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Geyers Schädel: Eine Kapitulation
Geyers Schädel: Eine Kapitulation
Geyers Schädel: Eine Kapitulation
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Geyers Schädel: Eine Kapitulation

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Eine Erzähl-Collage in, durch und über Wagners Kopf. Der Komponierer von Gewaltmärschen, Helicopter-Angriffen und zaubertrankberauschten Liebestoden gibt Rätsel auf. Stammt der halbe Ring gar nicht von Wagner? Basiert der berühmte Tristan-Akkord auf einem Schreibfehler? Hat der Erfinder des Gesamtkunstwerkes den Kopf verloren? Ist in Wahnfried gar nicht Richard Wagner begraben? Ein bizarrer Fund im Wagner-Jahr alarmiert die Bayreuther Polizei. Bei den Ermittlungen geraten Kommissar Haderer und seine Assistentin in die weitverzweigten Katakomben der Festspielstadt und sehen sich gefangen in einem Traum, der Wagners Leben ist: von der Revolte zur Königstreue durch permanente Schuldenkrise. Die Beamten schreiten kaum, doch wähnen sich schon weit, zum Raum wird ihnen hier die Zeit. Wissen sie am Ende wirklich, wo ihnen Wagners Kopf steht?
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateJun 28, 2018
ISBN9783956021640
Geyers Schädel: Eine Kapitulation

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    Book preview

    Geyers Schädel - Marcus Imbsweiler

    Impressum

    » Das Leben Wagners, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehen, hat, um an einen Gedanken Schopenhauers zu erinnern, sehr viel von einer Komödie an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken.«

    Friedrich Nietzsche

    Leschkowskis Herz

    Der Schädel aus dem Fichtelgebirge war nicht nur von Maden übersät, er besaß auch einen auffallend musikalischen Hinterkopf. Haderer ertappte sich bei dem Wunsch, die schöne Rundung nachzufahren. Den Bogen zu spüren, Klangfantasie zu ertasten. Er unterdrückte diesen Wunsch. Denn die Madenmasse wimmelte derart um den halbverwesten Schädel, dass sie eine kompakte, in sich bewegliche, klumpig weiße Schicht bildete, gleichsam ein versehentlich außen angebrachtes Gehirn. Haderer hasste Maden. Doch er hasste viele Dinge: seinen Chef, seinen Bauch, das Geschwätz der Politiker. Weshalb sich sein Widerwille gegen die gefräßigen Stummelviecher innerhalb professioneller Grenzen hielt. So war das Leben nun einmal: fressen und gefressen werden. Irgendwann würden sich die Maden auch über ihn hermachen, den Haderer Korbinian aus Bayreuth.

    »Fort damit zu den Forensikern«, schnarrte er und erhob sich. Etwas lief über seinen Nacken, kalt und doch lebendig: eine Gänsehaut. Er schüttelte sich. Die Gänsehaut ließ sich nicht abschütteln. Sie ließ sich höchstens ignorieren: durch Ablenkung.

    »Leschkowski!«, brüllte Haderer.

    Alles schreckte zusammen. Die Polizisten, die Kriminaltechniker, Staatsanwalt Dr. Klein, die zufällig anwesenden Spaziergänger rund um die Hohe Warte. Waldeinwärts fuhr ein Rascheln durchs Unterholz, dort flüchtete vermutlich ein Tier. Die einzige, die sich nicht rührte, war eine junge Frau mit Pagenschnitt, kurzem kariertem Rock und Reitstiefeln. Sie wandte Haderer den Rücken zu und blickte zwischen den Stämmen hindurch ins Waldesdunkel. Dabei hielt sie den Kopf ein ganz klein wenig schräg.

    »Leschkowski!«, brüllte es hinter ihr.

