Geplanter Verschleiß: Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt - und wie wir uns dagegen wehren können
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Ob Drucker, Mobiltelefon oder Fernseher - bereits kurz nach Ablauf der Garantie sind viele Geräte reif für den Müll. Eine Reparatur lohnt sich nicht oder ist gar ausgeschlossen. Kalkuliert sorgen die Hersteller dafür, dass ihre Produkte frühzeitig kaputtgehen, damit wir Verbraucher mehr konsumieren. Sinnlose Müllberge und ein enormer Ressourcenverbrauch sind die Folge. Christian Kreiß setzt sich systematisch mit geplantem Verschleiß auseinander und beweist: Das eingebaute Verfallsdatum ist fest in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verankert und nur einer der Tricks von Großkonzernen, die im Dienste der Gewinnmaximierung Verbrauchertäuschung und Kundenbetrug in Kauf nehmen.
Wenn wir das Phänomen an seiner Wurzel angehen wollen, müssen wir an tiefen gesellschaftlichen Fragen rütteln. Seit das Glühbirnenkartell in den 1920er- Jahren die Lebensdauer von Glühlampen von 2500 auf 1000 Stunden Brenndauer beschränkte, zählt geplanter Verschleiß zu den Absatzstrategien internationaler Konzerne. Heute wundern wir uns kaum noch, wenn das Smartphone bereits kurz nach der Markteinführung als veraltet gilt oder die Waschmaschine nach wenigen Jahren den Geist aufgibt. Was den Aktionären saftige Gewinne beschert, sorgt jedoch für unsinnige Müllberge, verbraucht immense Ressourcen und kostet jeden deutschen Verbraucher im Schnitt monatlich rund 110 Euro.
Christian Kreiß zeichnet die moralisch fragwürdigen Methoden der Großkonzerne nach, zeigt, warum geplanter Verschleiß eine gesamtwirtschaftlich völlig unsinnige Strategie ist und wie die Werbung uns gezielt in die Irre führt.
Als Gegenmaßnahmen schlägt er konkrete Gesetze zur Verbesserung der Haltbarkeit, Werbeeinschränkungen und Abgaben auf Großvermögen vor. Insbesondere aber fordert er eine Kultur der Nachhaltigkeit, in der Reparatur, Sharingmodelle und Konsumverzicht ihren festen Platz haben.
Christian Kreiß
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Aalen. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de
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Book preview
Geplanter Verschleiß - Christian Kreiß
1. eBook-Ausgabe
© 2014 Europa Verlag GmbH & Co. KG,
Wien · Berlin · München
Umschlaggestaltung: Dominic Wilhelm,
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Quellennachweise: S. 49f., 83ff. aus: Wolfgang M. Heckl,
Die Kultur der Reparatur. © Carl Hanser Verlag GmbH,
München 2013, mit freundlicher Genehmigung des Verlags
S. 92,175, Anmerkung 347 aus: Kalle Lasn, Culture Jamming –
Das Manifest der Anti-Werbung. © orange-Press, Freiburg 2008,
mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Anmerkungen 308,395 aus: Harald Welzer, Selbst Denken.
Eine Anleitung zum Widerstand. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt
am Main 2013, mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
ePub-ISBN: 978-3-944305-52-3
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Kapitel 1: Erscheinungsformen
Was ist geplanter Verschleiß und seit wann gibt es ihn?
Warum halten so viele Alltagsprodukte heute wesentlich kürzer als früher?
Begünstigende Faktoren für geplanten Verschleiß
Gesättigte Märkte
Unübersichtliche Märkte
Kapitalmarkt- und Gewinnorientierung
Die Frage der Moral
Die verschiedenen Arten von geplantem Verschleiß
Die klassische Einteilung
Technische oder funktionelle Obsoleszenz
Qualitative Obsoleszenz
Psychologische Obsoleszenz
Einteilung nach dem Grad des Zwangs
Zwang zu vorzeitigem Ersatzkauf
Die Rolle der Ingenieure (1)
Neukaufzwang durch kurze Produktlebensdauer
Einbau von Schwachstellen und Sollbruchstellen
Neukaufzwang durch mangelnde oder überteuerte Ersatzteile
Keine oder erschwerte Reparierbarkeit
Keine Ersatzteilvorhaltung
Überteuerte Ersatzteile
Kein(e) Wartung/Service/Updates
Gewollte Inkompatibilität
Induzierte Zusatzkäufe durch Modell- oder Modezyklen
Induzierte Zusatzkäufe über Verbrauchsbeschleuniger
Induzierte Zusatzkäufe durch Antifeatures (»defective by design«)
Einteilung nach dem Grad des Vorsatzes
Vorsätzlich geplante verminderte Lebensdauer
Billigend in Kauf genommene kurze Lebensdauer: Die Rolle der Ingenieure (2)
Weitere Unterscheidungsmerkmale
Industriekunden und Privatverbraucher
Einmalkauf oder Folgekäufe – gewinnträchtiges After-Sales-Geschäft
Unterscheidung nach Produktgruppen
Umsetzungsinstrumente: TCO, Target Costing und Kano-Modell
Total Cost of Ownership (Customer Life Cycle Costing)
Kano-Modell und Target Costing
Die Rolle der Intransparenz
Objektive Information
Subjektive Information
Consumer Confusion
Die Rolle des Wettbewerbs
Verbrauchsbeschleuniger entschleunigen
Lebensdauer eines Druckers wird erhöht
Das Glaubwürdigkeitsproblem
Sinnvolle Orientierung am Preis?
