zur Plünderung verstanden.

    Bis Juli 1940 waren die meisten Mitglieder der Arbeitsgruppen der Südtiroler Kulturkommission nominiert21 und die Zahl ihrer ‚kriegswichtigen‘ Abteilungen wurde zügig ausgebaut (Kater 1974: 145 f., 191–204). Nicht alle geplanten Personalbesetzungen der Arbeitsgruppen waren realisierbar, weshalb schon Mitte Oktober eine leicht veränderte Zusammensetzung der Kulturkommission präsentiert wurde; man beachte hierbei die prominente Stellung von Richard Wolfram:22

    „Besetzung der Arbeitsgruppen der ‚Kulturkommission Südtirol‘23

    I. Volkskunde und Volksforschung

    1. Brauchtum, Volksglaube, Volkstanz/Bewegungsformen:

    Prof. Dr. Richard Wolfram, Wien

    2. Geräte und Hausrat: Dr. Thiele 24, Amt Rosenberg

    3. Trachten: Gertrud Pesendorfer, Volkskunstmuseum Innsbruck

    4. Volkserzählung, Märchen, Sage: Dr. Wilhelm Mai, Ahnenerbe

    5. Sinnbilder, Hausmarken, Sippenzeichen:

    Dr. Otto Plaßmann, Ahnenerbe

    II. Volksmusik, Volkslied, Volkstanz / musikalischer Teil

    Dr. Alfred Quellmalz, Staatl. Inst. f. Dt. Musikforschung

    III. Hausforschung und Bauwesen

    Doz. Dr. Martin Rudolph, TH Braunschweig

    IV. Aufbauplanung und Siedlungskultur

    Prof. Sachs, Bozen

    V. Mundarten, Flur- und Familiennamen

    Dr. Insam, München, Dr. Schweizer, Ahnenerbe

    VI. Archive

    Dr. Huter, Staatsarchiv Wien

    VII. Kirchenbücher und Sippenkunde

    Dr. Kayser, Reichsstelle für Sippenforschung Berlin

    VIII. Vorgeschichte

    Dr. Innerebner, Bozen

    IX. Museen, Kunstschätze, bildende Kunst und Volkskunst

    Dr. Posse, Leiter der Gemäldegalerie Dresden,

    Dr. Graf Trapp – Innsbruck, Landeskonservator von Tirol,

    Dr. Frodl – Klagenfurt, Landeskonservator von Kärnten,

    Dr. Ringler, Innsbruck

    X. Film

    SS-Hauptsturmführer Bousset, Berlin

    XI. Volksgeschichte, Stammeskunde

    [unleserlich: Karl Felix Wolff25?]"

    Die Bezeichnungen der einzelnen Arbeitsgruppen änderten sich wiederholt, hauptsächlich zur Klärung von Forschungskompetenzen, aber oft auch infolge von Streitigkeiten und Konkurrenzkämpfen innerhalb der Kulturkommission. Im Falle von Heinrich Harmjanz flüchtete ein Mitglied der Kulturkommission unter den Schirm einer anderen NS-ideologischen Wissenschaftsorganisation, nämlich zu dem mit dem Ahnenerbe konkurrierenden Amt Rosenberg. Harmjanz’ Fall ist wohl ein Paradebeispiel dafür, wie man von Himmlers ‚schwarzer‘ SS-Organisation in Rosenbergs ‚braune‘ SA-Organisation wechseln konnte.26

    Einige Arbeitsgruppen waren sehr aktiv, besonders jene von Richard Wolfram, Alfred Quellmalz, Bruno Schweizer und Willi Mai. Zu den aktivsten Mitarbeiter(inne)n zählten auch Matthias Insam, Georg Innerebner, Gertrud Pesendorfer, Martin Rudolph und Hellmut Bousset. Andere Mitglieder wiederum schienen für rein bürokratische Aufgaben zuständig gewesen zu sein, wie Franz Huter, Joseph Ringler und Joseph Otto Plaßmann, und einige wenige leisteten keine erkennbare Forschung für die Kulturkommission, wie beispielsweise Karl Felix Wolff.

