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Der dicke Fisch von Wolckenstein
Der dicke Fisch von Wolckenstein
Der dicke Fisch von Wolckenstein
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Der dicke Fisch von Wolckenstein

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About this ebook

Ein Riesenwels, der einen Dackel auf dem Gewissen hat? In den Gewässern der Stadt Wolckenstein sollen sich eigen­artige Dinge zutragen. Ein gefundenes Fressen für die Medien. Aber gleich eine Gefährdung der heimischen Fauna? Und überhaupt: Wie sicher lebt es sich in Wolckenstein? Der Landtags­kandidat der Opposition haut in die Kerbe "Innere Sicherheit". Für Neubürgermeister Theo Tonseidel, Politnovize mit einer Vergangenheit als Versicherungsvertreter, kommt es knüppeldick. Es geht um Wählerstimmen. Ein zwielichtiger Investor will eine Neubausiedlung im Nachbarort verwirklichen. Ist Tonseidel in einen Skandal verwickelt? Beim großen Anglerfest werden alle Fragen beantwortet und die Knoten durchschlagen. Setzt Theo Tonseidel zu einem weiteren Schritt auf der Karriereleiter an? Teil 2 der Wolckenstein-Chronik.
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateJun 28, 2018
ISBN9783956021619
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    Book preview

    Der dicke Fisch von Wolckenstein - Marcus Imbsweiler

    Impressum

    Erster Teil

    Füße in Beton oder Die Wahrheit hinter der Legende

    Die Verbindungsstraße zwischen Schnabelberg und Wolckenstein ist schmal und kurvenreich. Freundlichen Mischwald durchzüngelt sie, erklimmt einen Höhenzug, stürzt sich in ein breites Tal … und plötzlich, an ihrem tiefsten Punkt, leuchtet neben einem verwitterten Holzkreuz ein ewiges Licht auf: die Schwedensenke. Ab und zu liegen frische Blumen unter dem Kreuz.

    Wem dieser Blumengruß wohl gilt? Zu blass sind die Buchstaben der Inschrift, um im Vorbeifahren entziffert zu werden.

    Dort, wo die Straße über den Bernbach führt, tritt der Wald zurück, um einer kleinen Ansiedlung Platz zu machen: zwei Wohnhäuser, ein Bauernhof, Stallungen. Dazu ein gemütlicher Landgasthof mit nachgedunkeltem Eichenmobiliar. Eigene Schlachtung, steht stolz über dem Eingang, und an Wochenenden empfiehlt es sich, einen Sitzplatz in der Stube zu reservieren. Vor der Tür riecht es nach Schweinemist, nach Kuhmilch und Dieselöl. Brombeerhecken wachsen am Rande des Besucherparkplatzes, und im Herbst sind die umliegenden Wälder von Pilzsuchern bevölkert.

    Aber noch ist der Herbst fern, noch schreiben wir April. Und in jenem Monat, an einem ganz bestimmten Abend, betritt ein ganz bestimmter Mann aus Wolckenstein die Gaststube. Er bleibt in der Tür stehen, sieht sich um, strahlt. Und wie er strahlt – es ist kaum in Worte zu fassen! Das Gesicht gerötet. Beide Arme in die Seiten gestemmt. Lebensglück, hier bist du Mensch geworden.

    Dieser Mann heißt Theo Tonseidel.

    In der Wirtschaft verstummen die Gespräche. Selbst wer nicht weiß, dass es sich bei dem Neuankömmling um den amtierenden Bürgermeister von Wolckenstein handelt, mustert ihn argwöhnisch. Was grinst der Kerl so dämlich? Worauf wartet er? Hat er noch nie eine Kneipe von innen gesehen?

    Händereibend durchquert Tonseidel die Gaststube, nickt nach rechts und nach links, erreicht den Tresen. Seine freimütig zur Schau getragene Freude, festlich und spitzbübisch zugleich, erfüllt den Raum. Strahlend bestellt er einen Wodka. Ringsum wendet man sich wieder den wesentlichen Dingen des Lebens zu: dem Bier, den Frauen, der Pik-Flöte auf Vorhand.

    »Was zu feiern?«, brummt der Wirt.

    »Wie meinen?«

    »Ob Sie was zu feiern haben?«

    »So ungefähr«, zwinkert der Bürgermeister. »Ja, doch, das könnte man so sagen.«

    »Zum Wohl.«

    Theo lässt den Wodka im Glas kreisen und schnuppert mit geschlossenen Augen daran. Dann stellt er das Glas wieder ab, um seine Krawatte zurechtzurücken. Vor exakt 365 Tagen hat er schon einmal hier gestanden. Auch damals hat er Wodka getrunken, nicht zu knapp. Der Wirt ist derselbe gewesen, dafür ist er, Theobald W. Tonseidel, nun ein anderer! Aus dem Versicherungsvertreter ist Wolckensteins Bürgermeister geworden, aus einem politisch Unbeleckten die Nachwuchshoffnung der Demokratischen Mitte. Der Wirt jedenfalls scheint sich nicht an jenen Tag vor einem Jahr zu erinnern. Vielleicht sollte man ihm einen Tipp geben. Wie wäre es mit einer kleinen Gedenktafel über der Eingangstür, guter Mann? An diesem Ort begann die politische Karriere Theo Tonseidels, des beliebten Bürgermeisters von Wolckenstein. Dem Gastbetrieb täte eine solche Maßnahme mit Sicherheit gut. Man spräche nicht mehr über die Schrotkugeln im Rehrücken, sondern über die Bedeutung des Hauses für die jüngere Wolckensteiner Geschichte.

    Sei’s drum. Theo ist eitel, aber ohne Hoffart. Zufrieden streichelt er seine neue Krawatte. Dunkles Anthrazit mit sparsam eingewebten Silberfäden, die sich kreuzen. Ein echter Feiertagsschlips, im Schrank ganz oben zu platzieren und beileibe nicht billig.

    Er winkt den Wirt zu sich. »Draußen die Litfaßsäule«, sagt er nach einem Räuspern, »wird wohl kaum noch genutzt?«

    »Kann sein. Wieso?«

    »Mir ist aufgefallen, dass da immer noch die Wahlplakate von letztem Jahr hängen.«

    Der Wirt zuckt die Achseln. »Da tut sich nicht mehr viel, warum auch. Ich meine, was soll man mit einer Litfaßsäule hier draußen?«

    Theo Tonseidel strahlt.

    »Habe ich was Falsches gesagt?«, fragt der Mann irritiert.

    »Nein, nein, überhaupt nicht. Sie haben Recht. Absolut Recht. Prost! Auf Ihre Säule!«

    Den misstrauischen Blick des Wirts ignoriert er lächelnd. Theo ist großzügig gestimmt wie selten. Ja, er gönnt August Probst, seinem Amtsvorgänger, den prominenten Platz auf der Litfaßsäule im Wald. Schließlich ist auch an dem verstorbenen Bürgermeister die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Sein papiernes Gesicht wirft Falten, der Teint changiert ins Grünliche, auf seinem Anzug zeigen sich Risse. Wer Probst nicht gekannt hat, muss glauben, der Mann habe zu Lebzeiten einen Schnurrbart getragen. Aber das ist nie der Fall gewesen. Nur dieses Plakat, verziert von unbekannter Hand, macht eine Ausnahme.

    »Auf dich, August Probst«, denkt Theo und schwimmt, beflügelt vom Alkohol, auf einer Welle angenehmer Erinnerungen. Wie schnell sich das Leben innerhalb eines Jahres ändern kann! Dieser Landwirt aus Schnabelberg zum Beispiel, der vor genau zwölf Monaten seine Versicherungspolicen gekündigt hat, ist letzte Woche wegen eines Hagelschadens beim Bürgermeister von Wolckenstein zu Kreuze gekrochen. Oder der Rektor der Grundschule Bernbach: Hat er Theo Tonseidel nicht vor Jahr und Tag wie einen Prüfling abgekanzelt? Demselben Theo Tonseidel muss er nun persönlich Rede und Antwort stehen, wenn es um die Renovierung der Schulturnhalle geht. So dreht der Wind, liebe Leute. Aus Geringschätzung wird Respekt, aus Überheblichkeit die Furcht vor Theos Entscheidungen. Ja, als Bürgermeister gehört er zu den Aushängeschildern der Stadt. Wie der Zinnsoldatenkönig Junkerath, wie Anita Hofmann, die berühmte Schauspielerin, und natürlich wie Rupert von Greiffen, Wolckensteins Erster Ritter.

