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Das Lied der endlosen Trockenheit: Ein Roman aus den kurdischen Bergen
Das Lied der endlosen Trockenheit: Ein Roman aus den kurdischen Bergen
Das Lied der endlosen Trockenheit: Ein Roman aus den kurdischen Bergen
Ebook326 pages9 hours

Das Lied der endlosen Trockenheit: Ein Roman aus den kurdischen Bergen

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About this ebook

Der dreizehnjährige Rodi ist gerade einmal ein Jahr alt, als seine yezidische Familie aus seiner Heimat in den kurdischen Bergen fliehen muss. Da Rodis Vater seither verschollen ist, finden er und seine Mutter Unterschlupf bei Rodis tyrannischem Onkel, der in einem yezidisch kurdischen Dorf in der Türkei lebt. Dort lernt der Junge nicht nur die strikten Regeln seiner Religion in all ihrer Widersprüchlichkeit kennen, sondern erlebt auch hautnah die grausame Unterdrückung der Yeziden in mitten der islamischen Welt. In seinem fesselnden Roman entführt Jan Ilhan Kizilhan den Leser auf eine faszinierende Reise in die yezidische Kultur und gibt tiefe Einblicke in das Schicksal einer religiösen Gemeinschaft, die nicht erst seit dem Vormarsch des IS unter massiver Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung zu leiden hat. Der dreizehnjährige Rodi lebt mit seiner Mutter in einem kleinen kurdischen Dorf in der Türkei. Tagtäglich machen ihm die strikten Moralvorstellungen seines herrschsüchtigen Onkels zu schaffen, ein orthodoxer Yezide, der seinen Neffen mit harter Hand zu erziehen versucht. Aber auch die allgegenwärtige Unterdrückung der Yeziden durch den türkischen Offizier Ihsan Bey lastet schwer auf Rodis jungen Schultern. Doch die Freundschaft zu der alten yezidischen Erzählerin Hazal gibt Rodi Halt und lässt ihn immer wieder gegen die strengen Regeln der Ältesten aufbegehren. Als das Dorf von einer langen Dürre bedroht wird, taucht wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller alter Mann auf.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 20, 2017
ISBN9783958901292
Das Lied der endlosen Trockenheit: Ein Roman aus den kurdischen Bergen

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    Das Lied der endlosen Trockenheit - Jan Ilhan Kizilhan

    1. eBook-Ausgabe 2017

    © 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München

    Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Kniel Synnatzschke

    Redaktion: Caroline Draeger, Langenhagen

    Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

    Konvertierung: Brockhaus/Commission

    ePub-ISBN: 978-3-95890-129-2

    ePDF-ISBN: 978-3-95890-130-8

    Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

    Alle Rechte vorbehalten.

    www.europa-verlag.com

    DER AGHA saß auf dem Balkon seines Hauses, blickte hinaus auf die weiten Felder, die schier endlos erscheinende Ebene und die weiten Berge auf der anderen Seite. Er rauchte seinen Tabak und trank seinen Raki; mit etwas Wasser vermischt, hatte dieser eine milchige Farbe. Die Sonne strahlte, und nur der Schatten des Daches schützte in dieser Mittagshitze vor der sengenden Sonne. Der Agha schwitzte. Auf seinem dicken, schwer herabhängenden Schnurrbart, den er frisch geschwärzt hatte, glänzten Tropfen. Vom Raki noch mehr erhitzt, schwitzte er am ganzen Körper. Ein Krug, gefüllt mit kaltem Wasser, stand neben ihm, und er versuchte, sich mit einem Schluck zu erfrischen. Rechts von ihm harrte ich aus, sein gedungener Khulam, sein Knecht und Diener. Und zu seiner linken Seite saß mit gekreuzten Beinen auf einem Samtkissen Gule, ein hübsches Mädchen, welches nicht älter war als fünfzehn, das ihm seinen Tabak immer wieder neu zu Zigaretten drehte, sie anzündete und ihm seinen Raki oder Wasser nachfüllte.

