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Altenheim: Roman
Altenheim: Roman
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Altenheim: Roman

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About this ebook

Das Altenheim.
Oft die letzte Station im Diesseits.
Manche erleben sie angenehm und in Würde.
Andere erfahren dort Leid und Unmenschlichkeit.
Und einige erleben den blanken Horror.

Wie Herbert, Julian und Frieder, drei Fast-Hundertjährige.
Das Schicksal brachte sie in ein Heim mit kaltem, verrohtem Personal, mit entsetzlichen Demütigungen, nackter Gewalt und schlimmen Verbrechen.
Die drei Freunde halten zusammen, versuchen immer wieder, Licht ins traurige Dunkel ihres Alltags zu bekommen. Hier und da gelingt es.

Als die Schrecknisse in ihrem Heim überhandnehmen, stehen sie auf.
Sie wehren sich und kämpfen.
Nicht nur mit Worten.

Der Roman legt Finger in Wunden.
Wunden, die in der Welt eines Altenheims zu finden sind.
Und es sind derer nicht wenige und sie sind nicht nur oberflächlicher Art.

Der Roman bestürzt und kann Angst machen.
Aber er birgt auch Hoffnung.
Und die Erkenntnis, dass trotz aller Finsternis in dieser Sphäre auch Schönes erlebbar ist, dass man auch dort menschliche Tiefe spüren kann.
Vielleicht sogar mehr als in der Lebenszeit zuvor.
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateAug 1, 2018
ISBN9783740701567
Altenheim: Roman
Author

Torsten Markwirth

Dr. Torsten Markwirth ist Internist und Kardiologe und schreibt seit 2009. Seine bisher sechs Romane beinhalten stigmatisierende Themen und sind mit kriminalistischen Finessen gewürzt. Sie erlangten große Aufmerksamkeit durch mehrere Fernsehauftritte des Autors sowie ein breites Presseecho.

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    Book preview

    Altenheim - Torsten Markwirth

    Adeling! Erschießen Sie den Jungen!"

    Ich trete vor.

    Ungläubig.

    „Wie bitte?"

    „Erschießen Sie ihn."

    Seine Stimme ist leiser geworden, gesenkter.

    Aber nicht weniger deutlich.

    „Sie meinen…jetzt? Hier auf der Stelle?"

    „Ja wann denn sonst? Morgen früh vielleicht?"

    Seine Stimme nur noch Wispern.

    „Er ist völlig wehrlos", flüstere ich, ebenso leise.

    „Das weiß ich. Machen Sie endlich …"

    Ich blicke nach unten.

    Vor mir kauert er.

    Er, der Junge genannt wurde.

    Was er auch ist.

    14 oder 15 Jahre?

    Schwierig zu schätzen.

    In jedem Fall mehr Kind als Mann.

    Ein Mensch, der bis vor kurzem sein Leben noch vor sich hatte.

    Und es jetzt verlieren wird.

    Unabänderlich.

    Ich schaue in seine Augen.

    Gespannt ist er in seiner Kauerhaltung unserem Dialog gefolgt.

    Hin und her sind seine Augen gegangen zwischen uns.

    Er hat unsere Worte nicht begriffen.

    Und doch hat er verstanden.

    Ja.

    Er hat verstanden, was besiegelt ist.

    Jetzt schaut er nur noch zu mir.

    Eine unfassbare Traurigkeit blickt mich aus seinen braunen Augen an.

    Feucht sind sie, fiebrig, die Kinderaugen.

    Er sagt etwas, leise, sehr leise.

    Ich kann es nicht verstehen.

    Ich beuge mich über ihn.

    Es ist eine Bitte, dessen bin ich mir sicher.

    Eine flehende Bitte.

    Um was mag er bitten?

    Um Gnade?

    Um Verschonung?

    Oder lediglich darum, dass es schnell geht?

    Ich weiß es nicht.

    Keiner von uns weiß es.

    Ich stehe regungslos.

    Kann mich nicht abwenden.

    Vom Gesicht, vom Blick des Jungen.

    Des todgeweihten Jungen.

    Der verstanden hat, was beschlossen wurde.

    Er beginnt jetzt wieder leise zu sprechen.

    Es ist wie ein Psalmodieren.

    Vielleicht ein Gebet?

    Ich weiß es nicht.

    Ich weiß nur, was in seinen Augen, in diesen tiefen, braunen Augen steht.

    Gewissheit.

    Traurigkeit.

    Schmerz.

    Leid.

    Tod.

    „Nun machen Sie schon, Adeling …"

    Ich erschrecke, löse mich aus meiner Starre.

    Greife ans Halfter.

    Die Pistole ist leicht, griffig.

    Eine Null Acht.

    Schon oft habe ich sie benutzt.

    Eine verlässliche Waffe.

    Ich entsichere sie.

    Der Junge schaut mich unverändert tief an.

    Er ist wirklich noch ein Kind.

    Es ist ein Verbrechen …

    Aber alles ist ein Verbrechen, alles hier, die ganze Scheiße.

    Der Junge blickt jetzt von meinem Gesicht weg.

    Auf die Pistole.

    In ihren Lauf.

    In die Schwärze ihrer Mündung.

    Ich beginne zu zittern.

    Der Lauf zittert, die Mündung zittert.

    Noch nie habe ich gezittert.

    Nicht mal in schlimmster Stunde.

    Und derer gab es viele, oh ja, sehr viele, in dieser Zeit.

    Mehr, als für ein Menschenleben gut ist.

    Aber jetzt zittere ich.

    Ich sichere die Null Acht und stecke sie zurück ins Halfter.

    „Tut mir leid …"

    Von Maltwitz nickt.

    Es wirkt verstehend.

    Er nestelt in seiner Jackentasche.

    „Papirossa?", fragt er den Jungen auf der Erde, das Kind.

    Dessen Augen beginnen zu leuchten, zu strahlen.

