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Der letzte Winter der ersten Stadt
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Der letzte Winter der ersten Stadt
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Der letzte Winter der ersten Stadt

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About this ebook

"Ein Fafa hat kein zuhause. Er hat einen Beutel an der Hüfte und er hat seine Ketten. Er hat keine Wohnung, er hat die Welt. Zu einem Fafa sprechen die Geister. Alle, die er in seine Ketten binden könnte."

Im Gefolge seiner Königin muss der Heiler, Koch und falsche Geisterseher Krai zum ersten Mal die Heimat verlassen. Gegen seinen Willen wird er am Hof der Ersten Stadt Teil des Intrigenspiels um das Erbe des scheinbar schwachen Kaisers. Ausgerechnet dessen unverschämte Kalligraphin Neschka zeigt Krai, dass die Welt nicht so einfach ist, wie er sie gern hätte.

Doch dann erkrankt die Königin und Krai wird klar, dass er über Leichen gehen würde, um sie zu retten … aber was, wenn das nicht reicht?

Das neue Abenteuer aus der Welt der Stadt am Kreuz
LanguageDeutsch
Release dateNov 16, 2018
ISBN9783959361156
Der letzte Winter der ersten Stadt

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    Der letzte Winter der ersten Stadt - Rafaela Creydt

    Creydt

    Impressum

    Originalausgabe | © 2018

    in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

    Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

    www.ifub-verlag.de

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Alle Rechte liegen beim Verlag.

    Herausgeber: Mike Hillenbrand

    verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

    Lektorat: Stefanie Zurek

    Korrektorat: Heike Brand

    Cover-Gestaltung: Grit Richter

    unter Verwendung von Bildmaterialien von unsplash.com

    E-Book-Erstellung: Grit Richter

    … dreihundert Jahre, bevor Ruben vom Tempel die Schlacht auf den Feldern von Lundren schlug …

    I.

    »Wir haben uns nicht ergeben. Und als wir uns ergeben haben, haben wir uns wieder erhoben und sind ihnen in den Rücken gefallen. Wir haben uns niemals ergeben.

    Deshalb haben sie uns verboten, den Palast wieder aufzubauen.«

    (Was Gri ihrem kleinen Bruder erzählte)

    Ein Fafa hat kein Zuhause.

    Er hat einen Beutel an der Hüfte, und er hat seine Ketten. Er hat keine Wohnung, er hat die Welt. Zu einem Fafa sprechen die Geister. Alle, die er in seine Ketten binden konnte.

    Krai trug viele Ketten. Eine Perle an der anderen. Aus Holz, aus Stein, aus Ton. Groß wie zwei Walnüsse oder klein wie ein Fingernagel. Perlen aus den Hölzern der Bäume, die er an sich gebunden hatte. Aus Ton, in den er Blüten hinein geknetet hatte, oder das Blut von Wesen, deren Geist er kannte. Er trug seine Ketten in schweren Kreisen um den Hals, an den Handgelenken, um die Fußknöchel. Mit jedem Atemzug, mit jeder Bewegung klimperten und rasselten sie leise, erzählten den Menschen, dass ein mächtiger Fafa umging.

    Alles Lüge.

    Die Geister sprachen nicht zu Krai, dem Fafa der Königin von Efon.

    »Fafa«, drängte der erste der Treiber. »Fafa, was sagt er?«

    Gar nichts sagt er, dachte Krai verbittert. Aber er hob nur eine Hand, dass die Perlen rasselten, und bedeutete den Jägern so, zurückzubleiben. Ein gutes Dutzend Treiber mit Speeren und geifernden Hunden umringte den Keiler im Totengarten, drängte ihn zurück, wann immer das schnaubende, zitternde Tier versuchte, anzugreifen. Krai kniete zwischen den Speeren im aufgeweichten Boden. Er sah die Wut und das Entsetzen des Tieres, das in eine Welt geraten war, die es nicht verstand. Eine halbe Nacht hindurch hatte Krai versucht, ihn zum Gehen zu bewegen. Jetzt stand die Sonne schon über den Baumwipfeln, und Schweiß klebte dem Fafa den langen Zopf auf den nackten Rücken.

    Mit einer Hand hielt Krai die Perle voller Schweineblut umklammert. In ruhigen Tönen sang er den Keiler an, erklärte ihm, dass er gehen musste, um leben zu können. So nah war Krai dem wütenden Tier, dass er die beißenden Ausdünstungen am Gaumen schmeckte und keiner der Jäger die leisen Worte verstehen konnte. Doch der Keiler hörte nicht zu und brach zur Seite aus, mähte wie eine Flutwelle durch die Speere. Eine Treiberin riss er in einem Hagel von splitternden Holz zu Boden. Sofort schloss sich der Ring aus Speeren wieder, und drei Hunde hängten sich in die Flanken des Schweins. Ein anderer Treiber zerrte die Verletzte hinter die Reihen. Jaulend flogen die Hunde durch die Luft, als das Wildschwein sie fortschüttelte und seinen Blick wieder auf den knienden Mann vor sich richtete.

    Krai hatte sich nicht bewegt.

    Es tut mir leid, dachte Krai. Wenn du mich hörst, dann sollst du wissen, dass es mir leidtut.

    Er hob eine Hand. »Raan«, rief er leise.

    Zwischen den Treibern stand ein Junge, den man leicht übersah. Unentwegt huschte sein Blick umher, nahm alles auf, bis er Krais Geste bemerkte. Er war siebzehn, klein und schmal mit schiefen Zähnen, und trug nur einen Wickelrock, den er wie die anderen Jäger über die Knie hoch geschürzt hatte.

    »Fafa?« Die schwarzen Haare hatte er an den Seiten seines Kopfes bis auf die Haut abrasiert, vermutlich, um ein wenig gefährlicher zu wirken.

    »Raan Gore.« Krai ließ den Blick nur einen Herzschlag vom Keiler. »Dieser Tod gehört dir.«

    Die Treiber murmelten überrascht.

    »Aber«, begann Raan. Das Schwein schnaubte und machte einen neuen Ausfall. Krai bewegte sich nicht; stattdessen zogen die Treiber die Speerspitzen vor ihm zusammen. Blut strömte von der Schnauze des Keilers.

    »Niemand sonst!«, befahl der Fafa schnell.

    »Fafa«, bat Raan.