    Der Agha senkte schläfrig die Augenlider und erfreute sich an dieser Welt. Für den Agha hatte Allah alles wohl geordnet. Was für eine herrliche Schöpfung war diese Welt, nichts fehlte in ihr. War man hungrig, gab es Fleisch und Brot, Eintopf und Reis. War man durstig, gab es dieses erlesene Wasser, das sich Raki nannte. War man schläfrig, genoss man den Schlaf, hatte Allah doch den Schlaf geschaffen, der besonders nach dem Mittagessen in der Hitze herrlich war und dem man sich rückhaltlos hingeben durfte. War man zornig, verfügte man über die Peitsche und den Rücken seiner Khulams oder seiner Dorfbewohner. War man melancholisch gestimmt, wurden Sänger einbestellt, die eigens für ihn Lieder dichteten und für ihn sangen.

    Der Agha riss mich aus den Gedanken: »Ruf die Sänger. Sie sollen singen.« Noch bevor ich mich umdrehte, hörte ich den Agha erneut: »Rodi, dieses Dorf gefällt mir wirklich«, dabei schaute er in Richtung des Dorfes nicht weit von seinem riesigen Anwesen. »Es sind alles brave und arbeitsame Menschen. Es ist ein wohlhabendes Dorf, und ich glaube, ich bin auch nicht so schlecht zu ihnen.« Dabei schaute er mich an, als erwartete er, dass ich zustimmte. »Ich will nur meine Ruhe«, fuhr der Agha fort, »meinen Raki, meine Frauen und keinen Ärger mit dem Offizier Ihsan Bey.« Er blickte nach links, wo Gule saß.

    Gule war gerade zwei Jahre älter als ich, und was musste sie alles für diesen Agha tun, dachte ich. Doch der Raki tat seine Wirkung, und der Agha war gesprächig geworden und vergaß, dass ich ein dreizehnjähriger Junge war, von seinem Onkel dazu verdammt, einen Monat lang für den Agha zu arbeiten.

    Aber dieser Agha ließ mir keine Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Er sagte: »Es sind wirklich nette Menschen. Sie haben auch dieses Jahr meine Räume wieder mit Geschenken zum Ramadan und zum Opferfest gefüllt: Käse, Fleisch, Eier, Getreide und Obst. Und sie schicken wie dein Onkel, Rodi, jeden Monat fünf bis zehn junge Leute, die mir dienen – und noch mehr. Nun geh und hol die Sänger. Sie sollen mir von den Kämpfen und Siegen meiner Vorfahren singen.«

    Ich lief ins Haus zu Ali, der dort für alles zuständig war, und sagte Bescheid.

    Ali aber hatte dem Gespräch zugehört und schon nach den Sängern gerufen, die in Windeseile eintrafen und nach einer kurzen Begrüßung begannen, mit Liedern den Agha und seine Vorfahren zu preisen. Sie lobten ihn in den Himmel: Der Agha und sein ganzer Stamm waren Helden.

    Mal wechselten sich die Sänger ab oder sie sangen gemeinsam. Doch ich war damit beschäftigt, neuen Raki herbeizuschaffen, sodass ich nie ein Lied zu Ende hören konnte.

    Endlich rief mich Ali und sagte: »Geh jetzt nach Hause. Wir brauchen dich nicht mehr, und außerdem ist dein Monat um. Morgen kommen andere.«

    Also verließ ich das große Anwesen und lief die Straße entlang bis ins Dorf.

    »Der Agha ist guter Laune«, murmelte Kazim, der ein kleines Teehaus im Dorfzentrum hatte. »Du bist früher als sonst hier«, sagte er, während er seine Gäste bediente. »Das haben wir wahrscheinlich dem Raki zu verdanken.«

    »Das haben wir gewiss Gule zu verdanken«, sagte Gavan mit einem bitteren Lächeln.