    Theo wendet sich um und blickt zur Eingangstür. Es muss ja keine große Gedenktafel sein, für den Anfang würde eine kleine reichen.

    Ein Geräusch lässt ihn seine ursprüngliche Haltung wieder einnehmen. Die Tür zu den Toiletten hat sich geöffnet und gibt die Sicht auf einen Mann mit kurz geschorenen grauen Haaren frei. Er trägt die modische Kleidung rüstiger Senioren: Wanderhose, Fleecejacke, Turnschuhe. An seiner linken Schläfe tritt eine einzelne Ader ungewöhnlich stark hervor.

    »Bruno!«, ruft Wolckensteins Bürgermeister überrascht. »Was machst du denn hier?«

    Ertappt schaut der Mann in Theos Richtung und bleibt stehen. Er schüttelt den Kopf wie einer, der etwas sehr Saures schlucken muss, dann kommt er an den Tresen.

    »Theo, grüß dich.« Sie schütteln Hände.

    »Wie geht’s dir, Bruno? Und was machst du hier draußen?«

    »Wollte mal woanders einen trinken, ganz einfach.«

    »Alleine?«

    »Warum nicht alleine?« Bruno Habicht, Frührentner und leidenschaftlicher Initiator von Pauschalreisen in südliche Gefilde, tritt zu einem verlassenen Tisch, um mit einem halb leeren Bierglas in der Hand zurückzukehren. »Und du?«

    »Ach, ich …« Theo Tonseidel lächelt geheimnisvoll und schnuppert an seinem Wodka. »Ich feiere so eine Art Jubiläum.«

    »Hochzeitstag?«

    »Nein, den vergesse ich immer. Heute vor einem Jahr habe ich mich entschlossen, in die Politik zu gehen. Hier in diesem Lokal.«

    »Ich dachte, Rainer hätte dich überredet.«

    »Hat er auch. Trotzdem musste ich mich ja dazu entschließen, nicht wahr? Und siehe da, nach ein, zwei Gläschen Wodka war sie gefallen, die Entscheidung.« Er gluckst vor Vergnügen.

    Bruno Habicht wirft ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. So sehr er seinen Parteifreund auch schätzt: In diesem Moment kommt ihm Theos Gesichtsausdruck reichlich unbedarft vor. »Das ist wirklich ein Grund zum Feiern«, murmelt er.

    Einen Moment lang herrscht Stille. Auch Theo Tonseidel beäugt seinen Tresennachbarn heimlich. Habicht hat schon einmal besser ausgesehen, findet er. Weniger müde, weniger abgespannt. Treibt der Kerl keinen Sport mehr? Woher stammen die Ringe unter seinen Augen, die Flecken auf seiner Haut? Er hält sich sogar schlechter als sonst. Liegt der letzte Mittelmeerurlaub schon so lange zurück? Kaum zu glauben, dass es sich bei diesem Mann um den fittesten Ruheständler der ganzen Stadt handeln soll.

    »Sag mal, Bruno: alles in Ordnung mit dir?«

    »Sicher. Wieso fragst du?«

    »Gesundheitlich auch? Ich meine ja nur.«

    »Na, klar. Prost, Theo.«

    »Prost.«

    Sie trinken. Habicht einen großen Schluck Bier, der Bürgermeister eine winzige Portion Wodka. Rau und abweisend hat die Stimme des Frührentners geklungen. Seine wässrigen, geröteten Augen fixieren die Wand hinter dem Ausschank.

    »Ja, wer hätte das gedacht?«, murmelt Theo, den es zurück zu seinen angenehmeren Erinnerungen zieht. »Wer hätte gedacht, dass es manchmal so schnell geht? Da entschließt du dich, ein bisschen Politik zu machen, einfach so, bloß aus Interesse – und ein paar Monate später bist du Bürgermeister. Wenn mir das vor einem Jahr einer gesagt hätte! Und heute kann ich es mir nicht mehr anders vorstellen. Nichts gegen Versicherungen, aber so ist es besser.« Er lacht ein fröhliches Jungenlachen. »Wenn das kein gutes Jahr war, dann weiß ich nicht. Ein verdammt gutes Jahr.«

    Von links kommt keine Antwort. Theo Tonseidel gönnt sich einen weiteren Schluck Wodka, bevor er einen vorsichtigen Seitenblick auf seinen Parteifreund riskiert. Was er sieht, erschreckt ihn.

    Bruno Habicht, knorrig und kantig, kämpft mit den Tränen. Beim Versuch, sie zu unterdrücken, läuft es wie Stromstöße durch sein Gesicht.

    »Ich möchte einen Verlust melden«, sagte die Frau mit der mühlradgroßen Brille und dem dauergewellten Haar.

    Polizeiobermeister Rainer Schaffrath sah kurz auf und nickte der Besucherin zu. Danach widmete er sich seiner Arbeit wieder mit dem gebührenden Eifer. So ein Lottoschein füllte sich schließlich nicht von selbst aus. Vor allem nicht, wenn man die Kombination jede Woche änderte, um Wiederholungen zu vermeiden.

    »Ich möchte einen Verlust melden«, tönte es erneut und mit Nachdruck durch die Wachstube.

    Der Polizist spitzte die Lippen, während er ein Kreuzchen in das Feld mit der 7 setzte. Jetzt die 15? Oder die 18? Eine hohe Zahl sollte auch dabei sein. Und zum Abschluss vielleicht eine Schnapszahl: die 33? Er leckte angelegentlich über seinen Daumen, dann legte er den Lottoschein auf den Postausgangsstapel.

    »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er und zeigte auf einen freien Stuhl.

    »Danke«, erwiderte die Frau, ohne sich zu rühren. Sie war siebzig. Oder achtzig, wer wusste das schon. Ihr stechender Blick wurde durch die violette Tönung ihres Brillenmonstrums kaum gemildert. Schwungvoll gezogene Brauenbögen signalisierten Aufmerksamkeit. Zum hochgeschlossenen Jäckchen in Ocker trug sie ein sandfarbenes Halstuch sowie karierte Leinenhosen. Sie verströmte einen süßlichen Geruch, der Schaffrath an seine Mutter erinnerte. Die hatte sich jeden Morgen mit so etwas Ähnlichem übergossen, bevor sie dement wurde. Danach auch.

    »Einen Moment bitte«, sagte er und stemmte seinen schweren Körper aus dem Bürostuhl. Irgendwann würde er sie beantragen: eine Fernbedienung, um die Fenster zu öffnen. Oder gleich ein vollautomatisches Belüftungssystem, das auf die Ausdünstungen seiner Besucher reagierte. Seufzend betätigte er den Hebel und stellte ein Fenster auf Kipp. Sog frische Frühlingsluft ein, genoss den Anblick der sanft schwingenden Baumkronen im Rupert-von-Greiffen-Park. Einen Verlust wollte die Alte melden. Kein Problem, für Verluste gab es eine Liste. Annähernd offiziell, von Statistiken untermauert. Was verlor die durchschnittliche Wolckensteinerin schon? Ihren Golf Cabrio, ihren Gatten, ihre EC-Karte. Der Golf war geklaut, der Gatte getürmt, die EC-Karte vom getürmten Gatten mitgenommen. Intern kursierte noch eine zweite Liste möglicher Verluste: das Gedächtnis, die dritten Zähne, die Unschuld.

    »Was haben Sie denn verloren?«, fragte Schaffrath, an seinen Platz zurückkehrend.