    Seine blutverschmierten Finger greifen nach der Zigarette.

    Sie sind zart und filigran, diese Finger.

    Wie von einem jungen Pianisten.

    Nie und nimmer passen sie hierher, in diese Welt hier.

    Von Maltwitz entflammt sein Sturmfeuerzeug und entzündet die Zigarette.

    Der Junge hat sich etwas aufgesetzt auf dem schlammigen Boden.

    Wie bei einem Picknick sitzt er nun auf der Erde und schmaucht genüsslich die Zigarette.

    Seine Augen leuchten, er beginnt fröhlich zu plappern.

    Wir verstehen seine Worte nicht.

    Alles wird gut.

    Ich muss wieder in seine großen Augen schauen.

    Die Augen, die jetzt so anders sind wie eben zuvor, so viel heller.

    Und dennoch die gleiche Tiefe, die gleiche Stärke besitzen.

    Der Junge nimmt einen letzten Zug von der aufgerauchten Zigarette, atmet entspannt aus und blickt selig in den Sommerhimmel.

    Ein Schuss.

    Aus der Stirn des Jungen spritzt Gehirnmasse und liegt jetzt vermengt mit kleinen Knochensplittern vor ihm auf der Erde.

    Verdutzt schauen seine Augen auf das Häufchen vor ihm.

    Erstaunt.

    Dann sackt er zur Seite.

    Von Maltwitz sichert seine Pistole und steckt sie in den Gürtel. „Kommen Sie jetzt, Adeling, wir müssen weiter …"

    Unsere Gruppe, wir sind zwölf Mann, nimmt Waffen und Gepäck auf und zieht schweigend los, Richtung Westen.

    Nördlich von uns donnert schweres Artilleriefeuer.

    „Mann, Adeling! Das war glatte Befehlsverweigerung! Die können dich vors Kriegsgericht stellen! Dann baumelst du!", flüstert mir Hein zu, mein Kamerad neben mir.

    Ich zucke nur die Achseln.

    „Quatsch ..." Ein Murmeln.

    Hauptmann von Maltwitz, der voraus marschiert, hatte die Worte gehört. Er lässt sich zurückfallen und flüstert mir ins Ohr.

    „Kokolores, Adeling … Außerdem müssen wir aus dem Schlamassel hier erst mal heile rauskommen …"

    „Verzeihen Sie, Herr Hauptmann … Ich suche nach Worten, die es nicht gibt. „Ich konnte es einfach nicht, es war …

    „Schon gut, mein Junge. Der Hauptmann nimmt seine Maschinenpistole, eine Schmeisser MP 40, in die linke Hand und legt mir sehr unmilitärisch seine Rechte über die Schulter. Er drückt mich kurz an sich. „Mir fiel das auch nicht leicht. Aber es gab keine Alternative.

    Das wusste ich, das weiß ich.

    Wie jeder von uns.

    „Haben Sie seine Verletzung gesehen?", fragt von Maltwitz.

    Ich nicke.

    Eine Granate hatte dem Jungen den halben Bauch aufgerissen.

    Darmschlingen lagen frei, Essensreste waren sichtbar aus dem zerfetzten Magen in die offen liegende Bauchhöhle getreten.

    Seine Einheit hat ihn wahrscheinlich sterbend zurückgelassen, inmitten der endlosen russischen Steppe.

    „Er wäre von keinem Arzt der Welt zu retten gewesen. Er wäre noch ein paar Stunden hier elendig herumgelegen mit seinen bestialischen Schmerzen und dann jämmerlich krepiert." Der Hauptmann zündet sich eine Zigarette an.

    „Und außerdem sind uns die Russen verdammt hart auf den Fersen. Hätten Sie den armen Jungen hier gefunden, hätte er unsere Position und unsere Absetzbewegung ausplaudern können. Ungut für uns, sehr ungut …"

    Ich nicke.

    Er hat recht, der Hauptmann.

    In der Ferne höre ich das Rasseln von Panzerketten.

    Wir waren zur Nachhut abkommandiert worden.

    Wir sind die Letzten der Letzten.

    Die Russen jagen uns nach.

    Juli 1943.

    Sie liegt gerade hinter uns.

    Die größte Panzerschlacht der Geschichte.

    Unternehmen Zitadelle.

    Der letzte Versuch der deutschen Wehrmacht, im Osten den entscheidenden Sieg zu erringen.

    Die neueste Generation an Panzern war hier bei Kursk erstmalig zum Einsatz gekommen, der ‚Panther’, der ‚Tiger’, der ‚Königstiger’.

    Aber der Sieg blieb aus.

    Zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen, rücken die russischen Armeen jetzt an allen Fronten vor und drohen die gesamte deutsche Heeresgruppe Mitte einzukesseln.

    Was einen völligen Zusammenbruch der gesamten Ostfront zur Folge hätte.

    Schweigend marschieren wir durch die endlose Weite.

    Hinter uns die russischen Divisionen, vor uns eigene, versprengte Einheiten, die sich zurückziehen, neu formieren, um das Schlimmste abzuwenden.

    Eigentlich bin ich Sanitäter.

    Und dennoch trage ich ein schweres MG.

    Denn ich bin ein Hüne, ein Schrank.

    Ein Meter vierundneunzig athletisches Gardemaß.

    Sie hatten mich in die SS stecken wollen, aber ich hatte dankend abgelehnt.

    Das MG ist schwer, rund 10 Kilo, dazu trage ich noch die Munitionsgurte.

    Knochensäge’ nennen die Landser das MG 42.

    So falsch ist das nicht.

    20 Schuss pro Sekunde feuert es aus seinem Lauf.

    Wie viele Menschen mag ich damit niedergemäht haben?

    Wie viel verstümmelt? Wie viele getötet?

    Hunderte?

    Bestimmt.

    Von Anfang an war ich dabei, vom 22. Juni 41 an, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, dem Unternehmens ‚Barbarossa’.