    »Es ist ein glücklicher Zufall, der ihn gerade hier zum Agha gemacht hat«, murmelte Cemil, der Bruder des Pirs, unseres Priesters. Cemil gedachte der Ahnen und seufzte. Dann redete er sich warm: »Einmal haben die Yeziden das ganze Land regiert. Die Kurden, die jetzt Moslems sind, waren früher alle Yeziden. Doch die Yeziden wurden mit Feuer und Schwert zum Islam bekehrt. Nur wir und einige wenige sind übrig geblieben. Was für eine Ungerechtigkeit. Auch die Ahnen des heutigen Agha waren einmal Yeziden, aber jetzt ist er ein strenggläubiger Moslem und hasst uns, weil wir Yeziden geblieben sind. Das Rad der Geschichte dreht sich. Kazim, komm und gib dem Jungen einen Tee!«

    Das Wetter war so heiß, dass man unweigerlich schwitzte, und der Tee war gut gegen meinen Durst. Vor dem Teehaus waren kleine Holzstühle mit dicker Plastikbespannung aufgestellt, und die Leute unterhielten sich über die Ungerechtigkeit der Moslems, die uns Yeziden gezwungen hatten, aus den kurdischen Bergen mit ihren Weiden und ihrem fruchtbaren Boden hierher umzuziehen. Sie beklagten ihr Schicksal, auf einer dürren und trockenen Ebene zu leben. Die Schuldigen waren schon lange ausgemacht: der Agha, der ihr Land für sich nutzte und moslemische Kurden überall angesiedelt hatte. Und die türkischen Soldaten, die keine rebellischen Kurden in den Bergen duldeten. Warum das so war, wusste ich nicht, aber nach Gründen zu fragen war aussichtslos. Die Antwort war immer die gleiche: Es ist so, weil Khoda, weil Gott, der Allmächtige, es so will.

    Selim, der als einer der ältesten Bewohner des Dorfes zu den Gemeindeältesten zählte, näherte sich dem Teehaus. Er war, trotz seines Alters, ein kräftiger Mann, der etliche Jahre von einem Ort zum anderen geflohen war, bis er in unser Dorf kam. Früher war er einmal Schmuggler und Kämpfer für die Kurden im Irak gegen die Araber gewesen, aber als Yezide fand er nur unter seinesgleichen Frieden. So glaubte er jedenfalls. Er hatte lange dünne Haarsträhnen, die in unserer Gegend unüblich waren, aber er hatte sie von den Yeziden in Lalisch übernommen, und dort befindet sich schließlich das Heiligtum der Yeziden. Nun war er alt geworden, und auch sein Glaube war alt. Viel hatte er mit seinen Augen gesehen, und viel hatte er erlebt; er hatte genug davon, mehr als genug, und hatte alles satt, aber er schämte sich, es einzugestehen. Als er das Teehaus betrat, erhoben sich einige Bauern und baten ihn, sich zu ihnen zu setzen.

    Kazim fragte ihn wie jedes Jahr: »Onkel Selim, jeder feiert den Neujahrsbeginn nach dem christlichen Kalender am ersten Januar, sogar die Moslems tun es. Warum wir nicht?«

    Selim drehte sich um, ließ den Blick über die sitzende Menge wandern und begann sofort, sie zu beschimpfen: »Ihr habt es nicht verdient, zu einer so alten Religion zu gehören. Nur, weil ein anderer etwas tut, müssen wir es nicht nachmachen. Außerdem ist unsere Religion älter als die der anderen. Wir respektieren sie, müssen aber nicht so werden wie sie.«

    Kazim fragte weiter: »Was hat es mit dem Carsema Sor, dem Roten Mittwoch auf sich?«

    »Im Jenseits wird Gott dir als Erstes einen neuen Kopf geben müssen, denn dieser arbeitet nicht«, antwortete Selim trocken.

    Einige lachten, doch Kazim gefiel es offensichtlich, wie der alte Selim ihn beschimpfte.

    Selim fuhr fort: »Das Neujahr wird bei uns am ersten Mittwoch im April gefeiert, so wie Newroz am einundzwanzigsten März, das Neujahrsfest der Kurden. Ihr wisst, dass der Mittwoch unser Ruhetag ist, und es ist uns verboten, uns am Mittwoch zu waschen oder bei einer Frau zu sein.«

    Kazim gefiel dieser Gedanke nicht, und er warf ein: »Hey lo, wer soll sich daran halten.«

    Das reichte. Prompt ließ Selim wieder neue Verwünschungen auf Kazim herabprasseln. Aber Kazim hatte weiterhin Freude daran.

