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Ein unversöhnlich sanftes Ende: Miniaturen
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Ein unversöhnlich sanftes Ende: Miniaturen
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Ein unversöhnlich sanftes Ende: Miniaturen

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About this ebook

Piwitt hört sehr genau zu, sieht noch genauer hin und teilt seine präzisen Beobachtungen mit der überraschten, ertappten und amüsierten Leserschaft.

Hermann Peter Piwitt hat in seinen Prosaminiaturen viel mehr verarbeitet als die Kürze
mancher Texte vermuten lässt: Seine Begegnungen, Beobachtungen und Reflexionen ergeben ein Gesellschaftsbild, das den Einzelnen in den Blick nimmt und zugleich die großen Themen wie Heimat, Zusammenhalt und Verantwortung berücksichtigt. Dabei werden die Protagonisten in wenigen Strichen so lebendig, als wäre man mit Piwitt einen Abend lang durchs "Territorium" gezogen. Eine Berliner Therapeutin, ein Metzger in Harlem, Reisende und Nichtschwimmer erzählen in dieser literarischen Revue von ihren Träumen, Sorgen und Abenteuern. Piwitts Humor bleibt stets liebevoll, bei aller Schärfe nimmt er die Menschen ernst, von denen er virtuos erzählt. Noch in den kleinsten Szenen fängt der Autor ganze Lebensläufe ein, wobei genaue und empathische Beschreibungen und sein feiner Humor Wahrhaftiges wie Groteskes zum Vorschein bringen.
LanguageDeutsch
Release dateJul 30, 2018
ISBN9783835342866
Ein unversöhnlich sanftes Ende: Miniaturen

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    Ein unversöhnlich sanftes Ende - Hermann Peter Piwitt

    978-3-8353-4286-6

    DITSCHI. Als Kinder im Krieg spielten wir Schlagball auf einer der Haupt-Ausfallstraßen der Stadt. Ein paarmal am Tag kam ein Auto vorbei; und hin und wieder im Jahr eine Militärkolonne. An einem sonnigen Morgen im Frühjahr fuhr ein junger Mann mit dem Fahrrad durch unser Feld, gefolgt von einer Frau seines Alters. Eben, als einer von den Stockhusens, der sonst nie traf, aufschlug, beugte der Mann sich zurück und rief ihr zu: Ist das, Fräulein Schulz, nicht ein wunderbarer Frühlingsmorgen? In dem Moment traf ihn die harte Lederkugel am Kopf. Er fiel vom Rad. Wir liefen weg. Und sahen aus sicherer Entfernung, wie er sich aufrappelte, das Rad aufhob, anschob und, die herbeieilende Gefährtin mit den Worten besänftigend, dass nichts passiert sei, nicht der Rede wert …!, sich in den Sattel zurückschwang. Seitdem hieß der kleinste Stockhusen »Fräulein Schulz«, und immer wenn er aufschlug, rief alles: Achtung, der Frühlingsmorgen.

    An einem Frühjahrsmorgen zwei Jahre später rückte der Feind ein, der Krieg war aus, und am Nachmittag spielten wir Fußball, nicht wie bisher auf der Straße, denn die war inzwischen gesperrt und voll von Panzern und Militärfahrzeugen, sondern auf einer Wiese nebenan. Eines Tages tauchte ein schlaksiger Junge mit einer brillantinegestärkten Schmachtlocke auf der Stirn am Rand des Spielfelds auf. Er stand eine Weile so da in weißen Turnschuhen, die er dann »Badeschuhe« nannte. Und wenn ein Ball ins Aus ging, schnappte er ihn sich mit der Spitze und gab, nein, ditschte ihn ins Feld zurück. So wie das eben einer macht, der einem sagen will: Ich will mitspielen. Wir ließen ihn. Er wirkte weich in seinen Bewegungen und hatte Übergewicht; und doch ging er locker, fast federnd. Und dabei paddelte er über den großen Zeh. Und so spielte er und zog ab. Mit dem Außenrist. In seinen Badeschuhen. Ditschi, wie er dann hieß, zeigte uns den Schalker Kreisel: den Ball nicht direkt zuspielen, sondern in den freien Raum, in den dann der Mitspieler lief. Hepp, rief Ditschi, und: Cheerio!