    »Meinen Dackel.«

    »Ach.«

    »Ein acht Wochen alter Welpe, goldenes Fell. Für eine alte Frau wie mich ein Seelentröster in schwerer Zeit.«

    »Das tut mir leid.« Schaffrath vermied Blickkontakt. Er wollte nicht Zeuge werden, wie die Brillengläser der Alten beschlugen. Ihre Stimme allerdings hatte sich nicht verändert, klar und bestimmt klang sie durch den kleinen Raum.

    »Er hieß Falstaff, Herr Schaffrath. Mit drei F.«

    »Woher kennt sie meinen Namen?«, schoss es dem Polizeiobermeister durch den Kopf. Namensschilder hatte es in diesem Büro noch nie gegeben. Wolckensteiner, die ihn kannten, kannte er auch. Diese Frau aber war ihm fremd. Laut sagte er: »Und Sie hoffen nun, die Polizei könnte Ihnen bei der Wiederbeschaffung Ihres Hundes helfen?«

    »Nein.«

    »Nein?«

    »Es geht nicht um Wiederbeschaffung, Herr Schaffrath, sondern um Prävention. Um das Vermeiden weiterer Verluste. Mein Dackel ist ertrunken.«

    Schaffrath schwieg.

    Die alte Dame setzte sich immer noch nicht. Vielleicht genoss sie es, auf den schwerfälligen Beamten herabzublicken, oder sie war pensionierte Lehrerin, die nie anders als im Stehen unterrichtet hatte. Ihre beringte Hand spielte mit dem Knauf eines schwarz glänzenden Stocks. »Ich hatte drei Welpen«, sagte sie. »Drei Welpen eines Wurfs, Herr Schaffrath. Hamlet, Lear und Falstaff, einer hübscher als der andere. Heute früh ging ich mit ihnen am Greiffenweiher spazieren, wie so oft. Wir waren ganz alleine, meine Hundchen und ich. Keine Spaziergänger, keine Köter, die uns erschrecken könnten. Sie kennen das Gelände, nicht wahr?«

    »Sicher.«

    »Ich ließ die drei also von der Leine und sah ihnen zu, wie sie herumtollten. Natürlich hatte ich sie nicht alle zu jedem Zeitpunkt im Blick. Ich bin eine alte Frau und nicht mehr so fix auf den Beinen. So kam es, dass ich kein Augenzeuge von Falstaffs tragischem Unglück wurde. Ich hörte nur ein Geräusch, wie das Klatschen auf Wasser, dann war mein Welpe verschwunden.«

    »Er ist ins Wasser gefallen«, nickte Schaffrath und kontrollierte mit einem Seitenblick die Zahlen auf seinem Lottoschein.

    »Unsinn«, schnaubte die Frau und stieß ihren Stock so heftig auf den Boden, dass der Polizeiobermeister zusammenfuhr. »Sie sind klein, aber das hatten sie bereits gelernt, alle drei: dass man nicht in den Weiher springt. Außerdem können Hunde schwimmen, auch kleine. Nein, Herr Schaffrath, Falstaff wurde Opfer eines Fisches, und deshalb bin ich hier.«

    »Eines Fisches? Sie denken an einen Karpfen?«

    Die Dame stand stocksteif vor dem Polizisten, nur ihre Nasenflügel bebten. »Entweder«, presste sie zwischen dünnen Lippen hervor, »Sie haben keine Ahnung von Fischen, oder Sie nehmen mich nicht ernst.«

    »Nein, nein, Frau …«

    »Pestalozzi. Ich wohne beim Rupert-von-Greiffen-Park. Sie sollten wissen, dass Karpfen nicht zu den Raubfischen zählen. Außerdem sind sie viel zu schwach. So leicht ist es nun auch wieder nicht, einen Welpen unter Wasser zu ziehen.«

    »Eben.«

    »Was meinen Sie mit: eben?«

    Schaffrath zuckte die Achseln. »Seien Sie mir nicht böse, aber: Gesehen haben Sie nicht, wie Ihr Hund ins Wasser gezogen wurde, von wem oder was auch immer?«

    Frau Pestalozzi räusperte sich und verlagerte das Gewicht ihres Körpers fast unmerklich vom einen auf das andere Bein. »Sie gefallen sich wohl in der Rolle des ungläubigen Thomas? Sie steht Ihnen nicht, Herr Schaff- rath, lassen Sie sich das gesagt sein. Erstens: Ich weiß, dass meine Hundchen nicht einfach so ertrinken. In dieser Hinsicht sind sie intelligenter als mancher Mitbürger. Zweitens: Ich habe Erkundigungen eingezogen. Es gibt Fische in unseren Gewässern, die Landsäugetiere jagen. Raubfische, verstehen Sie? Große Raubfische.«

    »Hechte«, nickte der Polizeiobermeister. Unkenntnis in Sachen heimischer Fauna wollte er sich auf keinen Fall nachsagen lassen. »Im Greiffenweiher gibt es aber keinen Hecht.«

    »Kein Hecht, Herr Schaffrath. Ein Wels.«

    »Ein Wels? Sind Sie sicher?«

    »Wie gesagt, ich habe mich erkundigt: bei Mitgliedern des Angelvereins. Drei Personen haben mir unabhängig voneinander die Existenz eines solchen Fisches bestätigt. Und dass Welse alles fressen, was ihnen vors Maul kommt, weiß jedes Kind.«

    Unruhig rutschte Schaffrath auf seinem Stuhl hin und her. »Ich weiß nicht, Frau Pestalozzi. Glauben Sie wirklich, dass ein Wels – vorausgesetzt, es gibt einen im Greiffenweiher – Jagd auf einen am Ufer spielenden Hund macht?«

    »Um Glauben geht es hier nicht«, lautete die scharfe Antwort – so scharf, dass Schaffrath von einer neuen Wolke Altedamenparfüms umweht wurde. »Es geht um Fakten. Und Fakt ist nun einmal, dass Falstaff ertränkt wurde, dass nur ein Raubfisch dafür in Frage kommt und dass drei Experten unabhängig voneinander auf einen Wels tippen. Ich habe mir ihre Namen notiert. Der Vorsitzende des Angelvereins bestreitet übrigens die Existenz eines Welses im Greiffenweiher, aber das wundert mich nicht. Schließlich habe ich ihm gesagt, dass ich mir rechtliche Schritte vorbehalte.«

    »Wegen eines Fisches?«

    »Wegen der Gefahren für die Bevölkerung. Sollen weitere Hundebesitzer ihre Lieblinge verlieren? Sollen kleine Kinder von dem Biest angegriffen werden? Die Angler stehen in der Pflicht, für Sicherheit zu sorgen. Ich habe einen exzellenten Anwalt: jung, aber gut erzogen. Sollten wir Anzeige erstatten, dann auf der Grundlage eines ausführlichen Protokolls. Deshalb bin ich hier.«

    Der Polizeiobermeister blickte sie fragend an.

    »Worauf warten Sie, Herr Schaffrath? Ich fordere Sie auf, meine Aussagen schriftlich festzuhalten.« Sie rückte einen Stuhl vor den Schreibtisch des Polizisten und setzte sich. »Also, fangen wir an. Dieser Wels ist eine Gefahr für Wolckenstein.«

    Da wir gerade von Wolckenstein reden: Nehmen wir einmal für einen kurzen, hypothetischen Moment an, der Rest der Menschheit würde sich, aus welchen Gründen auch immer, für unsere Stadt und ihre Bewohner interessieren. Nehmen wir an, ein renommiertes Meinungsforschungsinstitut bekäme den Auftrag, seine besten Leute nach Wolckenstein zu schicken, um der Bevölkerung eine schlichte Frage zu stellen: »Sind Sie mit der Arbeit des neuen Bürgermeisters zufrieden?« Wie würde die Antwort wohl lauten?