    Selim erklärte schließlich: »Am Festtag muss in jedem Haus Fleisch sein, wobei das Vieh bereits am Vortag geschlachtet und das Fleisch in der Nacht zubereitet werden soll. Merkt euch das! Denn am Mittwochmorgen muss es von den Priestern gesegnet werden. Auch der Toten wird gedacht. Dann begeben sich am Nachmittag die Frauen auf den Friedhof und legen Essen auf die Gräber. Das Fest wird zu Ehren von Tausi Melek gefeiert, unserem obersten Engel, gesegnet sei sein Name. Denn an einem Mittwoch im April hat sich vor Tausenden von Jahren Tausi Melek auf die Erde begeben. Er hat eine Ratsversammlung abgehalten, in der er das alte Jahr bedacht und bewertet und das kommende Jahr geplant hat. Deswegen, und ich hoffe, ihr wisst es, dürfen wir Yeziden niemals im April Hochzeiten abhalten. Merkt euch das, und handelt danach. Yezide zu sein ist nicht einfach, aber es ist eine gute und reine Religion.«

    Die Leute im Teehaus bedankten sich für seine Worte, und Kazim trat auf Selim zu und küsste ihm die Hand.

    Selim sagte zu ihm: »Gott beschütze dich und deine Familie. Aber ich weiß, du bist der Sohn eines Esels und machst nur deine Witze über alles, aber du bist ein guter Yezide. Das rettet dich vor meinen Flüchen.« Und an die Leute im Teehaus gewandt, fügte er hinzu: »Gott beschütze euch, aber ich habe keine Zeit mehr. Bald ist unser heiliger Feiertag, und ich bin auf dem Wege zum Pir, wo wir, die Ältesten, eine Zusammenkunft haben. Wir haben viel zu tun.« Dann schwieg er einen Augenblick, drehte sich um und ließ den Stock bedeutungsvoll auf einen großen Stein herabsausen, der vor dem Eingang des Teehauses lag.

    Mit Blick auf das Haus des Priesters stöhnte er und fluchte leise vor sich hin – doch so, dass wir alle es hören konnten: »Das ist mal ein Priester, der weder an Gott glaubt noch an Tausi Melek, unseren obersten Engel, den Engel Pfau. Er hat sich sein Haus am allerhöchsten Punkt im ganzen Dorf gebaut. Welcher Yezide hat hier schon ein Koshk, ein zweistöckiges Haus, und dazu noch aus Beton? Wir anderen sind froh, wenn unsere Dächer aus Stroh und Lehm nicht eines Tages über uns zusammenbrechen und uns lebendig begraben.« Dann drehte er sich um und trat den Rückweg an. Er ging bergauf zur Ratsversammlung.

    Ich folgte Selim, weil er den Eindruck machte, als könne er sogleich aus Schwäche stürzen. Ich nahm ihn beim Arm und stützte ihn vorsichtig. So kam er schneller und leichter voran.

    Er sagte zu mir: »Ich danke dir, Rodi. Gott beschütze deinen Vater, wo immer er sich jetzt auch befindet.« In Gedanken aber war er noch beim Priester, und so fuhr er fort: »Nur Gott weiß, was dieser Priester im Schilde führt. Es ist jedenfalls immer nur in seinem eigenen Interesse, was er tut, und die Religion dreht er so herum, wie er will.«

    Beim Priester hatten sich schon einige Gemeindeälteste zusammengefunden. Sie saßen schweigend mit gekreuzten Beinen auf weichen Kissen und tranken ihren Tee. Der Priester aber war in die Küche gegangen und braute für sie einen türkischen Kaffee, eine Kostbarkeit im Dorf. Seine einzige Tochter Mira war gerade dabei, noch mehr Tee, das frische Wasser und die Früchte zurechtzustellen.