    Wir wählten damals vor jedem Spiel die Mannschaft neu. So, dass jeder mal, auch der Kleinste und Schlechteste, zusammen mit den Besten gewinnen und verlieren konnte. Aber einmal passierte es, dass die einen unerwartet hoch verloren, und die anderen setzten einen Kopfball nach dem anderen ins Tor, das aus zwei Mützen bestand und dem Jüngsten, der es sauberzuhalten hatte, und das war ich. Wir hatten damals den Tick, jedes Wort mit »o« enden zu lassen. Das hörte sich dann so an: Hasto duo eino Knallo? Und so hießen die beiden Mannschaften schnell »Glatzomanno« und »Müdomanno«. Mit den »Müdomanno« blieb ich offenbar zusammen, auch als ich später im Verein spielte. Mit dem Kreisel traten wir gegen die Bauernjungen der umliegenden Dörfer an. Aber sie husteten uns was und droschen uns zusammen.

    Aber da spielte Ditschi schon im ersten Club der Stadt. Und natürlich hatte er, wie jeder ordentliche Mensch, einen richtigen Nachnamen. Aber der tat nichts zur Sache und interessierte nur die Zeitungen, in denen er nun jeden Montag stand als der, der an allen vorbei, an dem niemand vorbei. Für das Territorium spielte er viele Male. Und noch immer, wenn die Wochenschau ihn zeigte, wirkte er dabei weich, schlaksig, fast pomadig. Aber machte er dann ernst, tanzte er die Gegner aus, glitt um sie herum, als hätte sich die Brillantine irgendwann wie ein auratischer Film um seinen Körper gelegt.

    Tatsächlich war er am Ende der einzige mir bekannte Mensch, der die Redensart beglaubigte, dass jemand wie ein Fragezeichen aussah. Zum Glück hatte er es da schon nicht mehr nötig, nach überhaupt etwas auszusehen. Er war längst Ehrenbürger der Stadt, besaß Mietshäuser und ließ es sich nicht nehmen, hieß es, im Verzugsfall auch mal persönlich zu kassieren. Und die Betroffenen waren so geschmeichelt, dass sie lieber mal auf eine neue Kinderkarre, den dringend notwendigen Wintermantel verzichteten, als einem wie ihm was schuldig zu bleiben.

    So war ich auch nicht überrascht, als ich, vor einigen Jahren, in einen Findling am Eingang zu einem kleinen Stück Grün mit Büschen und Bänken im Zentrum des Viertels seinen Namen eingemeißelt fand. Man hatte das Grün zum Park erklärt und, nachdem Ditschi einen Verkehrsunfall nicht überlebt hatte, nach ihm benannt. Seitdem sitze ich oft da. Nicht unbedingt wegen Ditschi, sondern weil es dort an den ersten sonnigen Frühlingstagen wärmer als woanders, weil windstill, ist. Auch sind große Läden gleich in der Nähe und ein Blumenstand mit einer Hutzel, von deren angegrauten Rosen meine Frau, die Blumen liebt, behauptet, schönere und billigere gebe es nirgendwo. Ich sitze da und sehe den Wolken zu, nicht weil sie mich interessierten, sondern weil sie hin und wieder die Sonne freigeben, die mir allein noch etwas sagt. Und hin und wieder lasse ich mir von den Leuten, die auch dort sitzen, von ihrem Leben erzählen, und von Rasse, Temperament und Schicksal ihrer Hunde. Und manchmal auch von Ditschi. Und wenn ich mir vorstelle, dass der »Park«, oder was da so heißt, der grüne Fussel, der Länge nach Ditschi darstellte, bloß in groß, und hinten, oben, wäre sein Kopf, dann sitze ich etwa in Höhe seiner Badeschuhe.