    Sämtliche Arbeitsgruppen und Mitglieder der Südtiroler Kulturkommission standen mehr oder weniger unter dem Einfluss einer auf alles Nordische fixierten Ideologie, wie ich, ebenso wie Peter Assion, Peter Schwinn und Konrad Köstlin, an anderer Stelle bereits ausgeführt habe (Dow 2014a: 365–399). Alle diese Feldforscher erhielten mit den Richtlinien die klare Ansage – und nicht bloß These –, dass die aufzuzeichnenden und aufzunehmenden ‚kulturellen Güter‘ primär als Relikte urtümlicher germanischer Traditionen und Äußerungen aufzufassen seien. Ihre Bestimmung lag darin, diese kulturellen Relikte der Südtiroler zu registrieren und zu sammeln und sie im Hinblick auf eine ideologische ‚Reinigung‘ (im nationalsozialistischen Sinn) aufzubereiten. Alle folgten diesem Auftrag – oder besser: Mandat –, und einige glaubten sogar daran. Zum besseren Verständnis der Ideologie der Südtiroler Kulturkommission sei nachfolgend die ihr zu Grunde liegende intellektuelle Atmosphäre des Ahnenerbes und ihre wissenschaftsideologische Vorgeschichte dargestellt.

    ______________

    10 Ich bedanke mich herzlich bei Herrn Jonas Eberhardt vom Deutschen Auswärtigen Amt (Politisches Archiv und Historischer Dienst) für die Übersendung einer kompletten Kopie des Abkommens. Viele meinen, das Abkommen sei in Berlin unterzeichnet worden, aber anhand des Originals wird ersichtlich, dass es von den deutschen und italienischen Delegationen in Rom unterzeichnet wurde.

    11 Ich versuche, konsequent zwei Begriffe voneinander zu unterscheiden: „Umsiedlung und „Übersiedlung. In den Archiven fand ich auch die Termini „Umvolkung und „Völkische Flurbereinigung. In der wissenschaftlichen Literatur über die Südtiroler Option wird am häufigsten der Begriff „Umsiedlung" gebraucht.

    12 In der internationalen Presse findet man heute als adäquaten Begriff jenen der „ethnischen Säuberung" für Vertreibungen im Rahmen nationalistisch-ethnischer Konflikte.

    13 „Die Südtirol-Frage. Aufzeichnungen von Himmler am 30. Mai 1939", zit. nach Gruber 1978: 226.

    14 Ostgoten ließen sich im Jahr 257 auf der Krim nieder. Adolf Bach behauptet in seiner Geschichte der deutschen Sprache , dass Überreste ihrer Sprache auf der Krim bis ins 17. Jahrhundert nachweisbar waren (Bach 1938: § 44). Heather Pringle berichtet über Himmlers Interesse an der Idee, auf der Krim eine SS-Siedlung „Gotengau" zu gründen, und zwar im Gebiet der 356 Höhlen und Wehrtürme der Festungsruine Eski-Kermen (Pringle 2006: 32–37).

    15 Vgl. (den allerdings propagandistischen Artikel) „Ettore Tolomei – Der Totengräber Süd-Tirols", in URL: http://freeweb.dnet.it/ahmeran/ettore_tolomei.htm (06.05.2016).

    16 Bericht über die Tätigkeit der Kommission zur Aufnahme und Bearbeitung des geistigen und dinglichen Kulturgutes (Kulturkommission) der umsiedelnden Volksdeutschen in Südtirol vom 2.1.1940 bis zum 1.3.1941 (BA NS 21/164). – BA ist die Abkürzung für „Bundesarchiv" (Berlin-Lichterfelde und/oder Koblenz), NS 21 kennzeichnet die Signatur der Archivalien betreffend die Südtiroler Kulturkommission und die Zahl 164 den Ordner in NS 21.

    17 Wolfram an Sievers, 18.11.1939 (28 Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens in Rom) (BA, Personalunterlagen Richard Wolfram). Assion/Schwinn (1988: 222) beschreiben Wolfram als „den wichtigsten Ratgeber" unter jenen, die mit der Konzeption der Arbeitsgruppen der Südtiroler Kulturkommission betraut wurden (vgl. auch Jacobeit/Lixfeld/Bockhorn 1994: 567).