    Aber Krai sang bereits den Tod. Es mochte sein, dass die Geister ihn hörten. Es mochte auch sein, dass sie lediglich nicht antworten konnten. Oder, dass Krai ihre Antworten nicht hörte. Es mochte sein, dass der Keiler seine Bitten und Befehle gehört und sich ihnen verschlossen hatte. Auf solcherlei Hoffnungen baute Krai sein Leben auf.

    Mit hochgezogenen Schultern stapfte Raan neben ihn, seinen Speer in der Hand. Die Treiber wichen ein wenig zur Seite. Vor dem Schwein öffnete sich eine Gasse, mit nichts als dem hockendem Fafa und einem trotzigen Jungen darin.

    Die Verzweiflung des Keilers ließ das Tier an einen Ausweg glauben. Schnaubend stürmte es auf Krai zu. Der Fafa griff in seine Ketten und sang den Tod.

    Raan stöhnte wütend und rammte dem Tier seine Speerspitze in die Seite. Mit dem Fuß presste er das andere Ende des Schaftes in den schlammigen Boden. Die Schreie von Tier und Mensch vermischten sich. Der Speer rutschte zur Seite weg, zog eine tiefe Wunde über die Flanke des Keilers. Raan verlor den Halt. Im Fallen riss er seinen Dolch vom Gürtel und stieß ihn dem Schwein zwischen die Rippen. Krai sah die Augen des Keilers brechen, dann sackte das Tier in sich zusammen. Junge und Schwein lagen in inniger, regloser Umarmung.

    Krai legte dem Keiler die Hand auf die borstige Stirn. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schwül der Morgen geworden war.

    »Mögest du Frieden finden in Einheit mit allem.«

    »Mögest du Frieden finden in Einheit mit allem«, wiederholte Raan, als er sich hoch stemmte. Er warf Krai einen vernichtenden Blick zu und stürmte davon.

    Der Fafa stand auf.

    Die Hunde verstummten nach und nach. Die Vögel hatten noch nicht wieder angefangen, zu singen. Die Treiber warteten schweigend auf die Worte des Fafa. Plötzlich war es still im Totengarten.

    »Die Trophäen gehören Raan Gore«, sagte Krai und erinnerte sich, warum die Wildschweine bis in den Trümmerpalast gekommen waren. »Der Rest wird den Tagoren übergeben.«

    »Tempel oder Treues Volk?«, fragte der erste der Treiber.

    »Treues Volk.« Krai sah sich um. Niemand wusste, auf welchen Wegen die Schweine hereingekommen waren. Der Trümmerpalast war kein einzelnes Gebäude, eher ein erweitertes Dorf aus Hallen und Gemächern inmitten grüner Gärten. Im Herzen dieser Anlage umschlossen Mauern, so zerbrochen und schwarz wie im ganzen Palast, den Totengarten. Hier gab es flechtenbehangene Bäume zwischen bunten Blütenbüschen, deren Duft sich mit dem Morgennebel vermischte, und kühle Schatten selbst in der Mittagshitze. Ewigkeit und Frieden. Aber an diesem Morgen glich der Garten einem Schlachtfeld. Der moosbedeckte Boden war aufgerissen und zerwühlt, die Büsche zerbissen und die Stämme kahl gescheuert. Hätten die Schweine noch weiter gegraben, hätten sie womöglich die Überreste der Könige von Efon und ihrer Familien ans Licht gezerrt.

    Jetzt erst löste Krai seine verkrampfte Hand von der Perle mit dem Schweineblut.

    Die Jäger brachen den Keiler auf und gaben den Hunden ihre Belohnung. Krai ging zu Niam, der verletzten Treiberin, um ihre Wunden zu versorgen. Die Hauer hatten das Schienbein auf der Länge einer Spanne aufgerissen, aber keine Ader geöffnet. Die junge Zofe der Königin biss sich auf die Lippen und klagte nicht ein einziges Mal, während Krai die Wunde säuberte und vernähte.

    Als er fertig war, berührte sie ehrerbietig die Perlen an seinen Fußgelenken. »Ich habe gesehen, wie die Geister zu dir sprechen und wie du zu ihnen sprichst. Du bist ein großer Fafa. Ich danke dir für alles, was du tust.«

    Krai schob ihre Hand fort und winkte ihre Freunde heran, damit man sie fort brachte. Danach vergrub er den Kopf in den Händen – sie rochen immer noch nach Schwein und Schlamm und Blut – und verfluchte die Tagoren, verfluchte ihren Kaiser, ihren Gott, ihren Tempel, ihr Treues Volk.

    Raan Gore fand er später in die hochstehenden Wurzeln eines Nessessvennja-Baumes gekuschelt, wo der Prinz sich mit gesenktem Kopf das trocknende Blut von den bloßen Beinen kratzte.

    Krai trat einen losen Ast nach vorne, sodass er vor Raans Füßen liegenblieb.

    Raan griff nach dem Stock und hob langsam den Kopf. »Hättest du nicht warten können?«, fragte er.

    »Nein.«

    Raan schleuderte den Stock zur Seite. »Es war mein erster Tod, Krai!«

    »Ich weiß. Es tut mir leid.«

    »Mein Vater hätte hier sein sollen.« So war es Brauch, wenn ein Efoni zum ersten Mal einen Ebenbürtigen tötete. Aber …

    Dein Vater lebt seit zehn Jahren unter den Tagoren. In der Zeit hat er es nicht einmal für nötig gehalten, seinen jüngsten Sohn zu besuchen. Nichts davon sagte Krai. Er verstand ja, was Raan meinte.

    »Oder meine Großmutter.«

    »Deine Großmutter, Raan, ist die Trümmerkönigin. Willst du sie einem wütenden Keiler in den Weg stellen?«

    »Nein«, gab Raan kleinlaut zu und strich sich über den stachligen, verschwitzten Haarkamm. »Aber warum musste es dann überhaupt sein? Warum nicht der erste Treiber? Warum nicht Niam? So hast du nur allen noch einmal klargemacht, dass ich …«

    Dass du der jüngste, unwichtigste und vergessenste aller Enkel der Königin bist, dachte Krai. Keinerlei Aufmerksamkeit wert.