    Nun, in den meisten Fällen bekämen die Meinungsforscher ein zögerndes Ja zu hören. Zögernd, weil viele der Befragten gar nicht bemerkt hatten, dass sich an der Spitze ihrer Stadt ein Machtwechsel ereignet hatte; Ja, weil innerhalb des letzten halben Jahres kein größerer Skandal im Zusammenhang mit dem Bürgermeister – sei er nun der alte oder der neue – ruchbar geworden war. Aus Sicht der meisten Wolckensteiner hatte sich so gut wie nichts geändert, seit ein gewisser Theo Tonseidel die Nachfolge eines gewissen August Probst angetreten hatte.

    »Mir ist egal, wer uns regiert«, pflegte zum Beispiel Wolfhard Menge, der Nachbar der Tonseidels, zu sagen, und seine Frau nickte im Takt dazu. »Mir ist das völlig schnuppe, korrupt sind sie alle. Dass da oben nun der Tonseidel sitzt, meinetwegen. Aber auf eines kann er sich gefasst machen: Sobald es einen Anlass zur Beschwerde gibt, steht der alte Menge bei ihm auf der Matte und zieht ihm persönlich die Ohren lang.«

    »Genau«, sagte Frau Menge.

    Auch in den Augen anderer Wolckensteiner, des Gärtners Sebastian Klopp und der Lehrerin Konstanze Hollerieth etwa, blieb alles beim Alten. Während Klopp bezweifelte, dass sich der neue Amtsinhaber intensiver um Umweltbelange kümmern werde als sein Vorgänger, fand es Frau Hollerieth zwar reizvoll, die Tochter des Bürgermeisters unterrichten zu dürfen, gleichzeitig aber befürchtete sie, Mira Tonseidel werde der Ansehensgewinn zu Kopf steigen. Dass sich kommunalpolitisch etwas ändern könnte, glaubten beide nicht. Die Frage war eher, ob sich in Wolckenstein je etwas ändern würde. Nein, mochte die Hülle gewechselt haben, der Inhalt blieb der gleiche.

    Für jemanden wie Anita Hofmann dagegen war die Hülle das Entscheidende. Wir leben nur in unseren Rollen – diesen Satz aus ihrer Schauspielausbildung hatte sie verinnerlicht. Und welche Rolle war attraktiver als die von Männern in Führungspositionen? Othello, Wallenstein, Danton – solchen Typen verfiel Anita mit Haut und Haar. Selbst der dicke Probst hatte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Nicht obwohl, sondern weil er so machtbewusst, rücksichtslos und unverfroren war. Und weil er irgendwann tot umfiel, denn ein bisschen Tragik gehörte dazu. In Theo Tonseidel, seinem Nachfolger, hätte sie sich fast getäuscht. Erst hatte sie ihn für einen netten Schlappschwanz gehalten: ungeschickt und ein wenig hilflos, auf geradezu erschreckende Weise ohne Tücke. Seine Krawattenwahl sprach Bände. Doch dann hatte derselbe Schlappschwanz das Machtzentrum Wolckensteins gestürmt und sämtliche Parteihyänen ins zweite Glied verwiesen. Wie ihm dieser Coup gelungen war, blieb Anita Hofmann ein Rätsel; aber er hatte ihr imponiert. Seither beobachtete sie den Bürgermeister ihrer Heimatstadt auf ihre eigene Weise, aus halbgeschlossenen Lidern sozusagen. Und siehe da: Theo Tonseidel hatte etwas. Etwas Besonderes. Eine Mischung aus Unschuld und Hundedreck, so nannte sie es. Und es gefiel ihr. Diesen Mann würde sie sich warm halten.

    Zu einem ganz ähnlichen Urteil, wenn auch anderem Vokabular, kam Annekatrin Jörges. Die Vorsitzende der SPD-Gemeinderatsfraktion sah in Theo Tonseidel ein willfähriges Objekt ihrer Pläne und ein sympathisches dazu. Aus diesem Grund hatte sie ihn höchstpersönlich zum Kompromisskandidaten der zerstrittenen Demokratischen Mitte erkoren. Bürgermeister Tonseidel, so ihr Kalkül, würde entweder konstruktiv mit der Opposition zusammenarbeiten, oder er würde an Unbedarftheit und Selbstüberschätzung scheitern. Man würde sehen.

    Bislang hatte es jedenfalls keinen Grund zur Klage gegeben. Der neue Bürgermeister war kein Volkstribun wie sein verstorbener Vorgänger, sondern dröge und manchmal etwas fahrig, aber er nahm seine Aufgabe ernst. Zum Amtseinstand hielt er eine längere Rede, an deren Wortlaut sich Annekatrin Jörges zwar nicht mehr erinnern konnte, die sie jedoch als unbestimmt angenehm empfunden hatte. Theo hatte nicht einmal ein Manuskript benutzt (er hatte es zuhause neben der Dusche liegen lassen). In Sitzungen beschränkte er sich auf eine moderierende Rolle und überließ den Referenten und Ausschussmitgliedern das Wort. Natürlich hatte er auf einigen Feldern Nachholbedarf – »Für wie viele Jahre bin ich nun gewählt?«, fragte er einmal in kleiner Runde –, dafür bewies er bei finanziellen und juristischen Themen seine Kompetenz. Dass er seinen Urlaub nicht parallel zum Wolckensteiner Schützenfest legen durfte, würde er schon noch lernen. Die Sekretärin des Bürgermeisters schwärmte jedenfalls schon bald von ihrem neuen Chef, und das war so ziemlich der Gipfel der Anerkennung, den ein Stadtoberhaupt erklimmen konnte.

    In den ersten Monaten seiner Amtszeit prägten politische Alltagsentscheidungen Theos Arbeit. Die Erschließung des Gewerbegebiets im Wolckensteiner Westen wurde in die Wege geleitet, diejenige des Neubauprojekts Bernbach Nord weitergeführt. Es gab Beschlüsse zu stadteigenen Wohnungen, zur Friedhofsordnung und zu den Öffnungszeiten des Hallenbades. Die Verkehrsprobleme im Stadtzentrum wurden erörtert, Entscheidungen darüber vertagt. Überraschend häufig fiel während der Sitzungen der Name Helmut Junkerath – überraschend zumindest für den neuen Bürgermeister. Junkerath, wichtigster Arbeitgeber Wolckensteins und Mitglied der Demokratischen Mitte, prägte aufgrund seiner finanziellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Position so gut wie jede kommunalpolitische Diskussion, ohne sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Wer war von einer geänderten Verkehrsführung im Stadtzentrum mitbetroffen? Die Walter Junkerath GmbH. Wer hatte die Begrünung des städtischen Kindergartens gestiftet? Helmut Junkerath höchstselbst. Das neue Gewerbegebiet, die Abwassergebührenerhöhung, der kommunale Haushalt – immer war Junkerath, privat oder als Unternehmer, Teil des Problems und nicht selten dessen Lösung. Sogar zur Friedhofsordnung äußerte er sich in einem ausführlichen, sehr persönlich gehaltenen Brief, wie er überhaupt Briefe leidenschaftlich gern zu schreiben schien: Da das Grab seiner Eltern in jenem Teil des Friedhofs liege, der neu gestaltet werden solle, bitte er aus Gründen der außerordentlichen Verbundenheit seiner Familie mit Wolckenstein zu bedenken … und so weiter. Theo Tonseidel beeindruckte der Einsatz dieses mächtigen Mannes, wenn es um eine so sentimentale Angelegenheit wie das Erscheinungsbild einer Grabstelle ging, und er fühlte sich sehr erleichtert, als der Gemeinderat beschloss, die Umgestaltung des Friedhofs zu überdenken.

    Bei einem anderen Thema hatte Theo äußerstes Fingerspitzengefühl gezeigt – und das, ohne es auch nur im Geringsten zu ahnen. Es war ihm nämlich gelungen, mit dem Zahnarzt Willi Weingart einen der größten Skeptiker seiner Fraktion auf Linie zu bringen. Nach einer Sitzung zu Beginn der Legislaturperiode hatte man sich im Ritterkrug getroffen und die Lage erörtert. Die gesamte Mannschaft der Demokratischen Mitte war anwesend und schaute mehr oder weniger hoffnungsvoll in die kommunale Zukunft. Weingart, neben Theo sitzend, nörgelte an diesem und jenem herum, gab dem Bürgermeister en passant einige gute Ratschläge und kam zuletzt auf sein Leib- und Magenthema zu sprechen: die Kultur. Niemand hörte ihm zu, ausgenommen Theo Tonseidel.