    Aufseufzend zeigte sie nach vorn. »Sehen Sie das, Chef?«

    »Nein!«

    »Der Baum dort.«

    »Ich sehe keinen Baum!«

    »Der Baum neben den vielen anderen Bäumen. Man nennt es Wald. Dort müsste noch das Herz zu sehen sein, das mir Gregor vor vielen Jahren in die Rinde …«

    »Na, und?«, schnaubte Haderer. »Alles hinfällig. Staub und Sägespäne. Irgendwann kriegen sie uns. Die Maden. Jeden von uns. Nag, nag, nag: mich, Sie, alle. Als erstes geht es unseren Uraltlovern an den Kragen, die irgendwelche Baumrinden mit Herzchen verunstaltet haben.«

    »Ja, Chef.«

    Haderer wandte sich zum Gehen. Zu einem Gehen, das ein Stampfen und Stolzieren war, eine Landnahme im Zweiertakt, gebremst durch den weich aufgeworfenen Waldboden. Vor einer Fichte mit schrundigem Stamm blieb Haderer stehen. »Was machen all die Bäume hier?«, schimpfte er. Nieste. Und dann: »Leschkowski!«

    Die junge Frau hob eine Braue.

    »Welcher Gregor? Und was heißt, vor vielen Jahren? Sie stammen doch gar nicht von hier! Sind erst seit letztem Jahr in Bayreuth!«

    Die Leschkowski nickte. Legte den Kopf noch ein wenig schräger und schürzte die Lippen. »Ja«, sagte sie. »Dann war es wohl ein anderer Baum.«

    *

    Ach, Sie kennen Bayreuth nicht?

    Die Hohe Warte liegt im Norden der Stadt. An eine ihrer Flanken schmiegt sich das Krankenhaus, aber das können wir in diesem Zusammenhang vernachlässigen. Außerdem war der Schädel schon tot und somit kein klinischer Fall mehr.

    Der Besitzer des Schädels, ja doch. Sein Träger, der entschädelte Rumpf.

    Auf dem höchsten Punkt der Hohen Warte steht der Siegesturm. Höher als das berühmte Festspielhaus und auf dieses herabblickend, während das Festspielhaus wiederum auf die Stadt blickt. Zufall, meinen Sie? Ganz im Gegenteil! Unten, an der Basis: der BÜRGER, der Alltag, das Profane. Darüber: die KUNST. Und über ihr, himmelhoch sich reckend: der KRIEG. Die drei Säulen unserer Nation. »Dem Ruhme der deutschen Siege 1870/71 und dem ehrenden Andenken an die gefallenen Bayreuther Söhne geweiht«, lautet die Inschrift auf dem Turm, der nach dem Festspielhaus begonnen, aber vor ihm fertig wurde. Der Turm der Sieger, in jeder Hinsicht. Stein gewordene Männerfantasie, sagen die Neider und Böswilligen, phallischer Größenwahn. Was natürlich Unsinn ist. In Wahrheit stellt der Turm eine Waffe dar. Eine aufrechte Haubitze, ein bis den Wolken reichendes Kanonenrohr. Wir haben Paris erobert, schallt es dumpf aus dem Turm, nun schießen wir uns den Himmel auf Erden!

    Paff.

    Deshalb ist es so still rund um den Siegesturm. Die Leschkowski hat es gespürt, der Staatsanwalt, sogar Kommissar Haderer fiel es auf. Kein Autobahnlärm, keine Geräusche, nichts. Dass es mal im Laub raschelt, ist das Äußerste. Atemlos wartet alles auf den einen, entscheidenden Schuss, der die Sterne vom Himmel holt. Irgendwann muss er fallen! Irgendwann muss dieser Turm doch zu etwas nutze sein!

    1870. Ein Vorfahr von Staatsanwalt Dr. Klein starb beim Sturm auf die Spicherer Höhen. Beerdigt in einem Massengrab. Aus dem hätte noch was werden können, hieß es in der Familie. Der hatte was im Köpfchen. Musikalisch war er auch, der Eberhard. Hübsche rote Haare.