    »Die Geister haben dich gefordert, Raan Gore.«

    »Aber warum!«

    »Mein Prinz, wir stehen im Totengarten«, sagte Krai geduldig. Er war zu jung, um Raan den Vater zu ersetzen, und eigentlich zu alt, um sein Freund zu sein. Etwa ein Dutzend Jahre trennte sie. Es funktionierte trotzdem. Irgendwie. »Wessen Geister wohnen hier?«

    Raan machte große Augen. Seit mehr als dreitausend Jahren begruben die Könige von Efon ihre Familien hier.

    »Also, wer hätte den Eindringling besiegen sollen, wenn nicht …?«, fragte Krai.

    »Ein Prinz von Efon«, hauchte Raan, als könne er es selbst nicht glauben.

    Krai nickte. »Du hast es gut gemacht, Raan Gore. Hol dir deine Hauer, wenn du soweit bist.« Er beobachtete, wie der Junge sich ein wenig aufrechter hinsetzte. Jetzt sah er schon mehr wie ein erfolgreicher Jäger und Prinz von Efon aus, wenn auch wie ein nachdenklicher.

    »Warum musste er sterben?«, fragte Raan. »Warum hast du ihn nicht weggeschickt? Du hast die Schweine doch in deine Ketten gebunden. Sie sind dir verpflichtet. Also, warum ist er nicht einfach gegangen?«

    Krai schloss die Augen. »Manchmal braucht das Leben einen Tod.«

    ***

    Inmitten spiegelnden Wassers saß die Königin auf einem flachen Podest. Ihr Gesicht war faltig wie ein zerknüllt getrocknetes Stück Leinen. Ein purpurnes Tuch band ihre Brüste hoch; ihre nackten Füße ruhten zwischen Seerosen. Gegen die Mittagssonne spendete ein goldener Schirm Schatten, und hinter ihr im Wasser ließ eine Zofe den großen Federfächer wehen. Am anderen Ufer des steinernen Beckens stand der oberste des tagorischen Botendienstes in Efon, der Vorsteher der Läufer. Er war größer als jeder Efoni, eckiger, die Augen heller und die Haut röter. Gelegentlich machte er eine halbe Bewegung, als wisse er nicht, was er tun solle. Ins Wasser treten? Oder nicht? Oder doch? Und wenn ja, zuvor die Stiefel ausziehen? Oder besser nicht? Krai hätte gelacht, wenn nicht plötzlich eine Hand Krais Ketten gegen seine Brust gedrückt hätte.

    Der Vorsteher hatte Wachen mitgebracht, weitere Läufer in den weißen Hosen und Jacken, die niemand sonst in Efon trug. Sie warteten hinter ihrem Herrn wie ein blasser Fächer und hinderten Krai am Weitergehen. Jeder einzelne trug ein langes, schmales Messer an der Seite, und gab nicht einen Laut von sich. Sobald Krai einen Schritt zur Seite machte, wurde er vom nächsten Läufer wieder aufgehalten. Plötzlich war Krai der Keiler in einem Wald aus Speeren.

    Als er die Arme zur Seite schob, um sich einen Weg hindurch zu bahnen und die Perlen an seinen Handgelenken dabei leise klimperten, fing die Königin seinen Blick ein und bedeutete ihm mit einer winzigen Geste, zu warten. Die Königin wandte sich wieder dem Brief auf ihrem Schoß zu, den sie gerade gelesen haben musste. Die prächtigen Siegel lagen wie zerbrochene Grabplatten auf dem Stoff ihres grünen Wickelrocks.

    »Ich weiß die Geste zu schätzen.« Das Tagorisch Rial Gores war glasklar. »Aber du hättest dich deswegen nicht persönlich her bemühen müssen, Vorsteher.«

    »Ich weiß, Hoheit.« Man sah dem Vorsteher an, dass er seit langem nur noch Verwaltungsaufgaben wahrnahm. »Aber ich wollte die Gelegenheit nutzen und gleichzeitig meine Bitte persönlich vorbringen.«

    »Es ist eine große Bitte.«

    »Ich bitte im Namen von Ana, Tagore und Etale.«

    Krai schnaubte. Die Tagoren waren überzeugt davon, dass die drei Götter die gesamte Welt erschaffen hatten und über sie herrschten. Die Efoni glaubten nicht einmal, dass die Welt jemals einen Anfang genommen hatte.

    »Ich werde darüber nachdenken.«

    »Hoheit«, begann der Vorsteher. »Mich hört man nicht am Hofe. Euch schon. Wenn ich mit meinen Bedenken recht habe, dann bringt der Kaiser das ganze Reich in große Gefahr. Ihr müsst …« Aber Rial hob die Hand.

    »Ich werde darüber nachdenken.«

    Die Königin war dem Kaiser untertan und ein Bürger des Staates, den die Läufer repräsentierten. Aber sie war auch Gore – mindestens einer ihrer Vorfahren, nicht weiter entfernt als die Urgroßeltern, war selbst Kaiser gewesen.

    Es blieb dem Vorsteher nichts anderes übrig, als sich zu empfehlen. Seine Läufer folgten ihm wie dem Sog der Ebbe und ließen Krai als Treibgut zurück. Kurz sah er ihnen nach, während sie unter der halb zerbrochenen, steinernen Pergola verschwanden, und fragte sich, was wohl die tagorische Herrschaft bedrohen mochte. Seit dreitausend Jahren verfügten die Nachkommen ihres angeblichen Gottes über den ganzen Kontinent, wie es ihnen beliebte. Jeder Mensch trug das Bürgerzeichen, hatte die Schulen der Tagoren besucht, dort die Gemeinsame Sprache erlernt, und jeder war in den Steuerlisten verzeichnet. Überall standen ihre Tempel, verliefen ihre Straßen, über die ihre Läufer einen endlosen Strom von Botschaften trugen; ließ sich das Treue Volk aushalten.

    Tagoras Wurzelfäden durchzogen die Welt. Als Krai sich umdrehte, bemerkte er den Blick der Königin. Wenn sie lächelte, sah sie aus wie ein Mädchen mit unerklärlich weißen Haaren.

    »Hoheit, ich bitte um Verzeihung. Ich habe mich verspätet.«

    Sie winkte ihn näher. »Niam hat mir von der Jagd berichtet.«

    Krai legte den Wickelrock ab und trat in das Becken. Das Wasser war warm wie Blut und reichte ihm kaum bis zum Knie. »Wie geht es Euch heute?«

    »Auch du kannst nicht dafür sorgen, dass ich jünger werde, Krai.« Sie reichte den Brief einer Zofe, die ihn wortlos davontrug. »Aber es geht mir nicht schlechter als gestern.«

    Krai stieg auf das Podest, ging vor seiner Königin in die Hocke und streckte die Hände aus.