    »Kulturell«, dozierte Weingart, »gibt es Defizite in Wolckenstein. Krater der Untätigkeit! Kariöse Löcher im Gebiss der Kultur, falls du mir diesen Ausdruck gestattest.« Sie duzten sich seit kurzem. »Immer wieder lag ich August in den Ohren, etwas zu unternehmen, und was hat er unternommen?«

    »Nichts?«, riet Theo. Er war kein ausgesprochener Freund Weingarts, doch vor dessen rhetorischem Feuerwerk ging er gedanklich immer ein wenig in die Knie.

    »Nichts, allerdings. Dabei ist Kultur eine Investition in die Zukunft! Weißt du, was unserer Stadt gut anstünde? Ich sage es dir, in aller Freundschaft« – auch Weingart war nicht unbedingt ein Freund des Bürgermeisters – »in aller Freundschaft, Theo: eine Kulturagenda. Das ist es, was wir bräuchten. Einen exakten Fahrplan, was, wann, wo. Und in welcher finanziellen Höhe natürlich, das vor allem. Wie soll es mit Wolckenstein kulturell weitergehen? Wo wollen wir in zehn Jahren stehen?« Innig zwirbelte der Zahnarzt seine Fliege, horchte den eigenen schönen Worten nach und erwartete demutsvoll eine jener Politikerfloskeln, mit denen ihn seine Parteikollegen seit Jahren klein hielten: Guter Vorschlag, Willi, aber du weißt ja, das liebe Geld … Wir als Demokratische Mitte haben es uns schon immer zur vordringlichen Aufgabe gemacht, das kulturelle Leben der Stadt … Inwiefern das politisch durchsetzbar ist, müssen wir sehen … Er kannte sie auswendig, diese Floskeln.

    Diesmal allerdings bekam Willi Weingart nichts dergleichen zu hören. Neben ihm setzte Theo Tonseidel sein Glas ab, schaute ihn verblüfft an und sagte: »Eine Kulturagenda! Das ist ja eine prima Idee. Das machen wir!«

    »Wie bitte?«, fragte der Zahnarzt zurück, noch um ein Vielfaches verblüffter als sein Tischnachbar. Fast hätte er sich an den frittierten Garnelenschwänzen verschluckt, die er sich als Belohnung für seinen ebenso ausgefeilten wie folgenlosen Vortrag gegönnt hatte. »Das machen wir?«

    »Aber natürlich. Warum sind wir nicht früher darauf gekommen? Wärst du bereit, den Vorsitz bei der Ausarbeitung dieser Agenda zu übernehmen?«

    Nach einem langen Moment des Schweigens, in dem ihm die Bedeutung von Theos Ansinnen klar wurde, wäre Willi Weingart dem Bürgermeister beinahe um den Hals gefallen. Ob er bereit wäre? Ob er übernähme? Was für Fragen! Vor lauter Aufregung trank er sein Glas Colli Abbiani auf einen Zug leer und fühlte sich beschwingt und zukunftsfroh wie nie zuvor.

    Seither hatte Theo Tonseidel einen weiteren treuen Vasallen an seiner Seite – und Willi Weingart eine Aufgabe, die all seine Kräfte beanspruchte, ohne dass irgendein Politiker der Stadt zu irgendeinem Versprechen, zu irgendeiner Handlung verpflichtet würde. Nicht in dieser und nicht in einer der kommenden Legislaturperioden. Eine ganze Reihe von Parteikollegen gratulierte dem Bürgermeister zu seiner taktischen Meisterleistung.

    »Moment«, widersprach Theo irritiert. »Willis Idee gefällt mir wirklich gut.«

    Ebenfalls auf breite Zustimmung stieß die Sparpolitik des Bürgermeisters. Die fetten Jahre öffentlicher Ausgaben sind vorbei, hieß es fast einhellig unter den Mitgliedern der Demokratischen Mitte, als deren Wortführerin sich die resolute Frau Mutzel aus Roth erwies. Und nur die Aufgewecktesten, diejenigen, die schon immer das Gras hatten wachsen hören, gaben der Vermutung Raum, dass die Rede von den fetten Jahren etwas mit der Leibesfülle des verstorbenen Amtsinhabers zu tun hatte. Selbst die Opposition unterstützte insgeheim den haushälterischen Konsolidierungskurs, was sie in der Öffentlichkeit natürlich bestritt. Vorsorglich erstellten Annekatrin Jörges und ihre rechte Hand Hieronymus Gottwalt eine Liste der einschneidendsten Kürzungsmaßnahmen, deren soziale Unausgewogenheit sie Wolckensteins Regierenden bei Bedarf um die Ohren hauen wollten. Und zwar mit Schmackes, wie Gottwalt formulierte.

    »Mir ist egal, wer von denen den Oberboss spielt«, sagte Herr Menge, der Nachbar der Tonseidels. »Aber wenn sie an meine Ersparnisse wollen, müssen sie persönlich vor mich hintreten und es mir sagen. Auge in Auge, Mann gegen Mann. Und ich werde bewaffnet sein!«

    Seine Frau nickte.

    »Enteignen«, sagte Herr Menge, »lasse ich mich nicht. Ich nicht!«

    Seine Frau nickte. Sie hatte gut nicken; das Haus gehörte ihr.

    Und worüber wurde in diesen Tagen im Hause des Bürgermeisters gesprochen?

    »Ich möchte nicht penetrant sein, Theo«, sagte Gabi Tonseidel, »aber hast du Bertram das Geld nun überwiesen oder nicht?«

    »Das Geld?«, gab ihr Mann zurück und ließ die aufgeschlagene Zeitung einen Zentimeter sinken. »Bertram?« Nächster Zentimeter. Die in Falten gelegte Bürgermeisterstirn, die über der Zeitung sichtbar wurde, ließ auf intensives Nachdenken schließen.

    Oder worauf sonst?

    »Bitte, Theo, zieh nicht schon wieder diese Mein-Name-ist-Hase-Miene. Du weißt genau, wovon ich rede. Und du weißt, dass ich immer wieder nachfragen werde.«

    Die Stirn des Zeitungslesers glättete sich nicht. Obwohl die Sache klar war, Hase hin oder her. Gabi sprach von Bernbach Nord, dem Neubauprojekt. Ein heikles Thema: weites Feld, vermintes Gelände. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Wenn das Vorhaben überhaupt Sprengkraft besaß, dann alleine für den Bürgermeister. Dieser nämlich war doppelt in die Sache involviert, privat wie politisch. Als Ehemann einer Frau, deren beste Freundin im Auftrag ihres Bruders Investoren zusammentrommelte, hatte er einem finanziellen Engagement zugestimmt – beziehungsweise hatte sich nicht dagegen gewehrt, sondern gehofft, das Thema werde sich bald als obsolet erweisen, einfach in sich zusammenfallen und irgendwann verschwunden sein, was natürlich nicht geschah. Als Stadtoberhaupt hingegen zeichnete er für die letzten Entscheidungen und Korrekturen an dem Bauprojekt verantwortlich. Eine geradezu klassische Gemengelage von Interessen, die Theo Magengrimmen bereitete. Das musste Gabi doch einsehen!

    »Mag sein«, hatte sie erwidert. »Trotzdem glaube ich, dass es an etwas anderem liegt. Du magst Bertram nicht. Du misstraust ihm.«

    »Aber keineswegs«, hatte Theo abgewehrt, und das war glatt gelogen.

