Gestalt begreifen: Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie
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Stefan Blankertz
Stefan Blankertz, Wortmetz, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.
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Book preview
Gestalt begreifen - Stefan Blankertz
Foto; Hagen Willsch, 2010
Stefan Blankertz
1956, »Wortmetz«, ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller (editiongpunkt.de), Autor zahlreicher Bücher, Fachbücher zur Theorie der Gestalttherapie, zur politischen Theorie, Romane, Lyrikbände. Seit fast fünf Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Paul Goodman und der Gestalttherapie.
Mit Erhard Doubrawa verfasste er die »Einladung zur Gestalttherapie« und das »Lexikon der Gestalttherapie«, die ebenfalls in der gikPRESS erscheinen.
www.therapeutenadressen.de
Praxisadnessen Infos siehe letzte von Seite GestalttherapeutInnen. des Buches.
Inhalt
Erhard Doubrawa: Vorwort
Zum Selbstverständnis der Gestalttherapie
Begründung:Warum Gestalttherapie?
Kriterien:Was ist eine Gestalttherapie?
Personal:Wer war Paul Goodman?
Vergewisserung 1: Therapeut – Beruf und Rolle
Vergewisserung 2:Gegen die Ethik von Kommissionen
Vergewisserung 3:Für eine Ethik der Gestalttherapie
Leitfaden, um »Gestalt Therapy« zu verstehen
Definition 1: »Psychologie«
Die Kapitel 3 und 4 als psychotherapeutische Deutungen des Begriffs der »Seele « bei Aristoteles und Thomas von Aquin
Anhang: Die Einheit von Körper und Seele
Definition 2: »Neurose«
Systematische Untersuchung, wie der Begriff »Neurose« in»Gestalt Therapy« verwendet wird (Kapitel 1, 3, 4, 6, 9 und 13)
Definition 3: »Aggression«
Die politisch-therapeutische Sprengkraft der Kapitel 8 und 9
Definition 4: »Selbst«
Zur Klärung der Kapitel 10 und 11
Struktur: Aufbau des Buches
Zur Logik der Kapitelfolge in »Gestalt Therapy«
Bedeutung: Goodmans Interesse
Die sozialphilosophische Ausgangsfrage von »Gestalt Therapy«
Auslegung: Zur Autorenschaft
Die Zusammenarbeit von Paul Goodman, Fritz und Lore Perls sowie Ralf Hefferline bei der Abfassung von »Gestalt Therapy«
Literaturverzeichnis
Stellen-Verzeichnis und Bemerkung zur Neuübersetzung 2006
Buchvorstellung: »Gestalttherapie Essentials: Das Wichtigste aus dem Grundlagenwerk von Perls, Hefferline und Goodman«
Zur Künstlerin des Covers
GEORGIA VON SCHLIEFFEN
Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit in den Bereichen Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«
Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen « sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.
Bitte besuchen Sie die Seite der Künstlerin auf theartstack.com oder verbinden Sie sich auf linkedin.com mit ihr.
Vorwort
Zum ersten Mal begegnete ich Stefan Blankertz 1988. Damals war ich auf der Suche nach jemandem, der im Rahmen unserer »Werkstattgespräche Humanistische Psychologie« die theoretische, philosophische und politische Grundlegung der Gestalttherapie kompetent darzustellen vermochte. Wie kein anderer im deutschen Sprachraum hatte sich Stefan Blankertz mit Leben und Arbeit Paul Goodmans befasst, der die politische und philosophische Dimension der Gestalttherapie von Anfang an entscheidend geprägt hatte. Aber Stefan war Soziologe, und Psychotherapie war ihm vor allem ein Ärgernis und »kleinbürgerliches Vorurteil«. Und so war es ein langer Weg, auf dem Stefan und ich seit unserer ersten Begegnung aufeinander zugehen mussten und der zum Erscheinen dieses Arbeitsbuches führte.
Durch die Arbeit mit Stephen Schoen habe ich gelernt, die spirituelle Dimension der Therapie zu entdecken und wertzuschätzen – einerlei, ob wir sie als solche benennen oder nicht. Stefan Blankertz brachte mir den politischen Aspekt unserer Arbeit näher und ermutigte mich, die Paradoxien der Therapie zur Kenntnis zu nehmen, ohne gleich nach einer Versöhnung der Gegensätze zu suchen. Wir sagen, die Gesellschaft sei krank, machen aber Therapie mit einzelnen – das ist und bleibt ein Widerspruch. Vielleicht schlafen diejenigen ruhiger, die es vorziehen, die sozialen Ursachen psychischer Probleme zu vergessen, aber um welchen Preis? Wie kann ein Arzt heilen, wenn er nur Symptome zur Kenntnis nimmt, sich aber von ihren Ursachen abwendet?