König Kunde?
Verbraucherschutzzeitschriften
Widersprüchliche Aussagen der Stiftung Warentest
Weitere widersprüchliche Aussagen von Fachleuten
Die Rolle der Werbung
Der Zweck von Werbung
Der Zweck von Produkten
Mode-, Modell- und Produktlebenszyklen
Die Verbreitung von Werbung
Loslösung der Wirtschaft von den Bedürfnissen der Menschen
Werbung, geplanter Verschleiß und Ethik
Vertrauen und Glaubwürdigkeit
Andere Formen von Verbraucherbetrug und Kundentäuschung
Umgang von Unternehmen mit Tests der Stiftung Warentest
Die Zuckerindustrie
Die Lebensmittelindustrie
Die Pharmaindustrie
Die Kosmetikindustrie
Andere Branchen
Ergebnis: Verbraucherbetrug und Kundentäuschung sind weit verbreitet
Geplanter Verschleiß in der Rechtsprechung
Kapitel 2: Ausmaß und Auswirkungen
Ausmaß und Verbreitung
Annahmen
Kaufkraftentzug von 106 Milliarden Euro pro Jahr
Drei Wochen zusätzlicher bezahlter Jahresurlaub oder 35-Stunden-Woche
110 Euro zusätzliches Einkommen pro Monat und Einwohner
Geplanter Verschleiß und Müll
Ressourcen und Primärenergieverbrauch
Ausbreitung von geplantem Verschleiß in den letzten Jahrzehnten
Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum
Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen
Arbeitsproduktivität
Unnötige Arbeit
Weggeworfene Lebensmittel und unnötige Arbeit
Werbung und unnötige Arbeit
Gesamtwirtschaftliche Arbeitsmenge
Kapitel 3: Ursachen
Wirtschaftsordnung, Wachstumszwang und geplanter Verschleiß
Wer hat Vorteile von geplantem Verschleiß?
Die Rolle der Medien
Der Einfluss von Werbung auf die Medien
Eigentümerstruktur der Medienkonzerne
Die Darstellung von geplantem Verschleiß bei Wikipedia
Die Rolle der Politik
Die Rolle der Wirtschaftswissenschaften
Die Rolle der Betriebswirtschaftslehre
Die Rolle der Volkswirtschaftslehre: Der wissenschaftliche Referenzartikel von Bulow
Zentrale Aussagen
Die vier Grundannahmen
Elfenbeinturmaussagen
Schädliche Auswirkungen der Bulow-Theorie
Plädoyer für eine realitätsnahe Wissenschaft
Kapitel 4: Abhilfen
Politische und gesellschaftliche Weichenstellungen
Wachstums- und Renditezwang abstellen
Werbeeinschränkungen und -verteuerungen
Gesetzliche Maßnahmen gegen geplanten Verschleiß
Der bestehende gesetzliche Rahmen
BGB
Europäische Regelungen
Kennzeichnungspflichten
Marktwirtschaftliche Regelungen
Neue gesetzliche Regelungen
Keine käufliche Politik
Keine käufliche Presse
Entflechtung von Medien und Geldgebern
Medien und Eigentümerstruktur
Keine käufliche Wissenschaft
Verzerrte Forschungsergebnisse durch Drittmittelforschung
Alternative wirtschaftswissenschaftliche Ansätze
Überwindung der Zwangsvorstellung vom Wirtschaftswachstum
Plädoyer für eine freiere Wirtschaft
Was kann der Einzelne tun?