    Diesem Bertram Kunz, Irene Brückles Bruder, trauten in der Tat nur die Wenigsten über den Weg. Theo Tonseidel gehörte nicht zu ihnen. Bertrams Eltern hatten aus dem Jungen einen Musterknaben machen wollen, und er war das Gegenteil geworden. Schulabbrecher, Abiturnachholer, Gelegenheitskiffer, Frauenschwarm, Tantenbetörer, Studienabbrecher. Ein echtes Schlitzohr, dieser Bertram Kunz. Wie so einer über die Runden kam, war der Gegenstand zahlreicher Wolckensteiner Kaffeekränzchen. Sicher, er hatte jahrelang in Musik gemacht. Was auch immer das hieß. Aber konnte man davon leben? Von der Sängerin seiner Band sollte er ein Kind haben. Ein abgetriebenes, sie wollten es ja nicht behalten. Was das kostet! In Indien war er auch, ein ganzes Jahr lang. Und das Verrückte: Er kam als derselbe zurück, als der er gegangen war. Spätestens da sagten sich seine Eltern von ihm los. Und wer sorgte jetzt für ihn? Wer hielt ihn über Wasser, wenn er mal wieder Schiffbruch erlitten hatte? Seine Schwester. Weiß der Himmel, was die für einen Narren an dem Kerl gefressen hat!

    Nun, vielleicht wusste es der Himmel; Irene wusste es jedenfalls nicht. Manchmal, in einer dieser eisklaren Stunden, dämmerte ihr, dass sie gerne ebenso verrückt und verantwortungslos wäre wie Bertram. Nicht auf Dauer, aber hin und wieder, vielleicht einen Nachmittag lang. Doch das war sie nicht. Sie war in jeder Hinsicht das Gegenbild ihres Bruders: ängstlich, vernünftig, ordentlich, brav. Und gerade deshalb hielt sie weiter zu ihm. Für ihn war sie das ideale Opfer.

    Eine solche Haltung empfanden die meisten als schwesterlichen Masochismus. Allen voran Irenes Mann Pierre, der jeder Minute, jedem Euro, die für Bertram aufgewendet wurden, hinterhertrauerte. Verlorene Zeit, verlorenes Geld, verlorene Liebesmüh! So einer besserte sich nicht – eine Einschätzung, die er mit Theo Tonseidel teilte. Wenn jemand Verständnis für Irene aufbrachte, dann ausnahmslos Vertreter ihres eigenen Geschlechts. »Ja, er ist ein Windhund«, hieß es unter den Wolckensteiner Damen, die nähere Bekanntschaft mit Bertram Kunz gemacht hatten. »Aber seine Augen!« Und Gabi Tonseidel wusste die männliche Ignoranz mit einer Gegenoffensive auszuhebeln.

    »Ich weiß schon«, sagte sie zu ihrem Gatten. »Du bist eifersüchtig auf Bertram, richtig?«

    »Na, hör mal!«, lachte Theo. »Jetzt geht die Fantasie mit dir durch!«

    Auch das war eine Lüge. Natürlich barsten die Wolckensteiner Platzhirsche vor Eifersucht, sobald Bertram Kunz einen seiner seltenen Streifzüge durch ihr Revier unternahm. Selbst Theo Tonseidel, der solche Gefühle aus Trägheit gewöhnlich mied, machte da keine Ausnahme. Musste er doch feststellen, dass seine Frau noch jeden Fehltritt Bertrams entschuldigt hatte. Dass sie ihm Dinge verzieh, die sie anderen Männern – ihrem Mann, ihrem Sohn, Pierre Brückle – nie hätte durchgehen lassen. Weil Bertram Kunz ein Windhund war? Weil er so schöne Augen hatte? Oder beides? Theo wusste es nicht. Er wusste nur, dass er Gabi gerne ins Schlafzimmer gesperrt hätte, wenn es hieß: Der Kunz ist wieder im Land.

    Pierre Brückle brauchte solche Vorsichtsmaßnahmen nicht zu ergreifen, schließlich waren Bertram und Irene Geschwister. Trotzdem schrillten auch bei ihm regelmäßig die Alarmglocken. Er konnte ja schlecht die gesamte weibliche Wolckensteiner Bevölkerung unter dreißig vor seinem Schwager warnen, selbst wenn er es gerne versucht hätte. Und was seine Frau betraf, so war es nur zu offensichtlich, dass Bertram an ihr Geld wollte. Diesem Zweck allein dienten seine spinnerten Ideen.

    »Du täuschst dich«, widersprach Irene. »Bertram ist ein kreativer Kopf, das war er schon immer. Leute wie er setzen hin und wieder was in den Sand.«

    »Hin und wieder? Dass ich nicht lache!«

    »Was soll das?«, fuhr Irene auf. »Behaupte bloß nicht, du wärst ein Unschuldsengel, der stets das Richtige tut!«

    »Zumindest habe ich kein minderjähriges Bandmitglied geschwängert.«

    »Sie war nicht minderjährig!«

    »Aber sie sah so aus.«

    Ein Teller kam geflogen. »Wenigstens hat er sie geschwängert!«, schrie Irene ihm hinterher. Und im Hinausrennen rief sie noch: »Du kannst so ein selbstgerechter, mieser Kerl sein, Pierre! Nur weil Bertram ein paarmal Mist gebaut hat, willst du ihm jetzt keine Chance mehr geben.«

    »Genau«, nickte ihr Mann und betrachtete nachdenklich die Scherben.

    Diese Auseinandersetzung im Hause Brückle lag geraume Zeit zurück. In der Folge trieb es Bertram nicht mehr ganz so bunt. Auch ein Windhund wurde älter. Oder er sorgte sich um das Geschirr seiner Schwester. Jedenfalls lief eines Tages die Kunde durchs Dorf, der junge Kunz mache wieder in Musik und mit Musik sogar Kohle. Im Rupert-von-Greiffen-Park sollten bekannte Künstler ein Open-Air-Konzert geben, veranstaltet von der Bertram Kunz Promotion Agentur. Zu aller Erstaunen fand das Konzert statt. Und wie es stattfand! Rings um den Park klirrten die Fensterscheiben, Sonnenblumen ließen die Köpfe hängen, Haustiere wurden krank. Aber die Stimmung war großartig, hieß es. Leider ging die Bertram Kunz Promotion Agentur mit diesem Ereignis pleite, wegen der bekannten Künstler und der geborstenen Scheiben. Kein Problem, Bertram gründete eine neue Agentur oder etwas in der Art, deren Name man sich nicht zu merken brauchte, weil sie noch früher Insolvenz anmeldete als die alte. Aber war das nicht der übliche Gang der Marktwirtschaft? Das Sprießen und Verwelken von Geschäftsideen, die kapitalistische Evolution? Und war Bertram Kunz nicht plötzlich Teil dieser Entwicklung? In der Tat, mit etwas gutem Willen konnte man den Eindruck gewinnen, der Mann pflege in letzter Zeit zu arbeiten.

    »Arbeiten, haha«, sagte Theo Tonseidel. »Wenn das Arbeiten ist, dann bin ich Galeerensklave.«

    »Er hat mir sein Adressbuch gezeigt«, erwiderte Gabi. »Es ist imposant. Ich habe noch nie so ein dickes, dickes Adressbuch gesehen, das kannst du mir glauben. Komplett vollgeschrieben mit Namen und Telefonnummern. So viele Leute werde ich niemals kennen lernen, und wenn ich noch hundert Jahre lebe.«

    »Er wird das Telefonbuch klein kopiert haben«, mutmaßte Theo.