    In der Ecke rechts saß der alte Ebu, der roheste und unangenehmste Mensch des ganzen Dorfes. Er arbeitete eng mit dem Agha zusammen und verriet ihm alles, was sich im und um das Dorf herum ereignete. Er war ein magerer, unsauberer Mann mit einem kleinen Kopf, flinken Augen und verschwitzten Händen.

    Auch mein Onkel Teto gehörte zu den Gemeindeältesten. Er war sogar der Älteste von ihnen, und die Leute hörten auf ihn – zumindest wenn er aus unserem Buch zitierte.

    Kaum hatte ich den Raum betreten, hoben sich schon fast von selbst ihre Hände und boten sich mir zum Gruß, zumindest kam es mir so vor, denn ich musste allen die Hand küssen. Einige Hände waren voller Schweiß, und die Berührung war mir unangenehm, aber es gab keinen Ausweg. Ich musste jedem Einzelnen die Hand küssen. Ich hasste diese Tradition, aber wenn man es nicht tat, wurde man beschimpft.

    Jedenfalls war Ebu schon fünfzig Jahre alt. Zumindest behauptete er das. Aber mir schien er älter. In Wirklichkeit wusste keiner von den Ältesten sein genaues Alter, weil es nirgends aufgeschrieben und festgehalten worden war. Ebu aber hatte sein ganzes Leben gegraben, gesät und geerntet, Weizen, Roggen, Wein und Oliven gepflanzt, die Erde gequält und ihr Blut getrunken. Man sagte, dass er seit seiner Kinderzeit die Erde nie aus seinen Klauen gelassen habe, unersättlich und mit unstillbarem Hunger habe er sich über sie geworfen, ihr wenig gegeben und Tausendfaches von ihr zurückverlangt. Niemals habe er »Gott sei es gedankt für seine Gaben« gesagt, stets habe er mürrisch gebrummt und sei unzufrieden gewesen. Nachdem der Agha und die Soldaten uns gezwungen hatten, unser Dorf in den Bergen zu verlassen und hier in der dürren Ebene zu leben, hatte er wohl am meisten gelitten, denn hier wächst nichts. Die Erde war schon vor unserem Kommen tot, und selbst Ebu konnte nichts mehr aus ihr herausholen. Deshalb sah er es wohl als vernünftig an, mit dem Agha und den Soldaten von der nahen Militärstation zusammenzuarbeiten. Er verlieh Geld und forderte hohe Zinsen, und wenn die Leute nicht zahlen konnten, nahm er ihnen ihre Tiere und Lebensmittel und verkaufte sie an das moslemische Dorf, das eine Stunde von uns entfernt liegt. Darüber hinaus trieb er Geld für den Agha ein und leitete alle Neuigkeiten und Informationen an den Agha und den Offizier Ihsan Bey weiter.

    Ich wusste noch ganz genau, wie seine Tochter vor einem Jahr krank geworden war und dringend einen Arzt gebraucht hätte. Er sagte damals: »Das sind allzu große Ausgaben. Die Städte sind zu weit entfernt, um einen Doktor zu holen, und was wissen die denn schon? Außerdem sind sie Moslems und werden uns Yeziden nur schaden. Wir haben den Priester und die alte Hazal, die verstehen sich auf die traditionelle Hausmedizin. Ihnen werde ich Geld geben, um die bösen Geister zu vertreiben. Der Priester kann sie heilen, und das wird zudem viel billiger.«

    Aber weder der Pir noch die alte Hazal konnten ihr helfen, und das Mädchen starb. Es war zehn Jahre alt und hatte nun Ruhe vor ihrem Vater, doch er hatte auch seinen Vorteil, er blieb von den großen Ausgaben verschont.

    Mira, die Tochter des Priesters, kam mit dem Tablett herein. Sie grüßte die Gemeindeältesten und blieb kurz mit niedergeschlagenen Augen stehen. Sie hatte große Augen mit langen Wimpern, wie ich wohl wusste. Sie war blass; zwei dicke kastanienbraune Zöpfe waren über ihrem Kopf zum Kranz gewunden. Ein Kopftuch trugen die Frauen in unserem Dorf selten. Nur wenn sie in die Stadt gingen, taten sie es wegen ihrer moslemischen Brüder. Es war bei ihnen so üblich, und man wollte nicht auffallen oder schlecht behandelt werden. Sie hatten die Macht.