Umgang mit geplantem Verschleiß im Alltag
Wege zu besseren Produkten
Händler oder Hersteller mit langlebigen Produkten
Informationen zu langlebigen Produkten
Gütesiegel
Eine Kultur der Postwachstumsökonomie
Die Kultur der Reparatur
Sharing
Tauschen und Wiederverwerten
Entschleunigung
Regionalität statt Internationalität
Genügsamkeit
Verzicht auf Unnötiges
Verantwortungsvoller Umgang mit Geld
Anspruchsdenken, Rechte und Pflichten
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Anmerkungen
Register
VORWORT
Wer hat es nicht auch schon erlebt: Kurz nach Ablauf der Gewährleistungsfrist eines Produkts geht es kaputt. Zufall? Ungeschicklichkeit? Gar Absicht des Herstellers: geplanter Verschleiß – ein Produkt mit eingebautem Verfallsdatum? Tatsache ist: Immer mehr Menschen sind verärgert darüber, dass die »gefühlte« Haltbarkeit vieler Produkte immer kürzer wird. Viele Menschen empfinden die Praktiken der Industrie als Betrug. Als im März 2013 das Gutachten »Geplante Obsoleszenz« von Stefan Schridde und mir für die Bundestagsgrünen in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gab es ein unerwartet starkes Medienecho, das die Empörung in großen Kreisen der Bevölkerung widerspiegelte.¹ Offenbar hatte diese Fragestellung einen Nerv der Zeit getroffen.
In diesem Buch werden die tieferen Hintergründe des Phänomens »Geplanter Verschleiß« aufgezeigt, seine Erscheinungsformen, Auswirkungen, die Ursachen und was wir dagegen tun können. Dabei zeigt sich, dass geplanter Verschleiß tief in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verankert ist, dass er nur eine Spielart von vielen ist, wie Großkonzerne vorgehen, um im Dienste der Gewinnmaximierung Verbraucher zu übervorteilen. Und es zeigt sich, dass wir an tiefen gesellschaftlichen Strukturen rütteln, wenn wir das Phänomen an seiner Wurzel angehen wollen.
Im ersten Kapitel werden die verschiedenen Erscheinungsformen von geplantem Verschleiß dargestellt. Er beginnt mit einem kurzen geschichtlichen Abriss und der Grundlogik, warum und unter welchen Bedingungen geplanter Verschleiß eine rationale, gewinnerhöhende Absatzstrategie für Konzerne ist. Es werden die verschiedenen Ausprägungen geschildert und mit welchen intelligenten Instrumenten sie von der Industrie umgesetzt werden können. Dabei stoßen wir immer wieder auf die große Bedeutung von Intransparenz und die traurigen Folgen von Werbung. Es zeigt sich, dass Verbrauchertäuschung und Kundenbetrug bei Weitem nicht auf geplanten Verschleiß beschränkt sind, sondern eher die Regel als die Ausnahme in der Marketingpolitik großer Konzerne darstellen. So wird etwa jedes Jahr die »dreisteste Werbelüge« ausgelobt, es erscheinen Bücher und Zeitschriftenserien, die sich mit dem Thema »Tricks der Industrie« beschäftigen, Bücher wie »Lebensmittellügen«, »Schwarzbuch Banken«, »Die Pharmalüge«, »Die Zuckermafia«, »Der größte Raubzug der Geschichte« usw., häufig (nicht immer) von seriösen Autoren, die detaillierte Schilderungen von den vielen Arten unfairer, uns Kunden übervorteilender Vertriebspraktiken in den verschiedensten Branchen geben.
Im zweiten Kapitel wird Ausmaß und Auswirkungen von geplantem Verschleiß nachgegangen. Wir stellen fest, dass uns Verbrauchern durch geplanten Verschleiß jeden Monat eine stattliche Menge Geld entzogen wird, dass wir zusätzlichen Müll produzieren, zusätzliche Ressourcen und Energie verbrauchen und zusätzlich arbeiten für etwas, was völlig sinnlos und unnötig ist. Weder zur Überwindung von Arbeitslosigkeit noch für Wirtschafswachstum ist geplanter Verschleiß sinnvoll oder nötig.
Daher stellt sich die Frage, wem geplanter Verschleiß eigentlich nützt, wo er doch offensichtlich auf allen Ebenen gesellschaftlich schädlich ist. Diese Frage wird im dritten Kapitel beantwortet: Man könnte geplanten Verbrauch als eine Art »Steuer« ansehen, die alle Verbraucher zahlen und die an die kleine Gruppe der Eigentümer von Großunternehmen fließt. Bei diesem Umverteilungsprozess von unten nach oben werden allerdings erhebliche gesellschaftliche Kollateralschäden hervorgerufen in Form von unnötiger Arbeit, Umweltzerstörung usw.