Wenn wir uns in einer Weise professionalisieren, die für Spiritualität keinen Raum lässt, »verinseln« wir die Psychotherapie und können Spirituelles nicht mehr wahrnehmen. Wir sind dann nicht mehr fähig, jemanden zu verstehen, der um die Menschen trauert, – nein, nicht um einen bestimmten Menschen, sondern um den Menschen, um die vergebenen Möglichkeiten des menschlichen Daseins. Sicher ließe sich mit einer solchen Berufsauffassung eine Menge Geld verdienen. Doch wir würden uns ein-reihen in den Kreis derer, die einer verödenden Gesellschaft helfen, das Leid ihrer Opfer zu verwalten oder bestenfalls ein wenig erträglicher zu machen.
Psychotherapie, Politik und Spiritualität sind drei Aspekte einer gestalttherapeutischen Haltung, die wir in unserem Aus- und Weiterbildungskonzept am Gestalt-Institut Köln miteinander verbinden; nicht um einer vorübergehenden Mode zu entsprechen, sondern um einem ganzheitlichen Verständnis von Psychotherapie Rechnung zu tragen. Am GIK verstehen wir unsere Arbeit in einem doppelten Sinne: Einerseits als Hilfe für die Menschen, die Hilfe brauchen, und andererseits als Aufklärung der Helfer über den politischen Aspekt ihrer Aufgabe.
Nach wie vor ist das Buch »Gestalt Therapie« von Perls, Hefferline, Goodman das Basiswerk der Theorie der Gestalttherapie, dessen Lektüre jedem interessierten Leser ein breites Spektrum anregender Gedanken eröffnet. Doch die Erfahrungen, die wir im Laufe unserer Ausbildungsarbeit am Gestalt-Institut Köln sammeln konnten, machten ein Arbeitsbuch wünschenswert, das auch Nicht-Insidern das Verständnis dieses Buches erleichtert und insbesondere den Wert seines kritischen Gehalts zugänglich macht.
Das Arbeitsbuch, das Sie in Händen halten, ist ein Ergebnis dieses Bemühens. Es ist ein Arbeitsbuch, weil es nicht geschrieben wurde, um den Leser mit »kognitivem fast food« zu füttern. Hier finden diejenigen Nahrung, die sich dafür interessieren, was Gestalttherapie auszeichnet, was sie anderen Ansätzen voraus hat und welchen Schwierigkeiten Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten gegenüberstehen, wenn sie die politische Dimension ihrer Arbeit ernst nehmen.
Das »Arbeitsbuch« hat sich seit 1996 in unseren Ausbildungsgruppen hervorragend bewährt. Um die neue deutsche Übersetzung von »Gestalt Therapy« sowie aktuelle Diskussionen der Gestalt-Community zu berücksichtigen, hat Stefan Blankertz seinen Text überarbeitet.
Inzwischen ist noch ein weiteres Buch von Stefan Blankertz aus seiner Lehrtätigkeit hervorgegangen, das ich Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – gerne ans Herz legen möchte: »Gestalttherapie Essentials: Das Wichtigste aus dem Grundlagenwerk der Gestalttherapie von Perls, Hefferline und Goodman«. Bitte beachten Sie dazu die Buchvorstellung am Ende des hier vorliegenden Buches.
Erhard Doubrawa
Leiter der
Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)
Zum Selbstverständnis der Gestalttherapie
Ich bin zu diesem Schluss gekommen: Wie Luther, doch nicht wie Hegel oder Marx, denke ich, dass der Weg, die Entfremdung zu überwinden, darin besteht, daheim zu bleiben und sich nicht auf eine Reise durch die Geschichte und durch die Sphären des Daseins zu begeben. Es ist andererseits auch wahr, dass selbst derjenige, der den »steinigen Weg« geht, abkommen wird, sich dabei jedoch keiner Verfehlung schuldig macht.
— Paul Goodman, 1972
Begründung: Warum Gestalttherapie?