    »Darf ich, Hoheit?«

    Die Königin erhob sich und legte ihre Kleider ab. Die langen Haare fielen ihr frei über die Brüste bis zu den Hüften. Die Zofen zogen sich lautlos zurück. Sie waren allein im Garten.

    Vorsichtig begann Krai ihre bloßen, blau geäderten Füße zu befühlen. Sehr weich und bronzefarben war die Haut der Königin. Mit den Daumen fuhr er parallel um ihre beiden Knöchel, glitt dann höher über Fesseln und Waden. Die Knie waren etwas geschwollen; dicke Venen schlängelten sich wie Efons Flüsse unter der Haut.

    »Raan hat den Keiler getötet«, sagte die Königin. »Warum?«

    »Ihr kennt den Grund.«

    »Ich glaube, ihn zu kennen«, sagte sie. »Was ist mit dir, Fafa?«

    Von allen Menschen wusste nur Rial Gore, dass Krai der Fafa ein Lügner war. Als sie seinen Dienst erbat, hatte er es ihr stammelnd vor Scham gestanden. Sie verdiente nichts als die Wahrheit.

    »Herrin, bitte. Nicht jetzt.« Er hob ihre Arme. Sie zuckte nicht zusammen, als er über die Achseln fuhr.

    »Doch. Jetzt.«

    Kleiner als er und beinahe alt genug, um seine Großmutter zu sein, war sie die Trümmerkönigin. Er trat einen Schritt zurück. »Ihr seid gesund, Herrin, und so lebendig, wie man nur sein kann. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Euch das Frühstück nicht bereiten konnte. Zum Mittag werde ich Reisbrot und Schwalbeneier mit scharfem Öl und Obst anrichten.«

    »Gut. Später.« Sie setzte sich wieder.

    Krai strich seine Ketten glatt. Plötzlich war er müde. Die Königin wusste bereits alles. Also warum musste er es noch einmal erzählen?

    »Der Wald zwischen Roter Fels und den Drei Reihern wurde gestern Abend überflutet. Die ganze Gegend ist verwüstet. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Menschen dort bisher lebten, aber ich befürchte, es sind jetzt weniger.«

    »Ja«, sagte die Königin leise.

    »Ihr wisst, dass es das Treue Volk war.« Er deutete hinaus, den tagorischen Läufern hinterher. »Es gibt jetzt eine neue Insel hinter Roter Fels in der Bucht. Ganz aus Stein, und größer, als ich an einem halben Tag schwimmen kann. Gestern Mittag war sie noch nicht da.«

    Die Tagoren erzählten es so: Als der Gott der Ordnung und erste Kaiser Tagore vor dreitausend Jahre auf die Erde hinabstieg und sein Reich eroberte, wurde er von jedem einzelnen unterworfenen Volk bis auf eines irgendwann hintergangen. Nur dieses eine war stets treu geblieben. Zum Dank konnte das Treue Volk nun tun und lassen, was immer es wollte. Es konnte Steine fliegen lassen, und Wasser brennen mit ihrer Magie. Solange es den Kaisern treu blieb. Das war das Geschenk ihres Gottes.

    »Tagoren«, zischte Krai. »Sie waren noch vor mir dort und haben gezählt und untersucht und geordnet. Welche Bäume welchen Schaden genommen haben, wie hoch das Wasser stieg und wohin es abfloss. Welche Farbe der Schlamm hatte und wie weich er war.«

    »Tagoren«, stimmte die Königin zu.

    »Sie haben nicht gezählt, was die Flut vertrieben hat. Und wohin.«

    »Eine Rotte Wildschweine ist in den Trümmerpalast geflohen?«

    »In den Totengarten, ja«, bestätigte Krai. »Wir hatten auch Affen im Nebelsaal und ein Dutzend Möwen in der Küche.«

    Die Königin hatte ihre Kleider wieder angelegt und einen Handfächer hervor gezogen. Krai hätte schwören können, dass sie dahinter ein Lächeln verbarg.

    »Ja, das klingt lustig«, sagte er bitter. »Und wir haben sie alle wieder hinaus geschafft, aber wenn ihr mit Niam geredet habt …«

    »Das habe ich.« Die Königin ließ den Fächer sinken. »Und ich weiß, dass es im Totengarten nichts zu Lachen gab.«

    »Die Tagoren haben wilde Schweine zu den Geistern der Trümmerkönige geschickt.« Schon es auszusprechen, war ungeheuerlich. Wenn ein Leben starb, sich der Körper auflöste, gingen seine Geister in andere Leben über. In den Bäumen und Blumen des Totengartens, in den Käfern, Würmern, Vögeln und Fröschen lebten die Herrscher Efons und ihre Familien weiter. Von dort aus wurden sie eins mit ihrem Land. Die Tagoren hatten das Herz Efons verwüstet.

    »Also hast du was getan?«, fragte die Königin.

    »Ich habe einen Prinzen der Trümmerkönige den Anführer der Schweine töten lassen.«

    »Und dann?«

    »Habe ich das tote Schwein an seine Herren zurückgeschickt.«

    »Werden die Tagoren das verstehen? Dass wir ihnen ihren verstümmelten Boten vor die Füße werfen? Oder werden sie sich über das Geschenk aus dem Trümmerpalast freuen?«

    Krai hob die Schultern. »Das ist nicht wichtig. Die Geister wissen es.«

    »Dann hörst du sie inzwischen, Fafa?«

    »Nein.« Stille. Nichts als Stille. Wenn er hinausgriff, wenn er lauschte, wenn er wartete. Nichts sprach, nichts antwortete. Krai war allein.

    Rial sah ihn lange an. Braune Augen in einem holzfarbenen Gesicht.

    »Es liegt an Tagore«, presste Krai hervor. »An den Tagoren. Ihr wisst das. Am Reich. An der stumpfen Ordnung, die es allem aufzwingt. Wegen ihnen verstummen die Geister. Ich kann nur raten und hoffen. Ich weiß nichts! Aber das wird sich ändern. Ich finde einen Weg. Ich verspreche es, Hoheit.«

    Rial nickte, als stehe das außer jedem Zweifel.