    Kürzlich setzte sich eine ältere Frau dazu. Ich erinnere mich nicht an sie. Und nur schwach daran, dass ihr Hund, ein Yorkshire-Terrier, ihr ähnlich sah; er hätte ihr Sohn sein können. Woran ich mich aber genau erinnere, war unser Gespräch, nachdem sie mir erzählt hatte, sie gehe hin und wieder einem Senior zur Hand.

    Und das ging so:

    Sie: Da habe ich ihm Essen gekocht, und was tut er? Nimmt sich die Zähne raus und legt sie neben den Teller. Hab ich keinen Bissen mehr runtergekriegt. Und ein paar Tage drauf, wie ich komme, sitzt er auf dem Klo und hat die Tür auf.

    Ich: Wie alt ist er denn?

    Sie: Siebenundachtzig.

    Ich: Aber dann ist er vielleicht schon nicht mehr ganz bei sich?

    Sie: Von wegen »nicht mehr bei sich« … Mir in den Hintern kneifen kann er immer noch ganz gut!

    Danach sprachen wir nichts mehr. Und ich dachte daran, ob ich wohl mit ihr schlafen könnte, mit einer (wo ich sechzig bin) schätzungsweise fünfzehn Jahre Älteren. Daran, ob ich mich wohl mit dem Hund vertragen würde, der offenbar nichts konnte, als mit dem Schwanz zu wedeln, der gleich hinterm Kopf begann; und daran, dass manchmal junge Frauen mit noch ganz anderen Ruinen rumrappelten. Und dann dachte ich, was wohl Ditschi zu all dem sagen würde. Wahrscheinlich Hepp und Cheerio.

    GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT. In dem großräumigen Etablissement im westlichen Teil der neuen Hauptstadt des erweiterten Territoriums verabschiedet die Leitung der Konzerntochter des Medienweltkonzerns den verdienten leitenden Mitarbeiter B. als erfolgreichen Herausgeber eines der wenigen großen, mit Fortune übernommenen Blätter der einverleibten Region. Das Lokal, früher einmal Unterhaltungsbühne mit Gastronomie, danach Kino, ist inzwischen im Geschmack der Zeit als Varieté alten Stils wiederhergestellt. Als hätte man Samt dafür verwendet, sind Wände und Bühnenvorhang rot; und rot auch die Bestuhlung der oberen Ränge, die an diesem Abend vor allem den Übernommenen des Blattes überlassen sind. Im Parkett dagegen, an gedeckten Tischen, die siegreichen Führungskräfte: direkt vor der Bühne die der Wirtschaft und der territorialen Politik; in den Reihen dahinter die Leitenden der mittleren Ebene und Politiker der Stadt. Studenten und Hospitanten in weißen Schürzen eilen dazwischen hin und her und reichen Essen und Getränke bis hoch zu den niederen Rängen.

    Die Preisreden auf B., eingebettet in das allabendliche Programm aus Kabarettsketches, Schlangentänzen und akrobatischen Einlagen, beginnen. Dass B., aufgefallen auch als beliebter Koordinator von Gesprächsrunden im Bildschirmbetrieb, durch behutsamen Umgang mit Redakteuren und Abonnenten diesen wie der Konzerntochter das Schicksal der meisten anderen hinzugewonnenen Projekte, die Schließung nämlich, habe ersparen können, erfahren wir. Und der »Olymp« spendet Beifall. Ein Narr im Narrenkostüm tritt auf und nimmt sich Narrenfreiheit. Und der »Olymp«, über die essenden und trinkenden Damen und Herren unten hinweg, johlt. Und als ein Komiker den Kanzler des erweiterten Territoriums in seiner regionalen Mundart nachahmt, johlen gemeinsam Ränge und Parkett. Dann zeigt ein Turner der ehemaligen Olympiamannschaft des unterlegenen Territoriums, als römischer Lustknabe geschminkt, Kunststücke mit Fesseln und Seilen.