    Aus diesem Grund hat die Tochter von Dr. Klein den Deutsch-Französischen Krieg als Prüfungsthema gewählt. Um etwas gutzumachen, familiär und so. Nächste Woche muss sie bei Professor Knittel antanzen, kann aber schon jetzt nicht mehr schlafen. Herzrasen, Pickel, einfach alles. Ihr Vater hat seine Kontakte spielen lassen. Hat über ehemalige Studienkollegen versucht, den Prüfer milde zu stimmen. Der Prüfer gilt als harter Knochen. Als Vertreter einer aussterbenden Professorengeneration. Kettenraucher und Internethasser, solche Sachen. Aber Jahr für Jahr Kranzniederlegung am Siegesturm im Sonntagsstaat. Das kann ja heiter werden, denkt sich Dr. Klein (Nichtraucher).

    Man hat sich aus Bayreuth wegen eines »Siegesturmes« an meine Teilnahme gewendet, schreibt Richard Wagner an Bankier Feustel. Da Sie nun mein Bevollmächtigter sind, bitte ich Sie, ganz nach Ihrem Ermessen, in meinem »Auftrage« den Ihnen gutdünkenden Beitrag für mich zu zeichnen.

    Moment!

    War da nicht was? Ein Geräusch, ein entferntes Grollen? Ist der Turm endlich so weit? Kommt es jetzt zum finalen Schuss?

    Nein, war wohl nur ein Selbstmörder, der die Steinstufen hochschlurft. 17 Meter Turmhöhe, 463 Meter über Normalnull. So etwas zieht an. Magisch. Letzte Aussicht inklusive. Der Blick über Bayreuth. Über Kunst und Alltag.

    Da kommt er schon wieder herunter, der gute Mann. Am Absperrgitter gescheitert, das rund um den Zinnenkranz läuft. Suizid verschoben. SMS an Mama: Komme doch zum Abendessen. Eigschnidna Kleeß, bittschön.

    Und wir?

    Wir warten weiter auf die Eruption. Irgendwo tief im Innern der Hohen Warte ist alles zum Schuss vorbereitet. Ganz bestimmt. Die Kanonenkugel wird in Stellung gebracht – Stopfen – Zünden – Hurra!

    Ihre Leuchtspur am nächtlichen Himmel.

    Eine Kugel.

    Oder: ein Kopf.

    *

    Der Haderer Korbinian hasste Maden, aber er liebte Volksmusik. Frankens Frohsinn zum Beispiel, eine Chorvereinigung, schmetternd seit 150 Jahren. Oder die Bayreuther Buben mit den unrasierten Körner-Zwillingen am Akkordeon. Das alte Tonika-Dominante-Spiel, eine Mollparallele als Gipfel der Keckheit. Schön. Und ausreichend.

    Haderer wusste daher nichts vom Bruckner Anton, der im Café Imperial gern einen Gugelhupf verzehrte, sich am 22. September 1888 jedoch gegen den beißenden Ostwind stemmte, um rechtzeitig zum Währinger Friedhof zu kommen.

    Rechtzeitig zur Graböffnung. Rechtzeitig zur Ehrerbietung einem ganz Großen gegenüber.

    »Bittschön«, flüsterte Bruckner. »Derf i amal den Schubert …?« (Das ist natürlich eine Legende. Wer nimmt schon freiwillig, bevor es ins Café Imperial geht, einen 60 Jahre alten Schädel, an dem noch die Haare kleben, zur Hand? Und wenn Schubert etwas hatte, dann üppiges Haupthaar! Aber von alledem wusste Haderer nichts.)

    »Bittschön«, flehte der Bruckner Anton.

    Man reichte ihm den Schubert-Schädel. Wunderbar!

    Mit zitternden Händen drehte Bruckner das Komponistenhaupt hin und her. Suchte nach Resten Schubertscher Melodie, nach einem Genialitätsfunken im Schädelinneren, einem beiseitegelegten, nie gebrauchten Thema, aus dem sich vielleicht eine Symphonie fertigen ließe … und dann drückte er diesem einzigen, diesem einmaligen Kopf einen Kuss auf die fleischlose Stirn. (Legende, Haderer! Legende!)

    Einen Kuss, jawohl.

    Glückliches, reliquienseliges Österreich!