    Die Tochter des Pirs durfte nur mit einem Angehörigen einer bestimmten Kaste von Pirs verheiratet werden, was sich für den Priester als ein Problem darstellte. Schließlich wollte er sie mit dem Sohn eines reichen und wohlhabenden Pirs verheiraten. Doch das war schwierig. Die anderen Angehörigen dieser Kaste im Dorf und in der Umgebung kamen für ihn nicht infrage. Sie hatten kein Geld, kein Land und gehörten keinem starken Stamm an, hatten keine Macht und keinen Einfluss. So suchte der Priester bisher vergebens und hatte Botschafter ausgeschickt, um einen Yeziden zu finden, der ein Priester aus dieser bestimmten Kaste und zudem aus einer wohlhabenden Familie war. Doch die Suche dauerte nun schon zwei Jahre. Daher dachten wir Dorfbewohner: Die arme Mira wird wohl unverheiratet bleiben. Die Sitten und Gebräuche sind oft hart. Ein Yezide darf nur einen Yeziden heiraten, und dann gibt es da noch die Kasten, die nur untereinander heiraten. Zudem kann niemand Yezide werden. Man ist es allein durch seine Geburt. Es ist schon ein schweres Schicksal, als Kurde auf die Welt zu kommen, noch schwerer aber ist es, zusätzlich als Yezide nirgends hinzugehören.

    Die Gemeindeältesten fingen mit ihren Beratungen an, und Mira und ich verließen den Raum. Der Priester verriegelte von innen die Tür. Wir sollten draußen warten und niemanden hereinlassen. Wir setzten und vor das Fenster des Wohnraums auf eine kleine Bank. Dieser Platz wurde Berrojik genannt, es war der Ort, an dem man sich sonnte und unterhielt. Das Fenster stand offen, und so konnten wir von draußen alles sehen und hören, was drinnen vor sich ging.

    Der Priester legte sein braun gebranntes Gesicht in würdevolle Falten; seine Augen glänzten unter den dichten Augenbrauen. Er aß und trank gut, der Priester, er lärmte und fluchte, wenn er in Stimmung war, er schlug um sich, wenn er böse war, und noch in seinem hohen Alter geriet sein Blut in Wallung, wenn er die Frauen im Dorf sah. Er war voll menschlicher Leidenschaft, obwohl es ihm nicht erlaubt war.

    Doch wenn der Priester über seine Religion sprach, wenn er die Hand zum Segen oder Fluch erhob, dann war es, als streiche der Wind der Wüste aus Ruha über ihn hinweg, und der Priester und die anderen Gemeindeältesten wurden zu Propheten.

    »Meine Herren und Brüder«, sagte er nun mit tiefer Stimme, »heute ist ein feierlicher Tag. Khoda sieht uns, er hört uns, alles, was wir in diesem Raum sagen, verzeichnet er, vergesst es nicht. Er hat Tausi Melek zu uns geschickt, und dieser hat die Welt aus Dirr, der Kugel des Universums, entstehen lassen. Unsere Religion ist die älteste und reinste aller Religionen.«

    Alle Personen im Raum sagten gemeinsam »Amin« und strichen sich den Bart als Zeichen der Ehrerbietung. Der Priester wusste, wie er die Zuhörer fesseln und ihre Gedanken in die richtige, in seine Richtung lenken konnte.

    Das Fest zum Gedenken an Tausi Melek, unser »Roter Mittwoch«, sollte vorbereitet werden. Und da der Priester unumstritten an vorderster Stelle kam und danach die Wohlhabenden und dann erst die Bauern, nahm das Gespräch den gewohnten und vorhersehbaren Lauf, und ich ließ Mira alleine und ging den Fluss entlang, da ich meine Freunde Siyabend und Kerim treffen wollte.