    18 Alle Hervorhebungen durch den Verf.

    19 Sievers an Himmler, 10.04.1940, „Aufnahme und Erfassung der kulturellen Werte in Südtirol" (BA NS 21/410). Sievers sprach mit den Verantwortlichen vor Ort: Dr. Wilhelm Luig, Leiter der Amtlichen deutschen Ein- und Rückwandererstelle (ADERSt), Dr. Helmut Altpeter, Leiter der Kulturabteilung der ADERSt, Peter Hofer, Chef der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO), sowie dessen Sachbearbeitern und mit der Leitung des Gaues Tirol-Vorarlberg; vgl. auch Kater 1974: 159 f., Schwinn 1989: 85–87.

    20 Protokoll des ersten Treffens der Südtiroler Kulturkommission am 1. Juli 1940 in Bozen (BA NS 21/433).

    21 Siehe die Gruppenlisten in Stuhlpfarrer 1985: 399–401.

    22 Siehe auch Kater 1974: 161, Schwinn 1989: 89, Anm. 16. Zur Auflistung vom 31. Oktober 1942 siehe Kater 1974: 401, Anm. 144, und Lixfeld G. 1994: 222, 226 f., 239 und 243 f.

    23 Siehe Oesterle 1994: 194–200.

    24 In den Akten werden selten die Vornamen angeführt.

    25 Karl Felix Wolff (1879–1966) war Journalist, Dichter und Heimatkundler in Südtirol. Als pangermanischer Nationalist behauptete er in seinen Schriften, dass die Deutschen die ‚Ur-Indogermanen‘ seien.

    26 Siehe Lixfeld/Dow 1994: 115 und Bockhorn 1994a.

    Kapitel 2 – Die intellektuelle Atmosphäre

    Ein Viertelmillion Südtiroler sollten im Deutschen Reich, „irgendwo auf seinem Machtgebiet, z.B. im Osten"27, angesiedelt werden und einige Tausend wurden tatsächlich umgesiedelt, zum größten Teil in den nördlich an Südtirol angrenzenden (Reichs-)Gau Tirol-Vorarlberg. Eine kleine Gruppe von 566 Mocheni, deren Vorfahren im 13. und 14. Jahrhundert aus verschiedenen Tälern Nord- und Südtirols in das Fersental im Trentino eingewandert waren, musste sich 1942/43 in Budweis und Aussig in Böhmen (Tschechoslowakei) niederlassen. In Vorbereitung auf diese ‚angewandte Umvolkung‘ einer geschlossenen Gruppe hatten die deutschen Besatzer 28.000 Hektar fremdes Land konfisziert. Das neue ‚Menschenmaterial‘ war dazu bestimmt, in Böhmen ein fast schon verschwundenes deutsches Element zu stärken und dabei zu helfen, die „alte deutsche, beinahe schon ‚erloschene‘ Sprachinsel in Südböhmen ‚wieder zu beleben‘" (Lozoviuk 2002: 167).

    Was in Bezug auf dieses „einmalige und beispiellose Ereignis" in Südtirol, wie ich es einleitend euphemistisch genannt habe, noch nicht ausreichend thematisiert wurde, sind die Feldforschungen der Südtiroler Kulturkommission im Detail und ganz besonders die intellektuelle Atmosphäre im Umfeld und innerhalb ihres Mitgliederkreises. Wissenschaftler aller Art, einige sogar bestens ausgebildet an renommierten Universitäten und Hochschulen in Deutschland und Österreich, sollten den Forschungsauftrag der Kulturkommission erfüllen. Von den neun hier zu behandelnden Kommissionsmitgliedern waren drei habilitiert und drei promoviert, einer war promovierter Ingenieur und zwei waren Sekretärinnen, davon eine ohne Abschluss einer Ausbildung. Ich versuche im Folgenden, dieses denkwürdige Forschungsunternehmen vor dem Hintergrund des deutschen Wissenschaftsbetriebes, in dessen Rahmen die meisten der Genannten bereits Positionen besetzten oder erreichen wollten, darzustellen und beginne zunächst – sozusagen kontrastierend – mit der Spitze der Wissenschaft in Deutschland, mit den deutschen Nobelpreisträgern.