    Und es blieb nicht bei diesem einen Schädel. Kurz zuvor, im Juni desselben Jahres 1888, hatte Meister Bruckner schon einmal den Währinger Friedhof angesteuert, um diesmal Beethoven seine Labialreferenz zu erweisen. Wieder die innigen Seufzer aus musikgetränkter Brust, wieder der traumselige Blick in die erloschenen Tonkünstleraugen – allein der Griff zum Heroenschädel wurde ihm verweigert. Zu morsch das Gebein, Professor! Die Stabilität des Kopfes: hochgradig gefährdet.

    Ach, Beethoven.

    Und so blieb es bei einer kurzen, flüchtigen Kontaktaufnahme, einem verschämten Streicheln über die so flache Stirn. Selbst die brachte dem Bruckner Anton böse Blicke seitens der anwesenden Anthropologen ein.

    Kein Kuss.

    Nun hätte gerade der ja auch eine bemerkenswerte Umkehrung des Zeitstrahls bedeutet. Schließlich war es Beethoven gewesen, der sich in mythischer Vergangenheit seine Nachfolger per Weihekuss erkor. Den Knaben Liszt zum Beispiel. (Ach, was! Legende!) Ganz zu schweigen von den vielen anderen, aus denen dann doch nichts wurde. Selbst den jungen Richard Wagner soll er … aber das ist eine andere Geschichte. Bruckner jedenfalls, zu spät in die Welt geworfen, um Beethovens Weihekuss zu empfangen, ignorierte den Lauf der Geschichte einfach, indem er sich eine Riege legitimer Vorgänger zusammenstellte. Mit gespitzten Lippen sozusagen.

    1873 fuhr er nach Bayreuth. Dass der große Richard Wagner noch lebte, störte ihn nicht. Er breitete die Arme aus, wurde empfangen und empfing. O seliges Umschlingen! Bruckners nachgereichte Morgengabe: eine Symfonie, ein Werkchen nur von 2052 Takten, in tiefster Ehrfurcht gewidmet: »Seiner Hochwohlgeboren Herrn Herrn Richard Wagner, dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst.« Welcher ihn dafür – was? Umarmte, natürlich. Herzte, selbstredend. Und: küsste! Ein übers andre Mal, wie es heißt.

    Wagners Schädel freilich blieb unerreichbar. Als der Meister zehn Jahre später starb, wurde sein Leib von Venedig nach Bayreuth überführt. Gewissermaßen direkt an Wien vorbei. Ob Bruckner wohl mit Dr. Standhartner, dem Leibarzt der Kaiserin Elisabeth, darüber gesprochen hat? Unter vier Augen, von Schädelfreund zu Schädelfreund? Standhartner ist es doch gewesen, der Schubert und Beethoven kopfseitig begutachtet, vermessen und kartographiert hat! Standhartner, der Experte für Musikerhäupter. Der langjährige Freund Richard Wagners. Vielleicht hätte man zusammen mit ihm den Leichenzug über die Alpen aufhalten können. Den Sarg öffnen, das Wertvollste entwenden. Herrje, man wird doch einmal träumen dürfen! Ein totes Genie ist auch ohne Schädel groß. Haydns Kopf liegt seit langem rumpflos herum. Das Haupt Mozarts soll sich ein Wiener Anatom unter den Nagel gerissen haben. Nicht Standhartner, nein. Ein anderer. Der Doktor jedenfalls hätte die Gegenwart des Wagner-Schädels verdient. Bruckner erst recht.

    Aber was versteht ein Korbinian Haderer davon?

    *

    Der Schädel aus dem Fichtelgebirge passte auf keinen Rumpf. Man sichtete die Vermisstendatei – ohne Erfolg. Vermisst wurden junge Männer, alte Männer, Frauen und Kinder. Keine 40-Jährigen mit Resten eines Bartkranzes, der von Ohr zu Ohr lief, auf halber Strecke den Kehlkopf passierend. So der Befund der Pathologie. Die Suche wurde ausgedehnt. Auf das Bundesgebiet, auf die angrenzenden Staaten.