    Inzwischen war es Nachmittag und wir entschlossen uns, ein wenig außerhalb des Dorfes zu wandern, in der Gegend herumzustreunen. Es war selten genug, dass wir mal frei hatten. Nun, eigentlich ging es uns darum, allein zu sein und zu plaudern. Wir suchten die Einsamkeit und wollten unter uns und ohne andere Zeugen miteinander reden. Es gab schließlich so viele Geheimnisse und Fragen für uns – und wenig Antworten. Wenn wir die Ältesten fragten, wieso die Yeziden so oder so waren oder warum dieses und jenes verboten war, wurden wir aus dem Haus gejagt, beschimpft, oder es wurde gesagt, es sei Sünde, solche Fragen zu stellen.

    Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, und in der fernen Ebene glänzten die Steine in der Hitze und die Luft schwirrte, sodass sie vor unseren Augen manchmal merkwürdige Gestalten annahmen. Der trockene Duft der roten Erde machte das Atmen schwer. Das Schrillen der Insekten in den Feigen- und Olivenbäumen spielte wie ein Orchester das Lied der endlosen Trockenheit.

    Eine Weile gingen wir stumm unseres Weges und dachten über unser Neujahrsfest nach. Die Menschen werden in dieser Zeit sehr fromm und tun Gutes. Das Wenige, was sie haben, teilen sie mit Bekannten und Nachbarn. Es scheint mir, als höben sie alles Gute und Herzliche für diese Tage auf.

    Für den Rest des Jahres standen Intrigen, Lästereien, Klatsch, Gerüchte und Boshaftigkeit im Vordergrund. Doch in diesem Jahr trübte die Hitze der Trockenzeit die Stimmung im Dorf. Jeder hoffte, dass mit dem Anbruch des Feiertages auch der Regen einsetzen würde, um den Boden und uns vor dem Verdursten zu retten. Es schien, als sollte Tausi Melek für uns an diesem Tag erneut auferstehen. Aber noch war er nicht auferstanden, und es wehte ein lauer Märzwind von den Bergen herab, der die Natur und die Menschen sanft und kühl liebkoste.

    Siyabend machte als Erster den Mund auf. »Der Priester hat wieder einmal so über unsere Religion gesprochen, als könnten wir der Welt helfen, ihren religiösen Frieden zu finden«, sagte er langsam.

    »Möge Gott uns helfen, mit unserer Situation fertigzuwerden«, sagte Kerim. »Wenn es nicht bald regnet, dann können wir nicht mehr lange hierbleiben. Die Stimmung ist gereizt. Gut, dass wir jetzt diesen Feiertag haben. Alle sind damit beschäftigt und sehen die verbrannte Erde nicht.«

    So redeten wir lange Zeit, bis wir auf einer Anhöhe angekommen waren, von wo aus wir die ganze Ebene überblicken konnten. Wir schauten in die Ferne, als sollte von da unser Heil kommen, aus der Unendlichkeit des Horizonts.

    Plötzlich aber sahen wir in der Ferne eine immer größer werdende Staubwolke, die sich in unsere Richtung bewegte. Schon bald hörten wir Schritte und Stimmen. Aus dem fernen Staub löste sich eine Menschenmenge, die langsam und müde auf das Dorf zukam.

    »Seht doch, seht«, sagte Kerim laut. »Was ist das für ein Ameisenhaufen, der sich dort auf dem Feld bewegt? Das sieht aus wie ein Marsch zum Heiligtum, wie ein Prozession. Aber es sind noch einige Tage bis dahin.«

    Wir rissen alle die Augen auf. Es war wirklich eine Menge von Männern, Frauen und Kindern, die sich über das Feld auf unser Dorf zubewegte.

    Schon bald konnten wir sie hören. Sie sangen alte yezidische Lieder. Es klang, als ob sie weinten.

    »Es sind Brüder von uns! Yeziden!«, rief Kerim aus. »Kommt, beeilen wir uns, sie zu begrüßen.«

    Wir liefen, so schnell es ging, vorbei an den alten und trockenen Weinhängen entlang auf die Felder. Der Anfang des Zuges war nun bei den ersten Lehmhäusern des Dorfes angelangt; die Hunde rasten auf den breiten Weg und bellten wie von Sinnen, die Türen öffneten sich, die Frauen kamen heraus, Männer bewegten sich im Schatten der Häuser und der vertrockneten Bäume auf den Meydan zu, den Dorfplatz. Sie hatten die Lieder, das Weinen und Schluchzen, das Geräusch der vielen Schritte gehört und waren sofort losgegangen. Auch wir waren jetzt bis an die Menschenmenge herangekommen.