    Dabei, zusammen mit Millionen anderen deutschen Landsern.

    Ich habe sie nicht mehr gezählt, die Schlachten, die großen Gefechte, die kleinen Scharmützel, die Nahkämpfe, die Verwundeten, die Toten.

    Anfangs belastete es, anfangs hatte man noch Albträume.

    Aber dann stumpfte man ab.

    Schnell ging das, beängstigend schnell.

    Und ich funktionierte.

    Funktionierte als einfacher Soldat in einer Panzerdivision an der Ostfront, als Soldat, dem man die Sanitätstasche abgenommen und ein schweres MG umgehängt hat.

    Weil ich so kräftig bin.

    Oder weil MGs im Schützengraben wichtiger waren als Mullbinden.

    Ja, bisher habe ich funktioniert.

    Habe gemacht, was befohlen wurde.

    Auf Punkt und Komma.

    Bis jetzt eben.

    Bis zu diesem Jungen.

    Was war anders?

    Seine Augen?

    Seine Wehrlosigkeit?

    Nie werde ich es vergessen.

    Nie.

    Wir erreichen ein brennendes Dorf, kaum größer als ein Weiler.

    Wir bleiben in Deckung und beobachten es eine Weile.

    Wir wissen nicht, wie und wo die Front verläuft, ob vielleicht schon die Russen da sind, uns überholt, eingekesselt haben.

    Wir haben keinen Funk, keine Karten, keine Orientierung.

    Es erscheint uns sicher, daher gehen wir langsam rein.

    Ich halte das MG in der Hüfte, entsichert und schussbereit.

    Jede der Hütten steht in Flammen.

    Wir wissen, warum.

    Verbrannte Erde.

    So ist es befohlen.

    Beim Rückzug alles zu zerstören, alles zu vernichten.

    Alles abfackeln, auch dieses Dorf.

    So nutzlos das sein mag.

    Aber was ist schon von Nutzen in diesem abartigen Krieg.

    Es ist nicht das erste Verbrechen, das ich in diesem Krieg erlebe.

    Und dazu kommt noch das Munkeln.

    Über die Dinge, die hinter der Front passieren, im ‚rückwärtigen Heeresgebiet’, wie es genannt wird.

    Dinge, für die es keine Worte gibt.

    „Was soll denn das bringen, warum machen wir das?", fragt mich Hein und blickt auf die Flammen.

    Die Frage könnte man sich hier häufiger stellen, jeden Tag, jede Stunde …

    Ich zucke nur mit den Achseln.

    Vor einem der lichterloh brennenden Häuser steht eine junge Bauersfrau.

    Vor ihr liegen zwei tote Kinder.

    Ein verbrannter Säugling.

    Wie ein kleines, schwarzes Paket schaut er aus.

    Abgestellt zur Abholung.

    Daneben ein Kleinkind, ein Mädchen, vielleicht zwei Jahre.

    Äußerlich unversehrt, ohne Verletzungen.

    Wahrscheinlich erstickt.

    Hein geht auf die Frau zu und reicht ihr die Hälfte seines Kommissbrots aus seinem Beutel.

    Die Frau spuckt ihn an.

    Beginnt gellend zu schreien.

    Ihre Stimme hoch und schrill.

    Ihr Klagen steigert sich zu einem Inferno.

    Anklagend zeigt sie auf ihre toten Kinder, vor ihr auf der Erde.

    Beschämt wenden wir uns ab und marschieren wortlos weiter.

    Sie läuft uns nach.

    Sie beschimpft uns gellend.

    Ihr Schreien wird immer entsetzlicher, immer schriller.

    Schreien.

    Schreien.

    Schreien.

    Ein Rütteln.

    Ein Schreck.

    „Morgen Herbie! Aufstehen! Hast ja verpennt! Gibt ja gleich Frühstück!"

    Die Stimme schrill und kreischend.

    Ich zittere, bin orientierungslos, alles durcheinander.

    Erst langsam, ganz allmählich gewinne ich Ordnung.

    Ordnung.

    Ordnung ist ganz wichtig.

    Ich sammle mich langsam, atme tief durch.

    Bettdecke, Zimmerwände, links das Fenster, rechts die Tür.

    Vertrautheit.

    Ich blicke auf den Wecker.

    Halb acht.

    Mühsam sortiere ich mich und rapple mich hoch.

    Geht alles nicht mehr so schnell.

    Bin ja 75 Jahre älter als in meinem Traum.

    Der Traum…

    Wohlbekannt ist er mir.

    Geläufig.

    Wieder und wieder träume ich ihn.

    In den vergangenen, vielen Jahrzehnten.

    Manchmal in Nuancen unterschiedlich, manchmal mit diesem oder jenem neuen Detail.

    Aber im Grunde genommen bleibt er immer gleich.

    Nie habe ich ihn vergessen.

    Den Jungen, das Kind, mit den großen Augen.

    Mit seinen Gedärmen in der Blutlache.

    Wie er die Zigarette rauchte und nochmal für zwei Minuten glückselig war.

    Auch anderes habe ich nicht vergessen aus dieser apokalyptischen Zeit.

    Aus dieser Zeit jenseits der Worte.

    Die immer wiederkehrenden Träume frischen es auf.

    Mein seniles Gedächtnis.

    Halten das Erinnern wach.

    Lassen nicht vergessen.

    Heute heiße ich übrigens gar nicht mehr Adeling.

    Heute heiße ich Altmann.

    Herbert Altmann.

    Aber das ist eine alte und eine lange Geschichte.

    Ich erzähl sie ein andermal.

    Kreischen.

    Schon wieder das Kreischen.

    Schlimmer als jedes Weckergeläut.

    „Los! Los! Raus aus den Federn! ’Kannst ja nach dem Frühstück noch mal pennen!

    Jaqueline.