    »Es ist ein Ausländer«, sagte der Pathologe zu Haderer.

    »Komische Zähne«, sagte der hinzugezogene Dentist. »Nirgendwo eine Füllung!«

    »Östliches Europa, würde ich tippen.«

    »Keine einzige Füllung! Wo gibt’s das heute noch?«

    »Der Mann litt unter starkem Hautausschlag. Einem Ekzem, einer Art Gesichtsrose. Muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein.«

    »Was meinen Sie?«, wandte sich Haderer abrupt an seine Assistentin.

    Die Leschkowski schwieg. Schweigend betrachtete sie den von Maden gesäuberten Schädel, mit seinen Haarklumpen und Fetzen von Haut. In den Augenhöhlen krümelte der Glaskörper, hinter einem Geisterlächeln lauerten die entblößten Zähne.

    »Es ist ein Mann«, sagte die Leschkowski schließlich. »Und mit Männern kenne ich mich nicht aus.«

    »Ein Ausländer«, wiederholte der Pathologe. »Darauf lege ich mich fest.«

    »Könnte es sein«, sagte der Dentist mit gebotener Vorsicht, »könnte es sein, dass es sich um einen sehr alten Kopf handelt? Um einen gewissermaßen antiken Kopf? Ein, zwei Jahrhunderte alt?«

    »Und warum verwest er erst jetzt, Kollege?«, rief der Pathologe. »Haben Sie dafür eine Erklärung?«

    »Konservierung. Eine Moorleiche womöglich.«

    Haderer schüttelte den Kopf. »Kein Moor. Wald! Sauberes deutsches Mittelgebirge.«

    »Oder ein Gletscher. Ich kann mir nicht helfen, aber dieser Schädel erinnert mich an Ötzi.«

    »Ötzi!« Jetzt wurde auch Haderer laut. »Wissen Sie, wann der letzte Gletscher im Fichtelgebirge gesichtet wurde?«

    »Ich meine ja nur. Vielleicht stammt der Mann gar nicht von hier.«

    »Sondern?«

    »Wurde hertransportiert.«

    »Also doch ein Ausländer«, nickte der Pathologe.

    Haderer tippte sich an die Stirn. Noch während er tippte, drangen Geräusche in den stillen Kellerraum der Pathologie. Ein dumpfes Dröhnen, wie der langsame Trommelschlag einer Prozession. Leschkowski ging zum Fenster, einem schmalen Oberlicht, das sich auf Höhe des Straßenniveaus befand, und spähte hinaus.

    »Auch der Bart passt zu dem Befund«, insistierte der Dentist. »Diese Henkeldinger waren im 19. Jahrhundert in. Heutzutage trägt das kein Mensch.«

    »Sie kennen meine Söhne nicht.« Bitternis überflog die Miene des Pathologen. »Es gibt nichts, was die noch nicht getragen hätten!«

    Haderer hatte keine Söhne, aber Zahnärzte waren ihm aus Prinzip suspekt, deshalb nickte er wissend. »Es gibt nichts, was es nicht gibt.«

    »Das stimmt«, sagte der Pathologe dankbar.

    »Leschkowski! Was ist das für ein Lärm da draußen? Umzug oder was?«

    Das Dröhnen kam näher. Mittlerweile zitterte sogar das Gebäude. Anita Leschkowski sah aus dem Fenster und wollte nicht glauben, was sie sah. Eine Art Elefantenfuß, aber rötlicher und noch größer als ein Elefantenfuß, außerdem mit Krallen besetzt. Ein zweiter Fuß folgte, ein dritter, ein vierter. Sie ging in die Knie, um das dazugehörige Riesenvieh zu begutachten, kam mit ihren Blicken aber nur bis zur Unterseite des Rumpfs. Der einen gewaltigen Schatten warf.

    »Leschkowski! Darf ich heute noch mit einer Antwort rechnen?«

    Die Füße verschwanden und mit ihnen das Zittern des Hauses. Das Dröhnen erstarb.