    Wir sind nicht bei Hofe. Aber wir sind uns einig. Ein Herz und eine Seele, als der Gefeierte, B., endlich selbst erscheint. Rundum bonhomme, ein großer verschmitzter Engerling, spricht er von den Niederlagen seines Lebens, in denen begründet gewesen sei und geradezu unvermeidlich, wie er sagt, unaufhörlicher Erfolg. Vier Frauen, Bürokräfte erster Klasse, in knappen Badekostümen, führen ihn unter Küssen in den Bühnenhintergrund ab.

    Hier hat keiner einen Haken als Hand. Keiner trägt den abgeschnittenen Finger einer algerischen Prinzessin um den Hals. Und niemand ist, kraft prächtiger Orden und Schärpen auf der Brust, Eingeweihten immer schon als Schlächter kenntlich. Von Balzac oder Dumas könnte erfunden sein und von Daumier gemalt allenfalls der Herausgeber des neuesten erfolgreichen Magazins, »Brennpunkt«; so wie sein immer lachendes Speckgesicht zu verstehen gibt, wie er passioniert und stets gutgelaunt auf Konten wie in Backen hamstert. So gilt er als Weltkind. Die anderen unterscheiden sich nicht. Niemand scheint einer besonderen Tat fähig, einer guten ebensowenig wie einer nachweisbar bösen. Jeder ist beschreibbar nur nach seiner Funktion im einzigen Prozess, der noch Geschichte macht: dem Kapitalfluss.

    FREIBAD. Aber ich habe mit Ketchup bestellt, sagt die Frau am Kiosk des Freibads, als sie den Pappteller mit den Pommes frites rausgereicht bekommt. Es sind dreißig Grad im Schatten, und die Ladenpächterin hat rote Augen von den Fettdämpfen aus der Friteuse.

    - Tut mir leid, ich habe mit Mayo aufgeschrieben.

    - Aber ich habe laut und deutlich Ketchup gesagt.

    - Aber ich habe Mayo verstanden.

    - Ja, und nun?

    - Nun? Nun is nun.

    - Höflich sind Sie gar nicht.

    - Immer so viel wie nötig, sagt die Pächterin und streicht sich die von Schweiß und Fett verklebten Haare aus dem Gesicht, während sie mit der Zange die Würstchen auf der Bratplatte wendet.

    - Also, Ihr Kunde bin ich die längste Zeit gewesen.

    - Kann ich mit leben.

    Die Kundin ist am Ende ihrer Kräfte, und noch immer steht der Teller mit den Pommes frites und der Mayonnaise unerhört in der Durchreiche. Es ist ja nicht wegen mir, wendet sie sich an den in der Schlange hinter ihr Wartenden. Es ist wegen der Kinder. Sie essen kein Mayo. Sie essen nur Ketchup. – Kommen Sie, sagt der Angesprochene, nehmen Sie meins, mit Ketchup. Ist gerade in Arbeit. Und ich nehm Ihrs mit Mayo.

    Das Aufspießen der Schnitze mit der kleinen farbigen Plastikgabel. Das Eindringen der Zähne in die braune heiße Kruste. Ihr Einsinken in das weiße Innere. Die Sonne geht nun, zum Nachmittag, schräg und weich herein, und nichts kann mehr die Andacht des vom Schwimmen hungrigen Leibes stören.

    Obschon, lieber hätte ich es schon auch mit Ketchup gehabt, statt mit Mayo.

    SÜDLICH DES TERRITORIUMS. Die typischen Herbstbilder wieder. Wieder das Himmels-W, die Kassiopeia, fast senkrecht über unseren Köpfen. Wie an einen Marktkorb gekettet die äthiopische Königin; hat sie doch kraft Hochmuts und Verrats das Unglück der Tochter heraufbeschworen. Und derem Erretter auch noch einen falschen Bräutigam mit seinen Schlägern auf den Hals geschickt. Breit, hilflos und empfänglich, ganz Tochter entfalteter Mutter, Andromeda. Spitz und ganz assalto Perseus. So am

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