    »Hast du je mit deinem Vater darüber gesprochen? Über die schweigenden Geister?«, fragte sie. »Mit einem der anderen Fafa?«

    Krai stellte sich seinen Vater vor. Einen strengen, klugen Mann, dessen Ketten schwer wogen. Er stellte sich die anderen Fafa vor, Männer wie Frauen, mit scharfen Augen und sanften, geschickten Fingern.

    »Mein Vater sagt, er hört die Stimmen«, erklärte er. »Die anderen sagen, sie hören die Stimmen.« Krai warf den Kopf hoch, starrte der Königin wild in die Augen. »Ich sage, ich höre die Stimmen!« Er lachte verzweifelt und wandte den Blick ab.

    Die Königin ließ ihn gewähren, bis er sich wieder in der Gewalt hatte, dann strich sie mit einem Finger unter seinem Kinn entlang. Er sah auf.

    »Du bist ein Fafa, Krai. Mein Fafa. Zweifle niemals daran. Brenne ihre Tempel nieder, wenn du willst«, erklärte sie ihm freundlich. »Töte das Treue Volk, wenn es nicht anders geht. Aber vergiss niemals, dass du zuallererst mein Fafa bist.«

    »Immer.«

    Sie schwiegen beide. Eine Libelle surrte heran und ließ sich auf der Schulter der Königin nieder. Rial schien in Krais Gesicht nach etwas zu suchen. Schließlich nickte sie.

    »Weißt du, was in dem Brief stand?«, fragte sie.

    Krai hob die Schultern. »Nein.«

    »Ich dagegen wusste, was darin stand, noch bevor der Vorsteher ihn mir brachte. Und er wusste, dass ich es wusste.«

    »Und weil er das alles wusste, wusste er auch schon, was ihr darüber denkt, und wollte euch von eurer Meinung abbringen.«

    Rial hob den Finger, als würde sie ihren schelmischen Enkel schelten.

    »Nein. Er wollte nur die Gelegenheit nutzen und mich für seine Dienste einspannen.«

    »Was ihr nicht zulassen werdet.«

    »Was ich vielleicht zulassen werde, falls es Efon nützt.«

    »Politik.«

    »Ja, Krai. Politik, Intrige und Spionage. Alles zusammen ist bekannt als Staatskunst. Und ich bin die Staatskünstlerin.«

    Krai senkte den Kopf, damit sie sein Lächeln nicht sah, obwohl sie es natürlich genau darauf angelegt hatte. »Entschuldigt, Hoheit.«

    Eine nachlässig elegante Handbewegung der Königin deutete Vergebung an. Die Libelle flog davon.

    »Es ist eine Einladung des Kaisers an seinen Hof.«

    Krai hob den Kopf, um zu protestieren. Rial kam ihm zuvor.

    »Der Kaiser wünscht, dass ich ihm den kommenden Winter über bis zum Frühlingsanfang an Tagore betritt die Welt in Atai Gesellschaft leiste.«

    »Das kann er nicht fordern!« Krai sprang auf. »Nicht den Erben und die Königin!« Raans Vater war der Kronprinz, saß im Rat des Kaisers und lebte seit Jahren an dessen Hof, einen halben Kontinent entfernt.

    »Natürlich kann er. Er ist der Kaiser. Und darüber hinaus mein Cousin, nicht wahr? Die Einladung kommt weder unerwartet noch ungelegen. Ein wenig früher vielleicht, als gedacht, aber das kann ich Ssett kaum zum Vorwurf machen.«

    »Der Kronprinz hat das geplant?«

    »Und Gri bleibt natürlich hier«, erläuterte die Königin, als habe Krai gar nichts gesagt. »Sie ist alt genug. Es wird ohnehin Zeit für sie.«

    Krai sah die Enkelin der Königin fast nie. Gri von Efon hielt das Lehen ihres Vaters auf den Bleiernen Inseln.

    »Meine Dame, Herrin, Hoheit, die Forderung des Kaisers ist trotzdem nicht annehmbar. Wie Ihr eben selbst bemerkt habt, werdet Ihr nicht jünger.« Es tat Krai weh, so offen zu sein. »Ihr könnt nicht den gesamten Herbst über nach Norden reisen, in die Kälte, um dann genau dort den Winter zu verbringen. Efon hat nicht verdient, dass seine Staatskünstlerin sich die Gesundheit ruiniert, nur um den Launen eines entfernten Verwandten nachzugeben.«

    »Nun, deshalb wird mein Fafa mich begleiten.«

    »Rial!« Vor Schreck blökte er wie eine Ziege.

    »Deine Königin«, erinnerte sie ihn. Er senkte den Kopf.

    »Hoheit, Ihr mögt mich mitnehmen, gegen meinen Willen, wenn Ihr es wünscht. Aber was soll das helfen? Die Geister dort sind andere. Wenn überhaupt noch welche im Herzen der Ordnung leben, wohnen sie dennoch nicht in meinen Ketten. Ich könnte Euch dort nicht dienen.«

    »Du wirst Vorräte mitnehmen«, sagte die Königin. »Ein Fafa hat kein Zuhause, er hat die Welt. Du wirst die fremden Geister kennenlernen, wie du die Geister hier kennengelernt hast.«

    »Sei nicht grausam, Rial«, bat er.

    »Krai«, sagte sie sanft. »Wenn es ist, wie du sagst, wenn du keine Verbindung zu den Geistern hast …«

    Er nickte.

    »Dann bist du in Atai auch nicht nutzloser als hier.«

    Was sollte ein Fafa seiner Königin darauf noch antworten?

    Aber Krai antwortete natürlich trotzdem noch eine ganze Menge. Die Königin lächelte und hörte sich alles an und sagte am Ende doch nur: »Ich bin die Königin, Krai.«

    ***

    Ein Fafa hat kein Zuhause, er hat die Welt.

    Krai saß auf einem heraus gebrochenen Stück Mauer neben dem Haupttor des Palastes, den Rücken beinahe an den noch kühlen Stein gelehnt. Während die aufgehende Sonne den Nebel zwischen den Bäumen fortleckte, stellte er fest, dass der Satz eine Lüge war. Er spürte einen Riss in seinem Herzen, einen Schmerz, der sich nicht stillen ließ. Krai wollte nicht fort von diesen Bäumen, den Flüssen, den schreienden Vögeln und brummenden Insekten. Der Satz sollte geändert werden, entschied er. Ein Fafa hat nur ein Zuhause. Sein sind die Wälder und Flüsse Efons.