    So heißt sie.

    Sie, das Gör.

    Die Pflegerin im heutigen Frühdienst.

    Trotz meines Greisenalters kann ich mir ihren Namen merken.

    „Komm jetzt bitte in die Pötte, Herbie!"

    Ich staune.

    Ich muss immer wieder staunen.

    Darüber, dass Jaqueline – im Übrigen wie auch viele andere Pflegekräfte – mich permanent duzen.

    Ich duze sie nie.

    Aber es gibt größere Probleme, wenn man auf die Hundert zugeht.

    Ich staune nochmal.

    Über etwas anderes.

    Über etwas, über das ich immer wieder staune.

    Etwas, das ich nicht verstehe und nie verstehen werde.

    Jaquelines junges, grade mal zwanzigjähriges Gesicht.

    Von Natur aus ansehnlich, äußerst hübsch und anziehend.

    Von Natur aus ist es so.

    In der Realität, jetzt und hier, wo ich es betrachte, ist es ganz gar und nicht so.

    So finde ich es.

    Aber das liegt wohl in der Natur des Betrachters.

    Ich habe immer wieder versucht, sie zu zählen.

    Wieder und wieder, aber es gelang mir nie.

    Es müssen über ein Dutzend sein.

    Metallsplitter, Metallnadeln, Metallringe.

    An jedem nur erdenklichen Ort in diesem Gesicht.

    ‚Piercings’ nennt man es heute, so wurde mir gesagt.

    Warum um Himmels willen macht man das?

    Ich werde alt …, denke ich und muss schmunzeln.

    Dann schlupfe ich mit meinen 96-jährigen Füßen mühsam in die Pantoffeln.

    „Was gibt’s zu grinsen, Herbie?"

    Ich schüttle den Kopf.

    Ich muss nicht auf alles antworten.

    Ich muss nicht alles verstehen.

    In vier Jahren wäre ich Hundert …

    Herbert Altmann ist ein alter Mann.

    „Stuhlgang, Herbie?"

    Jacqueline steht inquisitorisch mit meiner Akte vor mir und zeigt mit dem Kugelschreiber wie mit einer Waffe auf mich.

    Eine prinzipiell nicht unwichtige Frage bei betagten Menschen.

    Aber jetzt und in diesem Moment einigermaßen dämlich, wie ich finde.

    „Jacqueline, ich bin erst vor zehn Sekunden aufgestanden, nachdem Sie mich so liebenswürdig geweckt haben … Ich grinse. „Daher ist die Frage verhältnismäßig leicht zu beantworten.

    „Ach, ich muss diesen Scheiß hier ausfüllen, das weißt du doch. Das System will es so!"

    Das ist einer ihrer Lieblingssätze.

    Das System.

    Das System, in dem ich mich befinde.

    Altenheim.

    Herbert Altmann ist im Altenheim.

    Was für ein Wortspiel …

    Ein Insasse bin ich.

    In diesem System hier.

    Man nennt uns ‚Bewohner’.

    Klingt irgendwie besser.

    Ist es aber nicht.

    Ich sehe in meine aufgeschlagene Akte.

    Meine Medikamente, meine Blutdruckwerte, meine Pulsfrequenzen.

    Oben rechts in der Ecke zwei Lichtbilder von mir.

    Porträtaufnahmen, von vorn und von der Seite, wie bei Verbrechern.

    Die Photos haben sie letztes Jahr eingeführt, von jedem Bewohner finden sie sich in der Akte.

    Es gab zu viele Flüchtige.

    Meist demente Bewohner, die ausgebüxt waren und von der Polizei gesucht werden mussten.

    Die Photos erleichtern die Suche.

    Dennoch schüttle ich unmerklich den Kopf.

    Wie ich ausschaue auf den Bildern … Standardisiert aufgenommen wie für die Verbrecherkartei …

    Ich starre auf meine Photos.

    Schauen aus wie Totenschädel …

    Kaum Haare, kaum Fettgewebe oder Muskulatur.

    Die faltige Haut eng auf den Knochen aufgespannt.

    Die Augen in tiefen Höhlen, der Mund ein wenig schief.

    Früher war ich mal recht hübsch gewesen.

    „Kommst du im Bad alleine klar? Dann kann ich schon mal weiter!", schnarrt Jacqueline.

    Ich nicke.

    „Mach aber hinne, sonst wird der Kaffee kalt!"

    Erneutes Nicken.

    „Brauchste den Rolli?"

    Kopfschütteln.

    Das Laufen geht noch erstaunlich gut bei mir.

    Hab ja Übung darin.

    Aus Russland.

    *

    Hilfsmittelfrei erreiche ich den Speisesaal.

    Er liegt auf der gleichen Etage des fünfstöckigen Heims.

    Das hat Vor- und Nachteile.

    Wie vieles im Leben.

    Äußerlich mutet er wie eine billige, heruntergekommene Kantine an.

    Einfaches, grobes Möbel in hässlichen Orangetönen.

    Die Farbe assoziiert Erbrochenes.

    Aber die Oberflächen sind gut zu reinigen und zu desinfizieren.

    Das ist nicht ganz unwichtig hier.

    Manchmal wird es auch gemacht.

    Am Schwarzen Brett blicke ich auf den Wochenaushang des Speiseplans.

    Heute ist Freitag.

    Dass ich das weiß, unterscheidet mich vom Gros der Bewohner hier.

    Ich sage es keineswegs überheblich oder borniert.

    Es ist lediglich ein Sachverhalt.

    Ein trauriger.

    Es ist keineswegs mein eigener Verdienst oder meine Leistung, dass ich noch über halbwegs Verstand verfüge.

    Es ist ein Geschenk.

    Manchmal auch eine Bürde.

    Die Frühstücksrubrik ist uninteressant, hier gibt es immer das gleiche.

    Wenngleich andere Formulierungen und Bezeichnungen aufgeführt sind.