    Schatten

    Von 1901, dem ersten Jahr der Nobelpreisvergabe, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Preis 46 Mal an deutsche Wissenschaftler vergeben: 17 Mal für Chemie, zwölf Mal für Physik, neun Mal für Physiologie/Medizin, fünf Mal für Literatur und drei Mal für besondere Verdienste in der Friedensarbeit. Die Preisträger – z.B. der Chemiker Otto Hahn, die Physiker Wilhelm Conrad Röntgen, Werner Heisenberg, Albert Einstein und Max Planck, der Schriftsteller Thomas Mann oder Gustav Stresemann als Friedensnobelpreisträger – wurden international bekannt und ihre Leistungen wirken heute noch nach. Rechnet man, da diese Phase ja auch die NS-Zeit umfasst, Österreich mit ein, kommen weitere 13 Nobelpreisträger hinzu: drei in Chemie, je vier in Physik und Medizin/Physiologie und zwei für Friedensarbeit. Insgesamt ergingen 59 Nobelpreise an Wissenschaftler aus deutschsprachigen Universitäten, wobei etwa 30 Prozent der Preisträger Juden waren.28 Gemessen nur an der Zahl der Nobelpreis-Auszeichnungen kann man für diese Phase zweifellos von Exzellenz an deutschen Wissenschaftseinrichtungen sprechen, Studenten aus aller Welt strömten an die deutschen und österreichischen Universitäten, um bei anerkannten Wissenschaftlern zu studieren. Einer von ihnen war beispielsweise der Amerikaner Stith Thompson (1885–1976), der im Studienjahr 1926/27 in Europa Kontakte knüpfte und später das „Folklore Program" an der Indiana University begründete. Er benannte es mit Folklore Institute, wobei er die europäische bzw. deutsche Bezeichnung „Institut verwendete und nicht, wie sonst üblich an amerikanischen Universitäten, den Begriff „Department.

    In unserem Betrachtungszeitraum (Jahrhundertwende bis Ende Zweiter Weltkrieg) waren somit international bedeutende wissenschaftliche Projekte im Gange, und einige Forscher erlangten auch für den Krieg Bedeutung.29 Doch parallel zum seriösen akademischen Betrieb existierte ebenso eine umtriebige pseudowissenschaftliche akademische Szene, die zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen produzierte. Ich verwende die höflichen Termini „Populärwissenschaft und „Pseudowissenschaft, man möge aber verstehen, dass es sich hierbei um „Junk Science bzw. „Kramwissenschaft30 im wahrsten Wortsinn handelte. Zu Beginn meiner Forschungen glaubte ich noch, dass die Vertreter der Junk Science und ihre Vorläufer, Wegbereiter, Einrichtungen und Publikationen bloß schwache Schatten auf die hier zu untersuchende ‚Volkstumswissenschaft‘ warfen, doch allmählich wurde mir klar, dass Populär- und Pseudowissenschaften auch an den Forschungsinstituten renommierter Universitäten oder an lose mit ihnen in Verbindung stehenden geisteswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen ihren Platz gefunden hatten. Quasi im Windschatten legitimer wissenschaftlicher, auch nobelpreiswürdiger Errungenschaften konnte pure und unverfälschte Pseudowissenschaft aufblühen. Pseudowissenschaftliche ‚Studien‘ entstanden zwar meist in nicht-akademischem Umfeld, doch vor allem in der NS-Zeit und auch schon früher strömten sie, rezipiert und verbreitet selbst von Professoren und Habilitierten an Deutschlands und Österreichs besten Universitäten, besonders in Berlin und Wien, an die Öffentlichkeit, gleichsam umgeben von legitimer Wissenschaft. Wenn pseudowissenschaftliche Schatten faktisch aus der Sphäre redlicher und renommierter Wissenschaft fielen, erhielten sie den Anschein von wissenschaftlicher Legitimität. Ich behaupte und versuche zu beweisen, dass den Arbeiten der Mitglieder der Kulturkommissionen des SS-Ahnenerbes weitgehend unwissenschaftliche, nämlich populär- bzw. pseudowissenschaftliche Konzepte und Methoden zu Grunde lagen – selbst bei differenzierter Betrachtung der Einzelfälle. In der Tat wohl ein hartes Urteil über so viele akademisch ausgebildete Personen und ihre Arbeiten.