    Das Konzert im Park hatte die Wolckensteiner in jeder Hinsicht aufhorchen lassen, aber erst mit dem Underground gelang Bertram der lang ersehnte Imagewechsel. Beim Underground handelte es sich um einen stillgelegten U-Bahnhof in Berlin Mitte, der zum Tanzlokal umgebaut wurde. Eine tiefer gelegte Disko, lästerten die Berliner. Sollten sie lästern! Es war Irenes Bruder, der das Projekt erdacht, geplant und promotet hatte. Finanziert hatte er es nicht, wovon auch. Aber er hatte einen russischen Investor aufgetrieben, hatte eine kleine Privatbank zu einer gewissen Risikobeteiligung überredet und die ganze Chose in wahnwitzig kurzer Zeit durchgedrückt. Das Geheimnis war sein Adressbuch. In ihm tummelten sich jede Menge Leute, die auf seine Idee flogen: ein arbeitsuchender Architekt, Journalisten, Szenekenner, Musiker, Cafébetreiber und potentielle Gäste. Nur der Investor aus Russland stand nicht darin. Seinen Namen hielt Bertram geheim, er verriet ihn nicht einmal seiner Schwester. Den Einstieg des Bankhauses verdankte er einem alten Schulfreund, der zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle saß und die Finanzierung abnickte. Und so geschah das Unglaubliche: Als der Szeneschuppen öffnete, wurde er von der Szene regelrecht gestürmt. Bertram Kunz hatte den Nerv der Zeit zielgenau getroffen. Die Pächter strahlten, der Investor machte seinen Reibach, und Bertrams Schulfreund wurde von der Deutschen Bank mit einem Traumgehalt geködert. Irene Brückle legte ein Album mit Fotos und Zeitungsausschnitten an, das monatelang wie zufällig in ihrem Wohnzimmer herumlag.

    An diesem Erfolg musste sich seither messen lassen, was immer an kritischen Worten über Bertram Kunz fiel. Dass er seine Folgeprojekte wie gewohnt vermasselte: geschenkt. Dass es im Underground immer wieder Razzien gab; dass die Berliner Baubehörde einen Mitarbeiter und guten Freund Bertrams wegen angeblicher Schmiergeldzahlungen schasste: unerheblich. Von Belang war bloß, dass der Junge endlich seine Schulden bei Irene begleichen konnte. Und das tat er auch, zumindest indirekt, denn als echter Visionär lieh sich Bertram weiteres Geld bei ihr, das es ihm ermöglichte, eine neue Agentur zu gründen, größer und umsatzstärker als die alte, was seiner Schwester wiederum höhere Rückzahlungen mit höheren Zinsen in Aussicht stellte. Irene war begeistert.

    Und dann kam er mit dem Neubauprojekt Bernbach Nord an. Selbst für seine Schwester eine faustdicke Überraschung. Die geplante Siedlung hatte weder mit Musik noch mit irgendeiner Szene zu tun. Es ging bloß um ein schlichtes, funktionales und natürlich oberirdisches Bauvorhaben am Rande einer Wolckensteiner Gemeinde. Ein knappes Dutzend Mehrfamilienhäuser in Passivbauweise, viel Grün drum herum, gute Verkehrsanbindungen. Für ein Bertram-Kunz-Projekt war das ein ganzes Stück zu langweilig.

    Spannend war lediglich sein Finanzierungskonzept. Um die Gemeinde nicht über Gebühr zu belasten, plante Bertram die Beteiligung privater Investoren: Kleinanleger aus dem Wolckensteiner Raum, die ihr mühsam Erspartes und von der Wirtschaftskrise Bedrohtes nicht dem Finanzamt überlassen wollten. Ausländische Fonds waren out, heimatliche Sachwerte in. Global denken, lokal investieren! So lauteten die Schlachtrufe, die den Wolckensteinern seit einem Jahr aus Bertrams Hochglanzprospekten entgegenschallten. Wer wollte sich ihnen entziehen? Die Deutsche Bank saß schließlich mit im Boot, Bertrams Schulfreund hatte dafür gesorgt. Und sollte noch jemand Skepsis äußern, wurde er durch eine einzige Zahl eines Besseren belehrt.

    »25 Prozent Rendite?«, fragte Irene und schnappte nach Luft. »Ist das nicht ein bisschen hochgegriffen?«

    »Was soll die Frage?«, gab ihr Bruder verärgert zurück. »Da steht es doch, schwarz auf weiß. Drunter machen wir es nicht, die Deutsche Bank und ich. Das ist Ackermanns Philosophie. Wenn die Banker von meinem Projekt nicht überzeugt wären, hätten sie sich nie beteiligt.« Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Ob das zu hochgegriffen ist, fragt die mich!«

    Um als Bauträger auftreten zu können, hatte Bertram eine neue Firma gegründet. Nicht alleine, sondern – er schwenkte sein Adressbuch – zusammen mit zwei astreinen Typen, die Erfahrung und den richtigen Riecher mitbrachten. Auf jedem Gebiet, vor allem aber auf finanziellem. Die Akquise privater Investoren lag bei ihm. Zunächst jedenfalls.

    »Aber du kennst hier kaum jemanden«, wandte Irene ein.

    »Hauptsache, die Leute kennen mich«, entgegnete Bertram. »Wenn nur die Hälfte der Konzertbesucher von damals mitzieht, können wir ganz Bernbach mit Häusern zupflastern. Ich weiß, die Wolckensteiner sind eher verschnarcht, aber eine Handvoll Besserverdienende mit zackigem Steuerberater wird es doch geben.«

    »Ich könnte dir helfen«, sagte Irene zögernd. »Ein paar Bekannte ansprechen. Wenn ich das mache, sind sie vielleicht eher bereit …«

    »Das würdest du tun, Schwesterchen? Du bist wirklich ein Schatz!« Bertram drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Fang gleich damit an. Je eher wir die Truppe beisammen haben, desto besser. Wie steht es mit deiner Freundin Gabi und ihrem Mann? Das sind Doppelverdiener, die werden nicht ewig in Bundesschatzbriefe investieren wollen.«

    Irene nickte nachdenklich.

    In den folgenden Monaten mauserte sich Bertrams Schwester zu einer Anlageberaterin von ungeahnter Qualität. Lag es an ihrer einfühlsamen Art, dass sich die Wolckensteiner gleich reihenweise zu einer Beteiligung überreden ließen? Es musste wohl so sein. Irene galt von Natur aus als zuverlässig und ehrlich, und wenn ihr missratener Bruder auch nur einen Funken dieser Eigenschaften geerbt hatte, musste das Projekt ein Erfolg werden. (An die gegenteilige Möglichkeit, dass sich nämlich irgendwo im Körper der braven Irene Bertrams Windhundgen versteckte, dachte kaum jemand.) Vor allem aber ging sie in subtiler Weise auf die Wünsche und Eigenarten ihrer Gesprächspartner ein. Die meisten wollten von ihr hören, wie sicher und risikolos die Anlage sei. Also wurde ihnen mit den Stichworten Immobilien, Stabilität, Deutsche Bank, Ackermann gedient. Bei Ludger Ferchow, dem Chefredakteur des Wolckensteiner Echos, war es genau umgekehrt: Er biss erst an, als Irene meinte, einen gewissen Mut müsse man schon aufbringen. Für Weicheier sei die Sache nichts. Das Ehepaar Menge köderte sie mit dem Appell, etwas für ihre Heimatstadt zu tun, und Willi Weingart ließ sich durch die Rede von einer klassischen Investitionskultur überzeugen.

    Die letzten Einwände verstummten, als es hieß, auch der Bürgermeister von Wolckenstein sei unter den Anlegern. »So viel Chuzpe hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, sagte Ferchow und überlegte, wie sich diese Information pressetechnisch ausschlachten ließe. Weingart grinste nur maliziös, während Herr Menge entschied: »Wir machen trotzdem mit.« Die große Mehrzahl der interessierten Wolckensteiner aber schlief wesentlich ruhiger, seit sie sich in einer Risikogemeinschaft mit dem Stadtoberhaupt wusste.

    Davon konnte jedoch keine Rede sein. Theo Tonseidel war ein in vielerlei Hinsicht konservativer Mensch, auch in finanzieller. Auf Gabis Vorschlag, sich das mit Bernbach Nord zu überlegen, hatte er ausweichend reagiert. Da müsse er sich erst erkundigen. Das Für und Wider abwägen. Im Prinzip sollte ihm das nicht schwer fallen, schließlich saß er jetzt im Gemeinderat. Längst war das Bauvorhaben bewilligt, August Probst hatte Vorverträge unterschrieben, die Erschließung sollte zeitnah erfolgen, wie es hieß. Es ging nur noch um Kleinigkeiten: ein Gutachten hier, eine Genehmigung dort. Dann aber wurde Theo Bürgermeister und sah sich in der Klemme. Sollte er seinen Namen unter Verträge setzen, von denen er selbst in höchstem Maße profitierte? 25 Prozent! Das roch doch nach persönlicher Bereicherung. Meilenweit roch es, von seiner Wolckensteiner Amtsstube bis nach Bernbach, wenn nicht darüber hinaus. Also verlegte er sich gegenüber Gabi auf eine altbewährte Taktik: Abwarten, Hinhalten, Aussitzen.