    Auch, dass ein Fafa nur einen Beutel hatte, entsprach nicht länger der Wahrheit. Krai hatte den Befehl der Königin befolgt, und nun standen zwei weitere Bündel voller unverzichtbarer Dinge neben ihm. Doch in keinen Beutel dieser Welt passte ganz Efon.

    Die Vorbereitungen für einen königlichen Staatsbesuch am kaiserlichen Hof waren nicht in zwei Tagen erledigt. Krai hatte beinahe zwei Monate Aufschub bekommen, um mit sich und der Welt zu hadern, aber heute war es soweit.

    Die feuchte Luft erwärmte sich, ließ schwere Düfte von Erde und Blüten aufsteigen. In den Ritzen der Steinplatten zwischen Tor und Fluss wucherten Moos und Gräser. Allmählich füllte sich der Platz mit Menschen. Manche setzten sich auf den Boden, manche hatten Obst, gegrillten Fisch oder Blumenkränze dabei, die sie verkauften, und viele hatten Schirme mitgebracht, die wie leuchtende Pilze in die Höhe schossen.

    Plötzlich fiel ein riesiger Schemen direkt vor Krai aus dem Himmel, landete weich und federte wieder hoch.

    Krai verschluckte sich vor Schreck. Seine Ketten rasselten.

    Hustend und durch tränende Augen erkannte er Raan Gore, der fröhlich den Kopf schüttelte. Seit dem Tag der Jagd hatten sie sich nicht mehr gesehen, und Krai war beruhigt, dass der Junge seinen üblichen Wahnsinn wiedergefunden zu haben schien.

    »Oh, Krai, tut mir leid. Das wollte ich nicht. Geht es dir gut?«

    Obwohl Krai ihm nicht einen Moment lang glaubte, dass es ihm wirklich leidtat, konnte er dem Jungen trotzdem nicht böse sein. Es lag am Grinsen, vermutete er. Nur ein wahrhaft sonniger Geist konnte einen solchen Gesichtsausdruck hervorbringen.

    »Wo bist du denn hergekommen?«, fragte er mühsam.

    Raan zeigte mit dem Daumen nach oben. Krai folgte seinem Blick und schaute an der Mauer hinauf. Der Trümmerpalast war auch vor dreitausend Jahren kein himmelstürmender Prachtbau gewesen. Heute war das schwarze Hauptportal halb im Boden versunken und kaum höher als ein Stockwerk.

    »Es sind ja vielleicht Trümmer, aber zwischen Trümmern stecken jede Menge unentdeckte Wege. Sagt Großmutter.«

    Krai dachte an die Königin und lächelte. »Ich glaube trotzdem nicht, dass Rial Gore diesen Weg nehmen wird.«

    Der Junge schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Aber was Raan Gore tut, kümmert ja niemanden.«

    Krai schob ihn ein wenig zur Seite und betrachtete die versammelte Menge. Es stimmte. Niemand achtete auf den Jungen in der roten Hose und dem Tuch um den Hals, der gerade vom Tor gesprungen war. Es stimmte wohl, weil Raan der jüngste Sohn des Kronprinzen war. Das einzige Kind aus dessen zweiter, politisch motivierter Ehe mit einer Verwandten des Kaisers. Solange seine Schwester Gri und ihre Cousinen lebten, blieb Raan Gore lediglich die erfüllte Klausel eines diplomatischen Abkommens.

    »Ich kann dir versprechen, dass du zumindest meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit hattest.« Krai hustete ein letztes Mal und spuckte aus.

    Raan lachte und ließ sich neben ihm auf den Stein fallen.

    Die Hände des Prinzen und seine Füße waren unaufhörlich in Bewegung. Flink war er, im Kopf, im Geist, im Körper. Neben ihm fühlte sich jeder andere schwerfällig. Aber plötzlich wurde Raan ganz still und warf dem Fafa einen ungewöhnlich ruhigen Blick zu. Er schob seinen Schal zu Seite. Krai sah ein langes Lederband mit zwei Keiler-Zähnen, die direkt über den Brandnarben des Bürgerzeichens hingen. Krai hatte genau das gleiche Zeichen, einen schlichten Kreis mit einem Kreuz in der Mitte. Jeder Bürger Tagoras bekam es an seinem fünften Geburtstag. Es war der Beweis, dass man ein Teil der Ordnung war. Wie bei jedem erfahrenen Fafa verbargen Krais Ketten seines vollständig.

    Krai griff nach den Hauern und drehte sie zwischen den Fingern.

    »Trägst du sie mit Absicht in dieser Länge?«

    »Hmm?« Raan schielte nach unten. »Ist es falsch so?«

    »Nein. Es ist genau richtig.« Efon besiegte Tagora. Die Zeichen des Sieges über die Ordnung hingen über dem Zeichen der Unterwerfung unter die Ordnung.

    »Ich war mir nicht sicher.« Raan zerrte den Schal noch ein wenig weiter zur Seite. »Sieh mal, die Haderer habe ich hier.«

    Die Eckzähne im Unterkiefer waren die Hauer, die kleineren im Oberkiefer die Haderer. Raan trug sie an einer viel kürzeren Silberkette um den Hals, an der auch andere kleine Plättchen aus Perlmutt, Silber und Schildpatt hingen.

    »Was ist das?«

    Der Junge errötete tatsächlich ein bisschen. »Eine Ehekette. Jedesmal, wenn dir etwas Besonderes passiert, knüpfst du eine Erinnerung an die Kette. Wenn du heiratest, tauscht ihr die Ketten aus. Dann hat jeder das Leben des anderen, und von da an bindet man seine neuen Erinnerungen an diese Kette. Meine Mutter hat ihre meinem Vater gegeben.«

    Krai fragte sich, ob Ssett Gore die Kette trug. Er und Abela Gore hatten nie viel Interesse am Leben des anderen gezeigt.

    »Und wen hast du vor zu heiraten?«, fragte er stattdessen. Das brachte ihm die erhoffte Welle Verlegenheit und Füßescharren von Raan ein.