    Indem ich das Wort „Schatten verwende, beschränke ich mich bewusst nicht auf den Begriff „Zeitgeist für dieses ‚einmalige und beispiellose Ereignis‘ in Südtirol und der Gottschee. Mir geht es um eine breiter angelegte Untersuchung der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über einen längeren Zeitraum hinweg, der mit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnt und ganz besonders die ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umfasst. Ich bin mir dessen bewusst, dass jene spezifische Art von Populär- und Pseudowissenschaft, die Gegenstand meiner Abhandlung ist, keineswegs nur auf Deutschland beschränkt war. Man braucht sich beispielsweise nur zahlreiche amerikanische Studien anzusehen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der damals neuen Wissenschaft „Eugenik bzw. „Eugenetik (auch „Erbgesundheitslehre") erschienen. Besonders erschreckende Beispiele dafür sind die Veröffentlichungen des Mediziners William Duncan McKim (1855–1935), der in seinem Buch Heredity and Human Progress (1900) die staatlich zu veranlassende Ermordung („liquidation) der „very weak and […] very vicious (der sehr Schwachen und sehr Bösartigen) durch Kohlensäuregas vorschlug, oder Madison Grant (1865–1937) mit seinem Buch The Passing of the Great Race (1916), ein ausgefeiltes Werk über „Rassenhygiene". Das 1910 in Cold Spring Harbor in New York gegründete Eugenics Record Office produzierte Berichte, Aufsätze und Tabellen, die damals als wissenschaftlich galten. Es ist bekannt, dass vieles an ‚Wissenschaft‘ dieser Art im frühen 20. Jahrhundert im Umfeld von renommierten amerikanischen Universitäten aufkam. Ein Paradebeispiel sind die Forschungen des Harvard-Professors Alexander Hamilton Rice (1875–1956), der in den 1920er-Jahren Expeditionen ins Amazonasgebiet unternahm, um dort nach den Spuren einer mythischen hochentwickelten Zivilisation von Menschen weißer Hautfarbe zu suchen, die angeblich eine prachtvolle Stadt hinterließen.31 Professor Rice finanzierte seine fragwürdigen Exkursionen mit dem Geld seiner reichen Ehefrau Eleanor Elkins Widener, die wiederum 1915 den Bau der Widener Library in Harvard als Andenken an ihren ältesten Sohn Harry Elkins Widener, der 1912 zusammen mit seinem Vater George Dunton Widener beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen war, gestiftet hatte.

    Da sich mein Thema auf die oben skizzierte Zeitperiode bezieht, behandle ich hier frühere und spätere Erscheinungsformen von Populär- oder Pseudowissenschaft nicht, sondern beschränke mich auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum.

    Populärwissenschaft überall

    Die Glazialkosmogonie oder Welteislehre: Der österreichische Ingenieur Hanns Hörbiger (1860–1931) entdeckte seine Theorien eines schönen Abends 1894 bei der Betrachtung des nächtlichen Himmels. Als er über die vielen Berge, Meere, Krater und Rillen auf dem Mond sinnierte, hatte er eine Erleuchtung: Diese Landschaften waren das Endergebnis des Widerstreits zwischen den Mächten Glut und Eis und es war ein dicker Eismantel, der da zu sehen war, und kein Mondstaub. Bald entwickelte sich bei ihm ein alles verzehrendes Interesse daran, was man heute als seine „Welteislehre beschreibt, auf die eine eigene „Weltallslehre über die Entstehung des Universums aufbaut.