    »Was hast du gegen Schatzbriefe?«, fragte er. »Oder so ein schlichtes, sauberes Tagesgeldkonto? Da sind wir auf der sicheren Seite.«

    »Auf der sicheren Seite«, erwiderte seine Frau, »wäre ich auch gerne. Wenn du Irene bei unserem nächsten Kaffeeklatsch erklärst, warum du Bertrams Projekt misstraust – bitte. Ich kann es nicht. Die Deutsche Bank ist dabei, ich meine, was willst du noch?«

    Ja, was wollte Theo eigentlich? Es sich mit keinem verscherzen, das wohl vor allem. Nicht nachgesagt bekommen, er nutze seine politische Stellung, um sich finanzielle Vorteile zu verschaffen. Bestimmt gab es jede Menge Wolckensteiner, die gerne investiert hätten, denen aber die Mittel fehlten. Sollten die bei jeder Veranstaltung mit dem Bürgermeister die 25-Prozent-Rendite in seinen Augen leuchten sehen? Er versuchte, Gabi das zu erklären, doch seine Einwände perlten an ihr ab wie frisches Wasser.

    »Irene ist meine beste Freundin«, sagte sie. »Der kann ich damit nicht kommen. Außerdem war das Projekt bereits in trockenen Tüchern, als du noch Versicherungen verkauft hast.«

    »So trocken sind die Tücher nun auch wieder nicht«, widersprach er halbherzig. »Was es da alles zu bedenken gibt!«

    In der Tat hatten die Grünen eine komplette Untersuchung des Erdreichs auf Schwermetalle gefordert. Quer durch alle Fraktionen gab es Zweifel an der Mietauslastung der Wohnungen, und in der Demokratischen Mitte mehrten sich die Stimmen, die einen größeren Anteil des Investors an den Kanalkosten verlangten. Notfalls müsse man eben die betreffenden Gesetze ändern. All das hätte er Gabi erzählen können. Sie hätte abgewinkt: Kleinkram! Würde das Projekt dadurch gestoppt? Nein, würde es nicht. Aber es könnte teurer werden als geplant, die Rendite sinken. Und da sollte er als Bürgermeister-Investor mitentscheiden, mitmauscheln, mitprofitieren? Er seufzte. Die Welt war manchmal verdammt unübersichtlich. Sogar sein kleines Wolckenstein.

    »Mir reicht’s«, sagte Gabi kurz darauf zu Irene. »Immer diese Rumeierei! Wo sind die Verträge?«

    Irene atmete erleichtert auf. In den letzten Wochen hatte sie sich weit aus dem Fenster gelehnt, als sie den Wolckensteinern riet, es ihrem Stadtoberhaupt gleichzutun und die hiesige Bauwirtschaft zu unterstützen. Aber nun würde Bernbach Nord eine Erfolgsstory sondergleichen schreiben. Auch dank ihr.

    »Hier, bitte!« Gabi Tonseidel knallte ihrem Mann einen Packen Blätter auf den Schreibtisch. »Das sind die Verträge. Ich habe bereits unterschrieben. Die Entscheidung, wie hoch unsere Einlage sein soll, überlasse ich dir. Nur bitte tu es. Und zwar bald, klar?«

    »Sicher. Lass es mich nur noch einmal durchrechnen.«

    »Einmal noch, Theo. Und dann unterschreiben und überweisen.«

    »Jaja.«

    »Ja?«

    »Ja!«

    So stand es mit den Tonseidels im Fall des Neubauprojekts Bernbach Nord.

    Ein anderes Neubauprojekt war bereits weit fortgeschritten. Auch hier hatte es sorgfältige Überlegungen, Planungen und Vermessungen gegeben, nur mit der Finanzierung tat man sich deutlich leichter als in Bernbach, denn beim Bauherrn, Architekten, Investor und Nutzer handelte es sich um ein und dieselbe Person: Wolfhard Menge. Zeit seines Lebens hatte Herr Menge von einer Veranda hinterm Haus geträumt – oder, um der schnöden Wahrheit Genüge zu tun: Vor etwa einem Jahr hatte Herr Menge auf der Veranda eines Anglerfreundes so ausgiebig gezecht, dass ihm die Tatsache, zeit seines Lebens von einer solchen Veranda geträumt zu haben, schlagartig bewusst wurde.

    »Herta«, hatte er gesagt, »wir brauchen eine Veranda hinterm Haus. Sofort!«

    »Aber da ist doch Norden«, hatte seine Frau in einem spontanen Akt der Rebellion entgegnet.

    »Na und? Soll ich vielleicht das Haus drehen?«

    Diesen Punkt hatten sie nicht weiter erörtert. Für Herrn Menge stand eine Sache von Beginn an unwiderruflich fest: Es gab nur einen Menschen in ganz Wolckenstein, den er mit dem Bau der herbeigesehnten Veranda betrauen konnte, und das war er selbst. Alles andere mündete in Pfusch oder Abzocke oder beides. Er verbrachte einige Wochen damit, die Konkurrenzmodelle des Viertels zu begutachten und sich im Geiste seine Idealveranda zusammenzustellen. Sie durfte natürlich nicht ebenerdig sein (»Sollen wir vielleicht auf Rasenhöhe sitzen wie die nebenan?«), und sie brauchte natürlich ein Geländer (»Wäre ja noch schöner!«). Im Sommer konnte man erleben, wie Herr Menge auf allen Vieren um sein Haus kroch, Markierungen setzte und seiner Frau Kommandos zuschrie. Im Herbst bestellte er das Baumaterial, und im Winter versuchte er die Preise herunterzuhandeln.

    Im Frühjahr ging es endlich los mit dem Bau der Veranda.

    »Es ist so weit«, hatte Tom Tonseidel seinem Freund Marko signalisiert. »Heute Abend oder nie. Bist du bereit?«

    »Na klar. Ich besorge die Füße.«

    Um neun Uhr abends traf Marko ein, und eine halbe Stunde später verließen sie das Haus der Tonseidels durch den Keller. Im Schuppen fand sich eine zweiteilige Aluminiumleiter. Sie trugen die Leiter gemeinsam zum Ende des Grundstücks, hievten sie über den Zaun auf das Gelände der Menges und stiegen hinterher. Etwas klapperte in Markos Rucksack.

    »Hoffentlich ist er nicht da«, flüsterte Marko.

    »Er ist da. Aber er schläft, tief und fest. So, wie der heute geschuftet hat. Außerdem ist er ein alter Knacker, und die knacken um zehn. Wie der Name schon sagt.«

    Marko sah auf die Uhr. Hoffentlich knackte dieser alte Knacker bereits um 21.35 Uhr.

    Sie näherten sich dem Haus der Menges von hinten – von der Verandaseite also, wie Herr Menge demnächst mit vollem Recht behaupten konnte. Der Abend war düster und nasskalt, kein Mond zu sehen, kein einziger Stern. Gelbes Licht fiel vereinzelt aus Fenstern der Nachbargebäude. Vor dem Haus funzelte eine trübe Straßenlaterne, ab und zu hörte man einen Wagen durch das Wohngebiet schleichen. Die Tarnbemalung im Gesicht wäre überflüssig gewesen, da musste Marko seinem Freund im Nachhinein recht geben. Im Haus der Menges blieb alles dunkel.

    »Dann mal los«, sagte Tom und rieb sich die Hände.

    Von einer Betonmischmaschine und einem Sägebock

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