Gegen den Therapie-Eintopf
Dies ist kein Buch »über« Gestalttherapie. Gestalttherapeuten lassen sich inzwischen auf einen Prozess der »Entgrenzung« (Konfluenz) ein, in dem die Eigenart der Gestalttherapie verloren geht. In den 1950er Jahren war die Gestalttherapie entwickelt worden in Opposition sowohl
gegen die psychoanalytische Methode nach Sigmund Freud. Sie geht davon aus, dass die Vergangenheit – besonders die Phase der Kleinkindheit – das Leben prägt. Die analytische Therapie führt den Klienten vom gegenwärtigen Leiden in seine tiefste Vergangenheit und belässt ihn zumeist dort, ohne ihn wieder in die Gegenwart zurückzubringen. Die Kritik der Gestalttherapie an Freud darf aber gerade in einer Situation, in der Freuds Theorie von rückwärtsgewandten Kräften erneut zur Zielscheibe anti-aufklärerischer Propaganda gemacht wird, niemals vergessen machen, dass die Gestalttherapie ein Kind der Psychoanalyse ist und nicht anders begriffen werden kann.
als auch gegen den behavioristischen Ansatz nach B. F. Skinner. Er geht davon aus, alles aktuelle Verhalten sei auf ein System von in der Vergangenheit antrainierten (»konditionierten«) Reaktionen zurückzuführen. Überspitzt ausgedrückt meint dieser Ansatz, der Mensch unterscheide sich nicht viel von einem dressierten Hund. Die aus diesem Ansatz später entwickelte Verhaltenstherapie besteht darin, den Klienten wie einen schlecht erzogenen Hund einer korrigierenden Dressur (»Verhaltensprägung«) zu unterziehen. Ironischerweise war einer der Mitautoren von Gestalt Therapy, Ralph Hefferline, ein Behaviorist; eine Information, die vor dogmatischen Frontbildungen bewahren sollte.
Als »Therapie« in den 1960er und 1970er Jahren zur Mode wurde, sind eine Reihe weiterer Psychotherapien entstanden, deren Positionen recht unklar waren. Gesprächstherapie, Transaktionsanalyse, Bioenergetik, Neurolinguistisches Programmieren, Themenzentrierte Interaktion, Systemische Therapie, Analytische Gestalttherapie, Provokative Therapie sind nur einige der geläufigeren Namen. Getrieben durch das Streben nach Formierung einer einflussreichen »Bewegung«, die »offizieller« Anerkennung teilhaftig zu werden vermag, verwischte man die Grenzen, erfand die »Integrative Therapie« und die »Humanistische Psychologie«.
Obwohl Fritz Perls, der einflussreichste Vertreter der Gestalttherapie, die »Humanistische Psychologie« heftig ablehnte, kam der Gestalttherapie innerhalb der »Humanistischen Psychologie« die Stellung eines Impulsgebers zu, denn einerseits war sie durch ihre Geschichte dazu vorbestimmt und andererseits ist sie die einzige Richtung geblieben, die eine theoretische Begründung aufweist. Allerdings ist die »Krankheit « der Theoriefeindlichkeit in der »Humanistischen Psychologie« so weit fortgeschritten, dass von der theoretischen Begründung der Gestalttherapie kaum mehr als das Gerücht übrig blieb.
Tatsächlich ist es allerdings die Theorie, die die Wirklichkeit bestimmt, nicht die Praxis: Theoretische Begriffe wie z.B. Freuds »Ödipuskomplex«, Skinners »Reiz-Reaktions-Schema« oder Perls' »(positive) Aggression« machen eine bestimmte Praxis überhaupt erst denkbar. Aus der Praxis jedenfalls können solche Begriffe nicht abgeleitet werden. Darum führt Theoriefeindlichkeit zur Auflösung der Therapie. Zurück bleibt eine formlose Masse zufälliger Tätigkeiten, die dazu bestimmt sind, dass einige Menschen am Leiden anderer Menschen Geld verdienen. Dies wäre kaum der Rede wert, wären nicht die sozialen Verhältnisse so gelagert, dass Therapie in einem Umfang nachgefragt wird, der sie zu einer gesellschaftlichen Macht werden lässt. Diese Macht darf nicht »Psychoklempnern« überlassen werden.
Meine Absicht
In diesem Buch möchte ich mit Hilfe des theoretischen Handwerkszeugs der ursprünglichen Gestalttherapie einen Beitrag zum Selbstverständnis der Psychotherapie leisten. Um diese Absicht begründen zu können, müssen drei Fragen geklärt werden:
Warum mache ich die Gestalttherapie zum Ausgangspunkt der Selbstvergewisserung und nicht eine andere psychotherapeutische Richtung?