    »Ja«, sagte Anita. »Ist wohl eine Art Umzug da draußen.«

    »Jetzt? Im Sommer?«

    »Es gibt nichts, was es nicht gibt. Behaupten die Leute hier.«

    * * *

    Variationen über den Mythos – Nr. 1

    Als sich Diplodocus carnegii vom Bayreuther Sternplatz nach Norden wandte, streifte sein Schwanz erst ein Reisebüro, dann einen Telekommunikationsladen. Etliche Handys gingen zu Bruch, die Besitzerin des Reisebüros kam mit dem Schrecken davon. Welche Schäden das Straßenpflaster genommen hatte, blieb vorerst ungeklärt. Zu selten kam es vor, dass ein quadrupeder Zehntonner durch die Fußgängerzone walzte.

    Vor dem Markgräflichen Opernhaus formierte sich eine Menschentraube, die dem Saurier hinterherstarrte. Sein winziger schmaler Schädel pendelte bereits vor den Tischen des Café Müller, als seine Schwanzspitze das Opernhaus noch nicht einmal erreicht hatte. Auf der bräunlichen Landschaft seines Riesenrückens spielte die Sonne.

    Drüben bei der Markgrafen-Buchhandlung kniff Professor Knittel die Augen zusammen. »Das Charakteristische«, sagte er zu seinen Studenten, »das Charakteristische an diesen Urviechern ist, dass sie der gemeinsamen Dichtungskraft des Volkes entspringen.«

    Noch während er sprach, splitterten die Scheiben des gegenüberliegenden Eiscafés. Der hässliche Kopf eines Stegosaurus schob sich durch den Fensterrahmen.

    »Des Volkes?«, hakte ein Student mit Seitenscheitel nach. »Sie meinen uns alle? Anders gesagt: Diese Tiere entspringen unserer Dichtung?«

    »Ja.«

    »Meiner auch?«

    »Selbstverständlich.«

    Ein Fauchen aus dem Eiscafé zeigte an, dass sich der Stegosaurus in seiner vorzeitlichen Beschränktheit im Rahmen verheddert hatte. Eine Halsplatte klemmte unter dem Fenstergriff, die Rü­ckenplatten schabten gegen das Gewände.

    Eine blonde Studentin meldete sich. »Soll das heißen, Professor Knittel, dass der Tyrannosaurus, der gerade die Hof-Apotheke zerlegt«, sie wies auf das Eckgebäude an der Ludwigstraße, »gar nicht existiert, sondern lediglich ein Produkt meiner Fantasie ist?«

    »Ganz recht, junge Frau. Ihre Einbildungskraft befähigt Sie, alle nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten nach weitestem Umfange in gedrängter, deutlich plastischer Gestaltung sich vorzuführen

    »Nun, plastischer als so ein Tyrannosaurus geht es wirklich nicht. Sehen Sie nur, welche Dellen er in der Hauswand hinterlässt!«

    »Das ist just die fassbare Darstellung der Erscheinungen, nach der das Volk verlangt. Im dargestellten Urviech erkennt es sich wieder, ja kommt es überhaupt erst zur Erkenntnis seiner selbst

    Mit gewaltigem Lärm stürzte ein Teil der Hof-Apotheke ein, die wütende Schreckensechse unter Staub und Steinen begrabend. Aus der Richard-Wagner-Straße näherte sich ein Streifenwagen, hielt vor dem Eckhaus und entfernte sich schleunigst wieder, als sich in den Trümmern eine Saurierschulter zeigte.

    »Das verstehe ich nicht«, sagte ein dritter Student, beide Hände trotzig in die Hosentaschen vergrabend.