    Heute Mittag: Seelachs, paniert, mit Kartoffelsalat und Remouladensoße.

    Das Fischstäbchen für Erwachsene.

    Die Remoulade muss ich weglassen, sie verursacht mir Bauchschmerzen.

    Ich habe Erfahrungswert.

    Außerdem ist sie gefährlich.

    Manchmal lebensgefährlich, für uns Greise.

    Habe ich eigentlich schon gestern auf den Speiseplan geschaut?

    Weiß ich nicht mehr.

    Derlei Inhalte behalte ich nicht mehr über Nacht.

    Auf dem Aushang prangt das Logo dieser Einrichtung.

    Residenz am Park’ will sie genannt sein.

    Ich muss lachen.

    Das eine Substantiv so falsch wie das andere.

    Der ‚Park’ ist eine trostlose, ungepflegte Anlage, mit schmutzigem Grün und viel Asphalt, die überwiegend als Hundekackplatz von den Anwohnern und zum Drogenverkauf von lichtscheuen Zwielichtigen genutzt wird.

    Residenz’ Noch lächerlicher.

    Eine Verwahranstalt ist das hier.

    Ein Wartezimmer des Todes.

    Jeder der Bewohner wird hier sein Ende erleben.

    Jeder, ohne Ausnahme.

    Niemand zieht mehr von hier weg, niemand wechselt mehr den Ort oder gar die Stadt.

    Jeder hat hier zu bleiben.

    Endgültig, bis zum Schluss.

    Es besteht für uns Bewohner ‚Residenzpflicht’.

    Von daher ist der Name unserer Wohnstatt hier in gewisser Weise doch stimmig.

    Nicht nur der lächerliche Name unserer Einrichtung, auch das Logo bringt mich in steter Regelmäßigkeit zum Lachen.

    Es ziert ein stilisiertes Schloss, das keinerlei architektonische Gemeinsamkeit mit unserem potthässlichen Zweckbau aus den Siebzigern hat.

    Die Lügen fangen hier schon mit dem Namen und dem Logo an.

    Es sind bei weitem nicht die einzigen und nicht die schlimmsten.

    Ich setze mich zu Julian.

    Auch er ist ein ‚Neunziger’.

    Er doziert gerade.

    „Guten Morgen", sage ich leise.

    Julian referiert ohne Unterbrechung weiter.

    Er sitzt allein am Tisch.

    Niemand hört ihm zu.

    Am Buffet nehme ich mir ein Gummibrötchen und etwas Marmelade, von der ich nicht weiß, nach welcher Frucht sie schmeckt und auch nicht, welche Frucht sie vorgibt, nach der sie schmecken sollte und auch nicht, ob sie überhaupt eine natürliche Frucht enthält.

    Jedenfalls ist sie rot.

    Den Wurstaufschnitt meide ich, er ist heute noch schmieriger als sonst und an den Rändern bedrohlich angedunkelt.

    Die normiert quadratischen Käsescheiben sehen aus wie Bierdeckel.

    Darf ich mich beklagen?

    Ja.

    Das Heim kassiert mehrere Tausend Euro monatlich für meinen Aufenthalt hier.

    Nein.

    Vor 75 Jahren in Kursk hätten wir uns die Finger danach geleckt.

    Und es gibt nicht wenige Menschen auf der Erde, die das heute noch immer tun würden.

    Ivanka, die Pflegekraft und heutige Herrscherin über den Speisesaal schenkt mir Kaffee in eine große, klobige Plastiktasse ein.

    Muckefuck ohne Koffein.

    Ich nicke ihr dankend zu.

    Ihr scharfkantiges Gesicht ähnelt dem der Bauersfrau vor ihren toten Kindern …

    „Guck, dass dein Freind was isst!", fordert sie mich mit ihrer gutturalen Stimme auf und schwenkt ihren massigen Kopf wie ein Pferd in Richtung Julian.

    „Er rädet nur! Isst nicht!"

    Ich weiß es.

    Ich komme mit meinem Tablett zurück an den Tisch.

    Sein Vortrag ist noch nicht zu Ende.

    Doktor Julian Dörflinger.

    ‚Dörfi’ nennen ihn die Pflegekräfte.

    Er gehört zu den wenigen Menschen in dieser absonderlichen Welt, dieser Welt, von der ich früher nichts wusste und nichts ahnte und vor allem nie dachte, dass ich ihr eines Tages angehören würde, und zwar unwiderruflich, bis zum Ende, Julian gehört in diesem Kosmos zu den wenigen Menschen, mit denen mir ein menschlicher Austausch vergönnt ist.

    Ein Drittel in dieser Welt hier ist nahezu taub, ein weiteres Drittel mehr oder weniger dement, und einen nicht unbeträchtlichen Teil bekomme ich gar nicht zu Gesicht.

    Die schlimmsten Pflegefälle, Menschen, die nur noch im Bett vegetieren.

    Die Ärmsten der Armen.

    Man sieht sie nicht.

    Man hört sie nur.

    Vor allem nachts.

    Ich stelle mein Tablett ab und setze mich.

    Julian schaut mich den Bruchteil eines Augenblicks an, er scheint mich zu erkennen, ich bin mir aber nicht sicher, dann fährt er unbeirrt und mit kräftiger Stimme fort.

    „Die Planck-Ära bezeichnet den Zeitraum nach dem Urknall bis zur kleinsten physikalisch sinnvollen Zeitangabe, nämlich der so genannten 'Planck-Zeit'. Sie beträgt 10-43 Sekunden und stellt das kleinstmögliche Zeitintervall dar, für das die bekannten Gesetze der Physik gültig sind."

    Julians Blick schweift in das weite Rund.

    Knapp zwei Dutzend Tische umgeben ihn, die meisten mit Bewohnern besetzt.