Was ist die »ursprüngliche« Gestalttherapie und inwiefern ist sie zumindest bei der Formulierung des psychotherapeutischen Selbstbewusstseins dem überlegen, was heute schon als deren »Weiterentwicklung« gilt?
Was ist Theorie und was macht sie denn für eine Selbstvergewisserung der Gestalttherapie so wichtig?
Warum Gestalttherapie?
Das Verhängnis der »Integration« hat zu einer Praxis geführt, die in der Vorstellung gründet, alle psychotherapeutischen Methoden seien »gleich gut« und ließen sich unbeschränkt miteinander kombinieren. Scheint das eine nicht zu helfen, probieren wir etwas anderes. Habe ich heute keinen Bock auf die eine Methode, nehme ich die andere. Gegen solchen unkritischen Pragmatismus und gegen solche Befindlichkeitsorientierung bleibt festzuhalten,
dass niemand sich erdreisten sollte, einen anderen Menschen zu »behandeln«, der nicht der begründeten Überzeugung wäre, die eingeschlagene Behandlung sei richtig.
Die Gestalttherapie hat zwei Kennzeichen, durch die sie sich, wiewohl vielfach verschüttet, abhebt vom Eintopf der »Humanistischen Psychologie« sowie der psychoanalytischen und behavioristischen Konkurrenz. Die zwei Kennzeichen, die ich im vorliegenden Buch herausarbeite, sind die Fähigkeit zur Selbstvergewisserung und das Konzept der Selbstbegrenzung. Sie lauten zusammengefasst :
Selbstvergewisserung. Die Gestalttherapie ist eine Psychotherapie, bei der die Vergewisserung über die sozialhistorische Verursachung sowohl der Leiden, die nach Therapie verlangen, als auch des dazugehörigen Berufsstandes fester Bestandteil ist. Die klassischen Therapeuten seit Freud behandelten ihre jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse, als seien es Entdeckungen ewiger »Naturgesetze«. Moderne Psychotherapien ignorieren hartnäckig soziologische Einsichten und reagieren auf die gegebenen Klienten, als seien sie Exemplare der unwandelbaren Spezies Mensch. Die Gestalttherapie analysiert dagegen sowohl, welche sozialen Zusammenhänge den Leidensdruck erzeugen, der einen Menschen zum Klienten werden lässt, als auch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Therapeuten als Berufsstand hervorgebracht werden (vgl. Kapitel »Vergewisserung 1: Therapeut – Beruf oder Rolle?«).
Durch diese Analyse konfrontiert sich die Gestalttherapie mit dem, was ich das »therapeutische Paradox« nenne: Die Klienten kommen zum Therapeuten, um unter den herrschenden sozialen Bedingungen weniger leiden zu müssen und besser funktionieren zu können; der Therapeut darf Heilung letztendlich jedoch nur durch eine Veränderung der Bedingungen versprechen, die weder der Klient noch er selbst herbeizuführen in der Lage ist. Leichter therapiert es sich natürlich ohne Einsicht in das Paradox. Naivität allerdings lässt den Therapeuten zum passiven Spielball der Verhältnisse werden. Nur Selbstvergewisserung verleiht uns die Kraft, angemessen zu handeln (vgl. Kapitel »Vergewisserung 3: Für eine Ethik der Gestalttherapie«).
Selbstbegrenzung. Aus der Selbstvergewisserung ergibt sich das gestalttherapeutische Konzept der Selbstbegrenzung. In der Therapie kann es nicht darum gehen, einen Klienten, dem »Unmündigkeit« unterstellt wird, zur Mündigkeit zu führen (vgl. Kapitel »Definition 2: Neurose«). Vielmehr muss die Therapie die sozialen Bedingungen bekämpfen, die das natürliche Mündig-Sein oder Mündig-Werden des Klienten verhindern oder verhindert haben (vgl. »Vergewisserung 2: Gegen die Ethik von Komissionen«).