    Professor Knittel lüpfte eine Augenbraue. »Was?«

    »Das mit der Selbsterkenntnis. Alles, was recht ist, aber in so einem gepanzerten Koloss vermag ich mich nicht wiederzuerkennen.«

    »Nun, vielleicht nicht in einem Tyrannosaurus, junger Mann. Möglicherweise jedoch«, unter beschatteten Augen blickte der Historiker Richtung Schloss, »in diesem putzigen Pegomastax, der seine Mama sucht?«

    Unterdrücktes Lachen. Der angesprochene Saurier hatte die Größe eines Schwans, allerdings nichts von dessen Schönheit. Sein Schnabel war papageienartig spitz, um den kleinen Kopf standen wilde Borsten. Kreischend flatterte das Tier von einer Seite der Maximilianstraße zur anderen.

    »Sehr witzig«, murmelte der Student.

    »Oh, es ist mein voller Ernst«, schmunzelte Professor Knittel. »Sehen Sie, das Unvergleichliche an diesen Urviechern ist, dass sie jederzeit wahr sind und ihr Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit – ich erwähne nur die geballte Kraft eines Brontosaurus –, bei dichtester Gedrängtheit also, für alle Zeiten unerschöpflich ist

    »Nun pinkelt das Vieh auch noch gegen das Schloss!«, empörte sich die Blonde.

    »Unerschöpflich, wie gesagt.«

    In der Ferne grollte es, der Boden zitterte.

    »Diese Kreaturen«, dozierte der Professor mit erhobener Stimme, »sind Anfang und Ende der Geschichte. In ihnen wird das Volk zum Schöpfer der Kunst. Wehe der Zeit, die auf sie verzichten zu können glaubt!«

    Zu diesen Worten schritten sie davon. Professor Knittel an der Spitze, Blondie, Scheitel und Kommilitonen dicht auf, der mit den Händen in der Hose als Nachhut. Hinter ihnen brach die Bayreuther Innenstadt zusammen.

    * * *

    »Korbinian?«

    »Ja?«

    »Wie lange willst du die Siezerei in der Öffentlichkeit noch durchhalten?«

    »Ewig.«

    Anita Leschkowski legte die Hände übereinander und schaute ihren Chef schweigend an.

    »Ewig und drei Tage«, präzisierte Haderer. Ihr Blick irritierte ihn, aber das kam ständig vor. »Herrgott, nun glotz mich nicht so an, Anita! Du bist neu hier. Du kennst die Leute nicht.«

    »Die Leute.«

    »Ja, die Leute. Der Franke ist ein Ordnungsfanatiker, der mag es nicht, wenn der Chef mit seiner Assistentin auf Du herumpussiert.«

    »Nein?«

    »Nein!« Haderer sprang auf. »Das muss alles schön seine Ordnung haben, sonst ist er irritiert, der Franke. Also sei ein liebes Mädchen und hör auf mich, Anita!«

    »Ich bin kein liebes Mädchen.«

    »Dann hör wenigstens auf mich.«

    Statt einer Antwort griff die Leschkowski nach einem herumliegenden Kaugummi, entfernte die Hülle und steckte ihn sich in den Mund. Haderer stand grummelnd am Fenster, als sich die Tür öffnete.

    »Der Gesichtsexperte ist mit seiner Rekonstruktion fertig«, verkündete Haderers Sekretärin. »Sie sollen um 15 Uhr zu ihm kommen.«

    »Danke, Frau Kohl«, sagte die Leschkowski.

    »Angeblich hat er etwas Verrücktes entdeckt.«

    Haderer lachte auf.

    »Was gibt’s, Herr Haderer?«, fragte Anita höflich. »Sie wirken so erheitert.«

    Haderer tippte sich an die Stirn. »Ein Gesichtsrekonstrukteur, der etwas Verrücktes entdeckt! Jedes Mal, wenn dieser Heini bei uns auftaucht, entdecke ich etwas Verrücktes. Ihn!«

    »Sagen Sie ihm, wir werden pünktlich sein, Frau Kohl.«

    Die Sekretärin schloss die Tür hinter sich. Während Haderer schwallartig seine Verachtung für Gesichtsrekonstrukteure kundtat, erhob sich seine Assistentin und ging zu ihrer an der Garderobe hängenden Handtasche, um sich den Lippenstift nachzuziehen. Als sie sich umdrehte, stand ihr Chef

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