    Ein Teil sitzt in Rollstühlen stoisch vor den Tabletts ohne zu essen, ohne zu reden, ohne irgendetwas äußerlich Erkennbares zu tun.

    Sie sitzen einfach da.

    Man hat sie einfach hingeschoben.

    Niemand füttert sie.

    Ivanka ist noch am Buffet zugange, sie wird nachher, wie ich weiß, den Hilflosen im Schnelldurchgang hastig ein paar Happen in den Mund schieben, manchmal drücken, manchmal pressen.

    Ein mechanischer Vorgang, der bei jedem kaum eine halbe Minute dauert.

    Es gibt nicht mehr Pflegepersonal, diese Ressource ist sehr knapp, wird postuliert.

    Aber nicht nur die gänzlich Hilflosen, die völlig passiv stoisch an den Tisch abgestellten Bewohner, beachten Julian nicht.

    Niemand tut es.

    Auch nicht die, die mehr schlecht als recht mit den Herausforderungen des Essens kämpfen.

    Und auch nicht die, die noch körperlich und geistig ein gewisses Maß an Rüstigkeit besitzen.

    Nur ich höre ihm zu.

    Nur ich allein.

    Auch wenn ich den Vortrag bereits auswendig kenne.

    Jeden Satz, jedes Wort.

    „Daher können wir uns also fragen: ‚Wie sah das Universum 10-43 Sekunden nach dem Urknall aus, aber nicht früher! Denn die Planck-Zeit ist die allerkleinste Zeitspanne, die es gibt! Sie ist definiert als diejenige Zeit, die das Licht benötigt, um eine Planck-Länge zurückzulegen, und Sie erinnern sich, verehrte Kollegen, dass dies die kürzeste Distanz darstellt, die in der Physik möglich ist. Kürzer geht nicht …"

    Ich blicke auf Julians Teller.

    Er ist einigermaßen verwüstet.

    Reste eines Honigbrötchens.

    Es schaut aus, als sei es zerrissen worden, größere und kleinere Brocken liegen verstreut auf und neben dem Teller.

    Zerrissen wie von einem Tier.

    Manchmal sind wir hier so.

    Wie Tiere.

    Oft werden wir aber auch so behandelt.

    Wie Tiere.

    „Bei kleineren Zeitintervallen als der Planck-Zeit verlöre die Zeit ihre vertrauten Eigenschaften als Kontinuum. Sie würde quantisieren, das heißt die Zeit liefe unterhalb der Planck-Zeit in diskreten Sprüngen ab und nicht mehr kontinuierlich. Daraus folgt, dass jedes Objekt, welches einen Vorgang kürzer als die Planck-Zeit durchlebt, zu einer Singularität wird. Können Sie folgen?"

    Julian blickt sich um und lächelt.

    Souverän wirkt es, sein Lächeln.

    Grotesk ist es, in diesem schrecklichen Speisesaal.

    Aus Lautsprechern neben dem Buffet dröhnt unangenehm laut grauenvolle Volksmusik.

    Meistens so beim Essen hier.

    Es übertönt das Stöhnen und Brabbeln, übertüncht das Schreien.

    Ich schaue zu den Menschen an den Tischen, meinen Schicksalsgenossen hier.

    Es müffelt aus den undichten Urinbeuteln.

    Eine Schnabeltasse fällt zu Boden, Muckefuck spritzt heraus.

    Ivanka flucht auf Russisch.

    „Also wie ich sehe, bestehen keine Fragen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir setzen die Vorlesung morgen thematisch mit der Singularität und ihrer zentralen Bedeutung in Schwarzen Löchern und beim big bang fort."

    Julian deutet eine kurze Verbeugung an.

    Er hört den Beifall, das akademische Klopfen.

    Seine Augen leuchten.

    „Guten Appetit, Julian."

    Erstaunt mustert er mich, dann blickt er noch erstaunter vor sich, auf seinen verwüsteten Teller, er scheint kurz nachzudenken, dann greift er blitzartig nach Brötchenbrocken, stopft sie sich nacheinander in seinen Mund und beginnt mit seiner schauerlich schlecht passenden Zahnprothese darauf zu malmen.

    „Gut geschlafen, Herbert?", fragt er mich aufgeräumt.

    Er ist wieder da.

    Wieder zurück.

    Das freut mich.

    Denn jetzt kann ich mich mit ihm ein wenig unterhalten, mit meinem Freund, dem Physiker Doktor Julian Dörflinger.

    *

    Wir räumen unsere Tabletts ab, ernten dafür Ivankas Dank in Form eines angedeuteten Lächelns und tappen zurück in unseren Flur.

    Der Speisesaal trennt im dritten Obergeschoss den Flur in einen Ost- und einen Westteil.

    Wir sind im Westen.

    Im ‚Luxusflur’, wie er genannt wird.

    Wobei Luxus, wie so vieles im Leben, sehr relativ ist.

    In unserem Stock sind die Bewohner des so genannten ‚Betreuten Wohnens’ untergebracht.

    Wir besitzen neben einer geringen Eigenständigkeit ein verhältnismäßig großzügiges, geräumiges Zimmer mit einem kleinen Vorraum und einem Bad.

    Das bei weitem bedeutendste Privileg besteht darin, dass wir alleine in diesem Zimmer wohnen.

    Nahezu alle anderen Heimbewohner hausen zu zweit in kargen Gelassen, manchmal wird aus Platznot zeitweilig noch ein drittes Bett eingeschoben.

    Je nachdem, mit wem man das Zimmer teilt, kann das durchaus äußert unkomfortabel sein, vor allem nachts.

    Selbstredend bezahlen wir für unsere ‚Luxuszimmer’ mit dem Privileg der erhaltenen Privatsphäre.

    Und das nicht zu knapp, sie sind sehr kostspielig.

    Dafür könnte ich eigentlich auch in einem eleganten Hotel leben.

    Julian wohnt drei Zimmer weiter.