Selbstbegrenzung ist nicht die übliche psychotherapeutische Haltung: Die Psychoanalyse meint, den Klienten über dessen Leben aufklären zu können und zu müssen. Die Charakteranalyse nach Wilhelm Reich überstülpt dem Klienten ein vorgefertigtes Bild von Gesundheit. Verhaltenstherapie und Bioenergetik beeinflussen beide – wenn auch auf ganz unterschiedlichen Grundlagen – die Klienten unter Umgehung von deren Bewusstsein. »Humanistische« Psychotherapien terrorisieren die Klienten mit der unrealistischen Behauptung, alles was in ihrem Leben geschehe, sei deren »eigene Verantwortung«. Die Familientherapie schwingt sich auf, »Lösungen« für Klienten zu suchen.
Das gestalttherapeutische Konzept der Selbstbegrenzung ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem moralischen Zeigefinger der psychotherapeutischen »Ethik-Kommissionen«. Die Selbstbegrenzung wird der Gestalttherapie nicht beigegeben, sondern sie folgt aus der inneren Logik des Ansatzes.
Was ist die »ursprüngliche« Gestalttherapie?
Die Gestalttherapie wurde Ende der 1940er Jahre durch eine Gruppe begründet, in der die Psychoanalytikerin Lore Perls und der Schriftsteller Paul Goodman die schöpferischen Köpfe waren. Beide verfügten über ein philosophisch geprägtes Interesse und legten Wert auf den dialogischen und nachdenklichen Charakter der neu formulierten Psychotherapie.
Die Popularisierung der Gestalttherapie in den 1960er Jahren ging hauptsächlich von Fritz Perls aus. Goodman war in der Zeit mehr politisch engagiert, während die stille therapeutische Arbeit von Lore Perls weniger Aufsehen erregte. Der Charismatiker Fritz Perls war kaum mehr an einer tiefschürfenden theoretischen Arbeit interessiert und legte eher Wert auf die Entwicklung eines eigenen therapeutischen Handwerkszeugs.
Obgleich das Handwerkszeug von Fritz Perls die eigentliche theoretische Begründung in den Hintergrund treten ließ, stiftete es so etwas wie eine gestalttherapeutische Eigenart. Sie ging erst in der Welle der »Humanistischen Psychologie« verloren. Die Entwicklung von Fritz Perls' »handwerklicher« Eigenart der Gestalttherapie hin zur Unbestimmbarkeit war folgerichtig: Denn wenn Gestalttherapie nichts anderes als eine Sammlung eigenwilliger Methoden darstellt, ist nicht einzusehen, warum nicht weitere Methoden in die Sammlung aufgenommen werden können.
Der Verlust gestalttherapeutischer Eigenart hat die unbequemen Anteile der ursprünglichen Theorie abgespalten. Da die unbequemen Anteile wie z.B. das »therapeutische Paradox« (vgl. S. →ff ) jedoch notwendig sind, damit Therapie die angemessene Reaktionsform auf sozial verursachten, aber individuell erlebten Leidensdruck sein kann, führt die Abspaltung zu einer Verflachung des therapeutischen Handelns selbst. Immer neue therapeutische Moden müssen ins Rennen geschickt werden, um die zufriedenen, aber ungeheilten Klienten erneut in Behandlung nehmen zu können. Schließlich werden die Moden sich selbst überrollen und die Welle läuft ins Leere.
Seit ihren Anfängen befand sich Psychotherapie mehr noch als andere ärztliche Kunst im Zwiespalt. Indem sie individuelle Leiden auf gesellschaftliche Gründe zurückführte, galt sie den Kräften des Bestehenden als aufrührerisch. Durch die Parteinahme für den Glücksanspruch des Einzelnen gegen gesellschaftliche Verhältnisse rettete Psychotherapie den aufrührerischen Anspruch sogar in die Praxis. Doch dort verlor sie ihn, ausgerechnet an das Interesse der Klienten selbst. Denn die Klienten können sich die Einlösung ihres Wunsches nach einem erfüllten Leben, das die Gesellschaft ihnen verweigert, nur vorstellen, indem die Therapie ihnen zu einer Anpassung an ebendiese Gesellschaft verhilft. An nichts als dem Widerspruch zur Gesellschaft leiden die Klienten. Ihn therapeutisch aufrecht zu erhalten oder sogar zu verstärken, bedeutet, das Leiden der Klienten zu mehren.
Inzwischen ist Psychotherapie weitgehend in die Kräfte des Bestehenden eingegliedert, nicht nur durch das Interesse der individuellen Klienten, sondern darüber hinaus durch ihre institutionellen Verflechtungen. Das Interesse des Staates und seiner Organe ist