    Hörbigers Opus magnum ist ein 800 Seiten dickes Buch, das er 1913 zusammen mit seinem ‚Jünger‘ Philipp Fauth unter dem Titel Glazial-Kosmogonie. Eine neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls und des Sonnensystems auf Grund der Erkenntnis des Widerstreites eines kosmischen Neptunismus mit einem ebenso universellen Plutonismus herausbrachte. Hörbigers und Fauths Buch ist derart langatmig und repetitiv, dass einige ihrer Anhänger sich bemüßigt fühlten, Zusammenfassungen und Kurzdarstellungen des Inhalts anzubieten.32 Eine davon wurde 1926 von Hans Wolfgang Behm veröffentlicht. Zwar umfasst sie bloß 47 Seiten, kann aber in puncto Länge des Titels durchaus mit dem Vorbild konkurrieren: Welteis und Weltentwicklung. Gemeinverständliche Einführung in die Grundlagen der Welteislehre (siehe Abb. 2).

    Nach Hörbiger besteht das Weltall aus riesigen „Heißgestirnen und „Eisgestirnen. Irgendwann in grauer Vorzeit geriet ein kleiner, von Wasser durchdrungener, aber toter „Eisstern in das Gravitationsfeld eines Riesengestirns nahe der Konstellation Columba (Hörbigers „Taube) und stürzte hinein. Der kleine Stern verglühte aber trotz der hohen Temperatur nicht sofort, sondern baute eine poröse Schlackenhülle auf und erhitzte sich weiter, bis eine Deferveszenz33, eine Siedeverzugshöhe, erreicht war. Es folgte eine gigantische Explosion, im Sinne Hörbigers eine Art ‚Urknall‘. Zu den Sonnensystemen, die aus dieser Explosion entstanden, gehört laut Hörbiger auch unser Sonnensystem, das jedoch ursprünglich aus viel mehr Planeten bestanden habe als heute bekannt.

    Abb. 2: Titelblatt von Behm 1926.

    Abb. 3: Hanns Hörbigers Grabstätte am Friedhof Mauer in Wien – quasi ein Denkmal mit einem Urbogen und einem kleinen Grabstein darunter. Foto: Daniel Buck.

    Bezugnehmend auf diese Weltallslehre liest man bei Behm: „Aus ursprünglichen Kreisen als Umlaufslinien um den Sonnenball werden feingewickelte, dem Stiftwege auf der Grammophonplatte vergleichbare, nach innen sich verengernde Kreisspiralen" (Behm 1931: 14). Eisblöcke von verschiedener Größe würden auch im Weltall umherkreisen und die äußeren Planeten des Sonnensystems seien deshalb größer als die inneren, weil auf sie mehr Eisblöcke einstürzten; man könne diese Blöcke als Meteoren am Nachthimmel sehen. Wenn einer von ihnen auf die Erde stürze, entstehen Gebirge oder es kommt zu Erdbeben, Hagelstürmen und Überschwemmungen. Die Anhänger dieser Kosmogonie beschreiben die biblische Sintflut und auch das Versinken von Atlantis als Folge herabstürzender Satellitenmonde.

    Ein anderer Hörbiger-Jünger, Hans Schindler Bellamy, erweiterte die Theorie 1936, indem er behauptete, ein Neozoikum-Mond34, nämlich der Vorgänger unseres Mondes, sei auf die Erde herabgekreist und habe die Ozeane so gegen den Äquator gedrängt, dass sich, vergleichbar mit einem Reservereifen, „Gürtelflutwasser" um den Äquator angesammelt habe (Pringle 2006: 180), während der Rest der Erde in eine Eiszeit versank. Flora und Fauna und angeblich auch Menschen seien dadurch gezwungen worden, in gebirgiges Hochland auszuweichen, nämlich in die Anden Boliviens, in den Himalaya von Tibet, auf äthiopische Hochebenen und in so gut wie alle nordischen Länder.35 Laut derartigen unbewiesenen Spekulationen besteht also eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Kosmos, der Erde und der ‚nordischen Urheimat‘ der Menschen.