    Die Abenddämmerung senkte sich über uns, als verschwände die Sonne im selben Moment, in dem die Menschen im Dorf ankamen. An ihrer Spitze schritt ein sonnengebräunter, hagerer Priester mit großen schwarzen Augen und einem langen wirren Bart. Aus seinen Augen sprühte förmlich das Feuer. Er hielt eine kleine goldene Statue des Engels Pfau in der Hand und segnete die Menschen in seiner Nähe. Rechts von ihm standen die Älteren, dahinter waren Männer, Frauen und Kinder, und alle schrien und weinten: Männer mit Bündeln, Handwerkszeug, Sensen, Hacken und Spaten; Frauen mit Wiegen, Töpfen und Wannen.

    »Was seid ihr für Landsleute? Woher kommt ihr, und wohin führt euch der Weg?«, fragte Cemil und blieb vor dem fremden Pir stehen.

    »Wo ist euer Priester oder wo sind die Ältesten hier im Dorf? Wir wollen zu ihnen«, sagte der Neuankömmling, der sich als Priester Ilyas vorstellte. Und er fuhr fort: »Wir sind Yeziden, fürchtet euch nicht, Brüder, wir sind Kurden, Flüchtlinge und Verfolgte. Über uns ist der Ferman, ist großes Unheil gekommen. Ruft die Ältesten des Dorfes, ich will mit ihnen reden!«

    Ermattet ließen sich die Frauen auf den Boden sinken, die Männer legten ihre Lasten ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn und blickten stumm auf ihren Priester, als sei er ihre einzige Hoffnung.

    »Woher kommt ihr?«, fragte Siyabend einen Greis, den die Jahre weiß wie Baumwolle hatten werden lassen und der trotzdem eine schwere Last auf dem Rücken trug.

    »Beruhige dich, mein Junge«, antwortete der Alte. »Beruhige dich, der Priester Ilyas wird alles erzählen.«

    Der Priester stand aufrecht und gerade und hielt immer noch die Statue in den Händen. Die letzten Strahlen der Sonne ließen das Gold der Statue glänzen. Die Menschen erkannten, was sie darstellte. Sie war heilig, und viele wollten sie küssen. Doch Priester Ilyas wehrte alle ab und sagte: »Ihr alle werdet sie noch küssen können, doch lasst uns erst mit dem Priester und den Ältesten des Dorfes sprechen. Unser Schicksal und unser Leben liegt in euren Händen.«

    Der Agha hatte von der Ankunft der Menschenmenge gehört und beobachtete die in weiter Entfernung von seinem Anwesen versammelte Menge durch sein Fernglas. Er war betrunken und machte sich Sorgen, was die Menschen wollten.

    »Komm her, mein armer Freund«, sagte er und drehte sich um. »Komm her und erkläre mir dieses Mysterium. Was ist das für ein Haufen da auf dem Meydan? Was ist das für ein Geschrei?«

    Der Mohtar, der Dorfvorsteher, tauchte auf dem Balkon auf. Sein Kopf war mit einem nassen Tuch umwickelt. Er kühlte sich ab – von dem Raki und von der Hitze. Hin und wieder nahm er das nasse Tuch, tauchte es in einen Wassereimer und wand es sich frisch um den Kopf.

    Der Mohtar beugte sich vor, riss die Augen auf und blickte in die Ferne. Waren dort unten auf dem Meydan wirklich Männer, Frauen und Kinder? Aber sie waren zu weit weg, als dass er sie mit bloßen Augen hätte erkennen können.

    »Was ist das?«, fragte der Agha wieder. »Begreifst du, was da unten los ist?«

    »Leute!«, antwortete der Mohtar. »Es sieht wie Leute aus, oder was siehst

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