    »Keine Ahnung. Aber ich schätze, es muss ja einen Grund geben, warum Großmutter mich mitnimmt, oder? An Vater wird es ja kaum liegen.«

    Das war viel zu bitter für einen siebzehnjährigen Jungen. Krai zog ihn an der Hauerkette näher, als wolle er die Trophäe eingehender betrachten. »Vielleicht will sie ihm unter die Nase reiben, was er verpasst hat.«

    Raan kämpfte sich frei und rückte Ketten und Schal zurecht, als wolle er sichergehen, dass es auch etwas Bewunderungswürdiges zu präsentieren gab.

    Krai sah sich um. »Wo hast du dein Gepäck?«

    Der Junge schaute verwirrt, dann lachte er, aber nur kurz. »Krai, ich bin trotz allem wirklich ein echter Prinz von Efon. Und ich bin ein Gore auf dem Weg nach Atai, in die Goldene Stadt, Sitz meines göttlichen Vorfahren, des Herrn der Ordnung. Mein Gepäck, alle zwölf Kisten Staatsroben, Jagdgewänder, Winterkleidung und was da sonst noch zusammen gekommen ist, Gastgeschenke und so weiter, ist bereits verstaut und auf dem Weg.«

    Er stieß mit dem Fuß an Krais Bündel. »Wie ist das so«, fragte er plötzlich leise. »Wenn man sich um nichts zu kümmern braucht, als um den Inhalt eines einzigen Beutels?«

    Der Fafa schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich um das Leben der Königin.« Er knuffte Raan in die Seite. »Wie ist das so, wenn man sich um nichts Wichtiges kümmern muss?«

    »Ah, getroffen, Fafa.« Raan griff sich ans Herz, und dann trat Rial Gore, Königin von Efon, aus dem Tor ihres zertrümmerten Palastes. Krai hätte geschworen, dass in diesem Moment sogar die Mücken die Flügel still hielten. Zusammen mit dem versammelten Volk sank er auf die Knie.

    Eine der Zofen hielt einen violetten, mit Goldfäden bestickten Schirm über die Königin, die mit nackten Füßen und ohne zu zögern über die Platten schritt.

    Krai hatte nicht zuletzt deshalb den gesamten Morgen auf diesem Platz verbracht, damit niemand den frisch gefegten Boden verunreinigte oder gar Scherben hinterließ.

    Hinter der Königin folgte der Hofstaat wie eine feierliche Schleppe. Als Rial Gore stehenblieb, formierte sich der Staat in einem Halbkreis hinter ihr und verdeckte Krai und Raan, die aufstanden, um ihre Plätze im Hintergrund einzunehmen.

    Als hätte es eine verborgene Verabredung gegeben – und natürlich hatte es eine gegeben – ging ein Raunen durch das Volk, und eine Gasse zum Fluss öffnete sich.

    An den Anleger glitt eine Barke ohne Dach. Zwanzig vergoldete Ruder hoben sich in einer synchronen Bewegung in den Himmel, hinterließen einen Vorhang aus glitzernden Tropfen, und eine tiefe Trommel im Bug schlug ein einziges Mal.

    In der Mitte des Bootes erhob sich eine große Gestalt, geschmeidig wie die perlenden Wassertropfen. Sie trat ohne zu schwanken, oder den bodenlangen Rock mit nur einem Spritzer zu benetzen, an Land.

    Siebenundzwanzig war Gri von Efon, und schien nicht völlig in diese Welt zu gehören. Zu leicht war ihr Schritt, zu still ihr Gesicht. Die schwarzen Haare fielen ihr glatt bis auf die Hüften. Ein Regenschauer aus Perlmuttplättchen hing darin. Im Trümmerpalast ging das Gerücht um, die Prinzessin lächele nur, wenn sie ein Rätsel gelöst oder etwas Neues erfahren habe.

    So trafen vor dem Tor des Trümmerpalastes, zwischen Wasser und Stein, Heute und Übermorgen aufeinander.

    Gri schritt der Königin entgegen und sank vor ihr auf die Knie. Die Menschen schwiegen. Die Luft wurde noch drückender.

    Rial schaute über ihre Enkeltochter hinweg. Über die Köpfe der Menschen, auf den Fluss, auf die Wälder und Häuser am anderen Ufer und zurück zu ihrem Volk.

    »Eine Königin ist die Mutter ihres Volkes und ihres Landes«, sagte sie, und noch der letzte schwerhörige Greis in der hintersten Reihe verstand sie. Ihre Stimme hatte Flügel, die weit trugen.

    »Deshalb ist der Platz der Königin in ihrer Heimat. Trotzdem werde ich Efon heute verlassen.«

    Ein Seufzen flatterte über den Platz.

    »Und es wird ein neuer Sommer kommen, bevor ich zurückkehre.«

    Die kniende Gri schien in der Welt ihrer Großmutter nicht zu existieren.

    »Ich habe meinen Sohn und Erben, Ssett Gore, seit Jahren nicht gesehen, und wie jede Mutter weiß, ist es nicht gut, wenn Familien zu lange einander fern sind. Noch dazu hat mich mein Cousin, der Kaiser in Atai, in sein Heim eingeladen. Ihn habe ich nicht mehr gesehen, seit wir beide jung und unverantwortlich waren.«

    Verhaltenes Kichern in der Menge.

    »Nun ist hier eine junge Frau«, sagte Rial und nahm zum ersten Mal Notiz von Gri. »Sie ist Gri von Efon, die älteste Tochter meines ältesten Sohnes. Eine kluge Frau.«

    Jetzt erst lächelte Rial Gore.

    »Ich gebe euch Gri von Efon als Regentin. Bis zu meiner Rückkehr, oder der Rückkehr meines Sohnes, wird sie die Mutter Efons sein.«

    Rial Gore nahm sich einen Moment und schaute in die Gesichter der Menge.

    »Kennt irgendjemand hier einen Grund, der dagegenspräche, dieser Frau diese Verantwortung aufzubürden?«

    Statt Protest oder Stille brandete Jubel auf. Gri war jung und schön und ernst, und Rial Gore hatte sie ausgewählt.

    Die Königin beugte sich zu ihrer Enkelin herab und hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel. Gri ergriff die Hände der alten Frau und führte sie an ihre Lippen. Die beiden umarmten einander einen Augenblick, und Krai sah sie ein paar geflüsterte Worte austauschen.

    Blütenblätter und Federn landeten zu ihren Füßen, als die Königin mitten durch ihr Volk zur wartenden Barke schritt. Die Zofen – Anmut, Schirme und versteckte Waffen – folgten ihr.