    Mondmythologie: Das Interesse am Mond wuchs, als Georg Hüsing (1869–1930), ein österreichischer Privatgelehrter und außerordentlicher Professor für Geschichte der alten Völker Vorderasiens an der Universität Wien, im Jahre 1927 ein Büchlein mit dem Titel Die deutschen Hochgezeiten veröffentlichte. Zwei Themen werden darin behandelt, und zwar Hüsings spezielle Betrachtungsweise des Mondes und ein auf den Mondphasen beruhendes Zeitrechnungskonzept. Im Gegensatz zu bekannten Solarmythologen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Friedrich Max Müller oder George William Cox deutete Hüsing den Einfluss des Mondes – und nicht jenen der Sonne – als inspirierend für einen Großteil der Figuren, Handlungen und Strukturen der arischen Mythologie. Solaristen interpretierten die Mythen ja als symbolische Repräsentationen der Sonne, ihres Aufgangs, Untergangs, ihrer Wärme usw., während Lunarmythologen die Veränderungen des Mondes als Grundlage für die Entstehung von Mythen betrachteten. Sie verwiesen darauf, dass die Sonne sich nie verändere und bloß auf- und untergehe, während der Mond täglich zu- oder abnehme, sogar verschwinde und auf eine ‚magische Weise‘ wiederkehre. Hüsing spekuliert, dass es unter den germanischen Stämmen so genannte „Hochgezeiten im Sinne von hohen Festzeiten gab, die eigentlich aus Mythen zur Verklärung der Mondphasen herrührten. Die Verehrung der Sonne als Ursache für Feste und Feiern sei erst nach der Einführung der Sonnenzeitrechnung aufgekommen, die „Hochgezeiten jedoch seien Ausdruck einer viel älteren, ursprünglicheren Mondorientierung und einer nach Mondphasen ausgerichteten Zeitrechnung. Auch die gegenwärtigen deutschen Festzeiten lassen sich laut Hüsing aus der Mondmythologie ableiten.

    Georg Hüsing, nie Ordinarius, sondern nur „Professor Extra-Ordinarius ad personam" an der Universität Wien, brachte sein Denken auf Linie mit der Arbeit seines Kollegen Wolfgang Schultz vom Wiener Forschungsinstitut für Osten und Orient. Er bezog einen Großteil seines Zeitrechnungskonzeptes aus Schultz’ Buch Zeitrechnung und Weltordnung in ihren übereinstimmenden Grundzügen bei den Indern, Iraniern, Hellenen, Italikern, Kelten, Germanen, Litauern und Slaven (1924), das als Habilitationsschrift eingereicht worden war (Vacano 1936: 193). Der Kern dieser Zeitrechnung war der Mondmonat von 30 Tagen. Die „Nachtrechnung, d.h. die Zeitrechnung nach Mondphasen, sowie die angeblich „auffällige Häufigkeit der 3 und 9 Zahl im arischen Überlieferungsgute bildeten die ersten Ansätze zur Entschlüsselung angeblich altertümlicher arischer Zeiteinheiten. Man liest hier über einen „Weißmond und einen „Schwarzmond und über drei Neun-Tage-Wochen, während welcher der Mond sichtbar ist, und eine Drei-Tagesphase, während welcher er nicht zu sehen ist. Jeder Teil des Kalenders sei durch 3 teilbar, selbst die Trinität der germanischen Schicksalsgöttinnen („Nornen, „Märgen) würden sich aus den drei hellen Wochen ableiten lassen und die dunkle „Tarnzeit rühre von einer „vierten Märge her. Schultz behauptet:

    „Kaum an einem anderen Stoff wird man wieder so deutlich sehen können, wie der Mythos nichts Anderes ist als eine Geschichte von den Schicksalen des Kalendergestirnes, gewonnen aus den als selbständige Wesen aufgefaßten Gestalten des Mondes, deren Schicksale, Gegnerschaften und wechselseitige Beziehungen eben durch den Ablauf dieser Gestalten, durch den himmlischen Vorgang selbst, bestimmt sind". [Schultz 1924: 41]

    Noch spezifischer äußerte er sich über den Sinn von Mythen:

    „Wir können uns auch bereits deutlicher als früher darüber aussprechen, was der Mythos ist: nichts anderes als ein von Masken im Tanz dargestellter, gesungener Kalender, ein Stück der arischen Urzeit, das außer im Drama, im Epos und anderen Teilen des Schrifttumes auch in den Festspielen, im Kinderspiele, im Volksliede und im Märchen nachwirkt". [Schultz 1924: 6]

    Hüsing übernimmt diese Theorie und schmückt sie aus:

    „In alten Zeiten, als noch die arischen Völker nur

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