    Auf unserem Flur begegnen wir einem Neuen.

    Ein Mann, eher einem Männchen, denn er ist überaus klein, selbst für unsere Verhältnisse (die Körperhöhe schrumpft beträchtlich im Senium).

    Ein wenig ratlos steht er verloren da, nestelt an seiner viel zu großen Brille herum, die ihn noch kleiner erscheinen lässt.

    Ich mustere ihn.

    Ein schlohweißer Haarkranz umgibt einen nahezu elliptischen Schädel, seine Bekleidung ist recht sauber, er trägt ein älteres Jackett, ich taxiere das Männchen auf unsere Altersklasse.

    Ich habe ihn noch nie hier bei uns gesehen.

    Und ich bin schon eine Weile hier.

    Das Männlein erblickt uns und stürmt auf uns zu. „Guten Morgen, die Herren. Arndt mein Name, Frieder Arndt. Er lächelt freundlich und drückt uns überraschend kräftig die Hand. „Ich ziehe heute hier ein!

    „In die ‚325’", wispert mir Julian leise zu. „Da ist doch frei geworden".

    Frei geworden …

    Der hiesige Terminus technicus für Verstorben.

    Der nahezu einzige Mechanismus, durch den eines der Zimmer frei wird.

    Der Tod ist der einzige Ausgang aus dieser Anstalt.

    „Willkommen." Wir stellen uns beide vor.

    „Der früher Vogel fängt den Wurm, lächle ich. „Sie sind ja ganz schön zeitig hier.

    Es ist noch nicht einmal neun Uhr.

    „Sie haben mich heute Morgen recht früh aus dem Krankenhaus entlassen.

    Sie brauchten dringend Betten, da musste plötzlich alles hopplahopp gehen …"

    Julian und ich blicken uns kurz an.

    Wir verstehen.

    Wir wissen, wie’s läuft.

    „Haben Sie denn wenigstens noch das Frühstück in der Klinik bekommen?", frage ich ihn.

    „Äh, ja, so ganz kurz … So zwischen Tür und Angel. Es war alles etwas hektisch."

    Wir verstehen.

    „Aber ich hatte ohnehin keinen so großen Appetit. Wissen Sie, dieser Tag heute … Der ist für mich kein so leichter …"

    Wir wissen.

    Wir wissen es sogar sehr genau.

    Wir stehen unschlüssig auf dem Gang, es riecht nach scharfen Putzmitteln, das Gespräch ist versiegt.

    „Das Umzugsunternehmen kommt mit meinem Mobiliar erst um die Mittagszeit, hieß es", beginnt Herr Arndt wieder.

    Ich fasse einen Gedanken. „Mein Freund und ich machen noch kurz Morgentoilette und würden dann zu einem kleinen Spaziergang aufbrechen.

    Möchten Sie uns begleiten?"

    „Nicht weit. Nur ‚hinters Haus’", ergänzt Julian.

    Hinters Haus.

    Die hiesige Bezeichnung für das schäbige Gelände, das fälschlicherweise ‚Park’ genannt wird.

    „Oh fein, gerne! Ich habe bis Mittag ohnehin nichts zu tun!"

    Das wird Ihnen hier noch öfter so gehen …

    Ich lege meine Zahnprothesen in die Reinigungslösung und setze mich auf den Thron.

    Nach einigen Minuten gebe ich auf.

    In meinem früheren Leben habe ich mich einen Scheißdreck ums Scheißen geschert.

    Wenn ich scheißen musste, schiss ich.

    Fertig.

    Mit Ende achtzig hatte es angefangen.

    Langsam wurde es schwieriger.

    Und mit jedem weiteren Jahr stetig mühseliger.

    Oft klappt es nur mit Medikamenten.

    Aber ich darf nicht klagen.

    Bei Julian helfen nicht mal die.

    Schon mehrmals musste er ausgeräumt werden.

    So nennen sie das hier.

    Ausgeräumt.

    ‚Skybala’ hatten sich bei Julian gebildet, Kotsteine.

    Er war so verstopft, dass sie Pjotr holten.

    Den hiesigen Experten für diese Angelegenheit.

    Pjotr ist der Ausräumer.

    Er räumt aus.

    Mechanisch.

    Mit seinen Fingern und mit allerlei Werkzeug.

    Es ist nicht sonderlich angenehm.

    Aber was ist das hier schon, in dieser Welt?

    Pjotr, einer der rohsten und aggressivsten Pfleger, scheint sein krudes Werk Freude zu bereiten.

    Mir ist nicht klar, ob es reiner Sadismus ist, Spaß daran, die Menschen zu quälen.

    Oder eine abartige … eine perverse Freude an…der Sache per se.

    Eine Koprophilie…

    Gibt es das überhaupt?

    Hier gibt es so manches, von dem ich zuvor nie gedacht habe, nicht einmal geahnt habe, dass es Realität ist.

    Traurige Realität.

    Julian und ich kommen zeitgleich aus unseren Zimmern.

    Frieder Arnd liest am Schwarzen Brett.

    „Heute Nachmittag zeigen sie das WM-Endspiel Deutschland – Ungarn von 54! Klasse!"

    Mein Freund und ich schauen uns an.

    Wir rollen mit den Augen.

    Als wären wir achtzig Jahre jünger und Teenager.

    Herr Arndt registriert unsere Reaktion. „Oh … Sind Sie nicht fußballbegeistert?"

    „Doch, doch. Durchaus, antworte ich. „Allerdings habe ich dieses Spiel schon genau zwei Dutzend Mal in voller Länge gesehen. Ein Mal live, 1954, in einer drängelnden Menschentraube vor dem Schaufenster eines Fernsehgeschäftes. Und dann 23 Mal hier in dieser Einrichtung.

    Herr Arndt blickt verdutzt.