    An Krais Seite bewegte sich Raan, als würde er aus einem Traum erwachen. Der Junge strich sich durch den Haarkamm, nahm die Schultern zurück und machte sich auf den Weg. Doch anstatt wie vorgesehen seiner Großmutter zu folgen, ging er wie beiläufig zu Gri und legte ihr ebenso beiläufig einen bunt schillernden Feder-Fächer zu Füßen.

    Krai stand hinter der Prinzessin und konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er beobachtete, wie sie den Fächer langsam aufhob und an ihre Wange legte. Dann führte sie einen kurzen, verspielten Schlag in Richtung ihres kleinen Bruders. Raans Augen leuchteten auf, er verneigte sich wie ein vollendeter Höfling und schritt federnd zur Barke.

    Krai atmete noch einmal tief ein, schulterte seine Bündel und nahm seinen eigenen Platz im Gefolge ein. Seine Ketten klapperten mit jedem Schritt, und er versuchte, daran zu glauben, dass in diesen Ketten seine Heimat eingeschlossen war und er sie deshalb niemals ganz verlassen konnte.

    II.

    »Wenn man so lange unterwegs ist, begreift man irgendwann, wie groß Tagora wirklich ist. Dann begegnet man all diesen Menschen, und sie sind alle unterschiedlich. Dann wird dir klar, dass jeder einzelne, der an dir vorbei läuft, genauso echt und lebendig und kompliziert ist wie du oder ich. Dann wird dir schwindelig. Denn das ganze lächerliche Tagora ist voll von Menschen.

    Meinst du, Großmutter hat mich deswegen mitgenommen?«

    (Raan Gore an Gri von Efon, unterwegs, den zwölften Tag im zehnten Monat im Jahr dreitausendeinhundertsiebenundvierzig seit der Ordnung)

    Über dem Tor hingen drei brennende Laternen und am Himmel, der zwischen den Bäumen hindurchblitzte, ein beinahe voller Mond. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen.

    In den Ritzen der exakt gefügten Mauer saß nicht ein Flecken Moos. Sie war dreimal so hoch wie ein Mann, und Krai ahnte die leichte Krümmung der ungeheuren Kreisform mehr, als dass er sie sah. Die Enden verloren sich im Schatten. Die Baumspitzen, die über der Mauerkrone hervorblitzten, deckten die Absurdität der Szenerie auf. Hinter der Mauer setzte sich der Wald unverändert fort.

    Seit drei Neuntagen zogen sie schon durch den immer gleichen Wald zwischen flachen Hügeln. Im Vergleich zu den Nessessvennja im Totengarten schienen Krai die Bäume hier klein. Manche hatten harte Nadeln statt Blättern; der Boden war bedeckt von totem, braunem Laub, das nur langsam verrottete. Vor allem roch es ganz anders. Nicht so süß, nicht so reich. Wild, aber auf eine andere, schärfere Art als zu Hause.

    Selbst wenn Krai die Geister dieses Waldes hören könnte, wusste er nicht, ob er ihre Sprache verstehen würde.

    Es gab hier Vögel, Blüten, Insekten, sogar Frösche, genau wie zu Hause. Und doch fühlte er sich, als lege ihm der Tod in jeder stillen Minute die Hand auf die Schulter. Als zöge er in ein sterbendes Land.

    Die Hand des Wächters, der am Tor das Bürgerzeichen auf Krais Brust befühlte, war dagegen überraschend warm. Anscheinend reichte den beiden Wachen in ihren grauen Gambesons das schwache Licht nicht, um das Alter der Narben abschätzen zu können. Oder vielleicht sehnen sie sich nach ein wenig ehrlicher Haut, dachte Krai und ordnete seine Ketten über dem Zeichen.

    Hinter ihm wurden die mit Eisen verstärkten Flügeltore so geräuschlos geschlossen, wie sie aufgeschwungen waren. Krai dachte an Gatter und Schlachthöfe, bis er begriff, was da im Dunkeln vor ihm lag. Die Tagoren hatten den Wald aufgeräumt.

    Die gepflasterte Straße lief weiter, ein glänzendes Band im silbernen Mondlicht, und verlor sich schließlich in der Dunkelheit, obwohl der Boden sanft abfiel.

    Hier gab es immer noch Bäume. Wunderschöne, majestätische Laubbäume. Viele mit Stämmen, die sich direkt über dem Boden verzweigten, breit und mit weit streichendem Wurzelwerk. Krai blinzelte in der Dunkelheit und folgte mit dem Blick dem Muster aus schwarzen Ästen vor dem dunkelblauen Himmel. Nirgends fand er einen kahlen Ast oder eine gesplitterte Bruchstelle, nirgends Schling- oder Kletterpflanzen. Keine Büsche. Keine Dickichte.

    Vermutlich wurde die Rinde regelmäßig poliert.

    Krai folgte der Kolonne, weil er schon den ganzen Tag der Kolonne gefolgt war. Seine Füße würden nicht anhalten, bevor sie gegen eine Wand stießen, aber seine Blicke verfingen sich in den Zweigen.

    Gepflasterte Pfade gingen in rechten Winkeln von der Straße ab, gerade breit genug für einen Menschen mit einer Schubkarre, vermutete der Fafa. Und alle fünfzehn Schritt wurden sie parallel zur Straße von weiteren gepflasterten Wegen gekreuzt. In den auf diese Weise entstandenen Quadraten wurzelte immer exakt ein Baum, immer exakt in der Mitte. Ein sorgfältig gepflegter Baum, der sich selbst genügen musste, denn andere Gesellschaft hatte er nicht. Waren sie einsam? Oder arrogant? Wie glatt war ihre Rinde wirklich? Schließlich konnte Krai nicht länger widerstehen, verließ die Straße und ließ sich von dem gezähmten Wald verschlucken. Ganz nah trat er an den Stamm, und letztlich war es der Geruch der Rinde, der an einer Erinnerung zupfte.

    Natürlich, dachte er. Das hier ist Wanderhain. Die Heimat der Wanderwurzeln. Er sah sich um und nickte. Dies war ein Totenort, aber die Toten hielten kaum Schrecken für einen Fafa.

    So hatte er sich diesen Ort nicht vorgestellt. Aber was hatte er denn gedacht, was die Tagoren mit ihren Bäumen machten? Mit den wertvollsten Bäumen der Welt? Selbstverständlich stellten

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