    „Sie müssen wissen", erläutert Julian, „das so genannte Unterhaltungsprogramm für die Bewohner hier folgt einem festgelegten Turnus. Das 54er-WM-Spiel ist beispielsweise alle vier Wochen freitagnachmittags dran."

    Eine hier beliebte, da wenig arbeitsaufwändige Technik des Programms für uns.

    Glotze an, Ton auf Maximallautstärke, Rollis davor gekarrt und fertig.

    „Sie werden den turnusmäßigen Ablauf des immer wiederkehrenden Unterhaltungsprogramms noch aus eigener Anschauung kennen lernen, fährt Julian fort. „Es ist ähnlich wie das Animationsprogramm in einem Urlaubshotel. Nur mit dem Unterschied, dass die Gäste hier immer die gleichen bleiben.

    „Oh." Der kleine Herr Arndt blickt ernüchtert.

    Ich selbst werde aber trotzdem das Spiel anschauen.

    Auch zum 24. Mal.

    Auch wenn ich mittlerweile jedes Detail jedes Spielzugs, und jeden Satz, jedes Wort, jede Nuance in der Stimmlage des Kommentators Herbert Zimmermann kenne.

    Die Vorführung des WM-Spiels hat neben dem geringen Arbeitsaufwand für das Personal noch einen anderen, einen weiteren günstigen Effekt.

    Nicht wenige der Zuschauer haben lebhafte Freude an der Darbietung.

    Und zwar wieder und wieder.

    Die dementen unter unseren Bewohnern zittern und bibbern für die deutsche Mannschaft, stöhnen bei den Toren der Ungarn und jubeln lauthals bei den deutschen.

    Sie sehen alle vier Wochen ein Fußballspiel.

    Jedes Mal ist es für sie ein neues.

    Nichts bleibt ihnen in Erinnerung.

    Sie leben nur noch in der Gegenwart.

    Was früher war, ist vergessen, was kommen mag, ist ohne Bedeutung.

    Nur noch Gegenwart, nur noch Präsens.

    Irgendwie praktisch.

    Das immer gleiche Spiel ist für sie immer wieder gleich spannend.

    Vielleicht haben es diese Bewohner besser als ich.

    Sie schauen ein für sie unterhaltsames Spiel, während ich dröge vor dem Schirm sitze und über die Trostlosigkeit sinniere.

    Wir nehmen den Aufzug nach unten.

    In der muffigen Eingangshalle stehen einige Bewohner in ihren Rollis beisammen.

    Einige in sich zusammengesunken, den wirren Kopf auf der Brust, die meisten mit leerem Blick.

    Einige sprechen, mehr oder weniger sinnvoll, leise mit anderen.

    Oder psalmodierend mit sich selbst.

    Ich begrüße Eddie, einer unserer Jüngsten.

    Er ist erst Anfang fünfzig.

    Ein Schlaganfall hatte ihn aus seinem Leben katapultiert, außer seiner Halbseitenlähmung leidet er seitdem an einem bösartigen Krampfleiden, das kaum auf Medikamente anspricht.

    Da er ständig Anfälle erleidet und oft stürzt, trägt er einen riesigen, beinahe medizinballgroßen Sturzhelm in einem spezialangefertigten Rollstuhl mit allerlei Polsterungen.

    Es schaut aus, als sei Eddie der waghalsige Pilot eines abenteuerlichen Höllengefährts.

    Julian meldet uns drei bei der Pförtnerin zum Spaziergang ab.

    Wie junge Pennäler bei ihrem Klassenlehrer.

    „Warum tun Sie das?, fragt Herr Arndt neugierig. „Ist das Vorschrift?

    „Ja."

    „Das ist ja fast wie im Gefängnis …" Frieder Arndt lacht lauthals.

    „Es ist ein Gefängnis. Meine Replik ist schärfer als beabsichtigt. „Mein Freund und ich haben das große Glück, Freigänger zu sein. Dieses Privileg haben bei weitem nicht alle hier.

    „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst ... Herr Arndt lacht immer noch. „Das wäre ja Freiheitsberaubung. Das können sie ja nicht machen!

    Sie können es.

    Sie machen es.

    Und sie machen noch ganz anderes hier.

    „Es kam vor, dass geistig verwirrte, aber körperlich noch behände Bewohner unkontrolliert in die Stadt ausbüxten. Die Suche durch Personal und Polizei war zum Teil sehr aufwändig. Daher diese Regelung." Julian hat einen ruhigeren Ton angeschlagen, Herr Arndt blickt verstehend und scheinbar etwas erleichtert.

    Wir gehen zu dritt nebeneinander, jungen Backfischen gleich, über den mit Unkraut durchsetzten und mit Hundekot übersäten Kiesweg. Auf dem schäbigen Rasen liegen massenhaft Kippen und Bierflaschen, hier und da auch Spritzen.

    Die Vormittagssonne wärmt angenehm, es scheint ein schöner Frühlingstag zu werden.

    Aus der nahen Innenstadt brandet Verkehrslärm.

    „Hatten Sie eine ernsthafte Erkrankung, wenn Sie mir die Frage gestatten?

    Und: Sind Sie wieder genesen?"

    Mann Julian … Mit fast Hundert ist jede Erkrankung ernsthaft und jeder Klinikaufenthalt ein Himmelfahrtskommando.

    „Ich hatte eine schwere Lungenentzündung. Die Antibiotika griffen zunächst nicht und mussten mehrfach gewechselt werden. Ich war fast drei Wochen stationär."

    Glück, dass du noch mal raus kamst.

    Und sogar stehenden Fußes.

    Aber wieso bist du hier gelandet?

    Hier in dieser Vorhölle.

    „Jetzt geht es wieder. Zumindest körperlich …" Über Herrn Arndts Augen legt sich ein Schatten.

    Wir setzen wortlos unseren Gang fort.

    Unseren Gang über die verdreckten Wege, noch immer zu dritt nebeneinander, beinahe im Gleichschritt.

    Aber

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