In Kapitel 3 wird die Rolle der Medien, der Politik und der Wirtschaftswissenschaft beleuchtet und dargestellt, weshalb die gängige ökonomische Theorie zu geplantem Verschleiß nicht nur grundlegend falsch, sondern darüber hinaus auch schädlich ist, da sie diese Absatzstrategie bagatellisiert und damit ihre Ausbreitung begünstigt.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit Maßnahmen gegen geplanten Verschleiß. Als gesellschaftspolitische Maßnahmen werden auf makroökonomischer Ebene vorgeschlagen, Vermögen stärker zu belasten, eine Geldreform anzudenken sowie Werbung gesetzlich einzuschränken und zu verteuern. Durch diese Maßnahmen soll der Gewinn- und Wachstumszwang in unserem Wirtschaftssystem vermindert oder eliminiert werden, der viele Unternehmen zur moralisch fragwürdigen Absatzstrategie »Geplanter Verschleiß« drängt. Außerdem werden konkrete gesetzliche Maßnahmen gegen geplanten Verschleiß wie eine Verlängerung der Gewährleistungsfrist, Ersatzteil- und Reparaturregelungen usw. vorgeschlagen. Doch das Problem liegt tiefer. Daher werden konkrete Maßnahmen gegen käufliche Politik, käufliche Presse und einseitige Wissenschaft vorgeschlagen mit dem Ziel, eine freiere Wirtschaft und ein freieres Unternehmertum zu ermöglichen. Am Schluss werden Möglichkeiten aufgezeigt, die jeder Einzelne ergreifen kann, um nicht nur geplanten Verschleiß, sondern auch andere Auswüchse unseres Wirtschaftssystems zu überwinden, um zu einer menschlicheren, freieren und demokratischeren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu kommen.
KAPITEL 1:
ERSCHEINUNGSFORMEN
WAS IST GEPLANTER VERSCHLEISS UND SEIT WANN GIBT ES IHN?
Unter »Geplantem Verschleiß« oder »Geplanter Obsoleszenz«² wird die gezielte, durch die Hersteller nicht offengelegte Reduzierung der ökonomischen Haltbarkeit von Produkten verstanden mit dem Zweck, bei den Kunden vorzeitige Ersatzkäufe auszulösen.³ Es handelt sich um ein Absatzinstrument und ist eine Spielart der verdeckten Produktverschlechterung. Ähnliche Begriffe sind »geplante Lebensdauer«, »geplante Nutzungsdauer« oder »sinnvolle Nutzungsdauer«.
Den ökonomischen Nachteil von geplantem Verschleiß für uns Kunden kann man sich folgendermaßen klarmachen: Wenn wir ein Produkt erwerben, kaufen wir eigentlich die Nutzung des Guts für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft. Also wir zahlen gewissermaßen einen bestimmten Preis pro Nutzung, z. B. pro Waschgang der Waschmaschine. Wird nun die Laufzeit des Produkts langsam heimlich verkürzt, sodass wir es nicht merken, ohne dass der Anschaffungspreis des Produkts vom Hersteller entsprechend gesenkt wird, steigt für uns der Preis pro Nutzung und wir werden heimlich übervorteilt. Eine solche »Preiserhöhung durch die Hintertür« hat für den Hersteller den Vorteil, dass sie von uns Kunden nicht so leicht erkannt wird wie eine offene Preiserhöhung, weil es oft Jahre dauert, bis wir es merken. Von daher ist es für Unternehmen unter Absatzgesichtspunkten häufig deutlich klüger, bei starkem Wettbewerbsdruck solche verdeckten Preiserhöhungen durch Qualitätsminderung vorzunehmen als durch offene Preiserhöhungen. Entsprechend groß ist der Anreiz oder der Druck für Unternehmen, angesichts des enormen Wettbewerbs zu dieser »Strategie der heimlichen Produktverschlechterung« zu greifen.⁴
Der Nachteil für die Umwelt ist unmittelbar klar: Wenn die Laufzeit der Produkte heimlich verkürzt wird, müssen wir mehr davon produzieren als nötig; das verbraucht mehr Ressourcen und schafft mehr Müll als nötig.
Bewusst geplanten vorzeitigen Verschleiß gibt es noch nicht lange. Es ist ein Phänomen, das wirtschaftsgeschichtlich wohl kaum älter als 100 Jahre ist⁵ und in den USA erfunden wurde.⁶ Eines der beeindruckendsten Beispiele, wie die gewollte, geplante Verkürzung der Haltbarkeit von Produkten in der Industrie Einzug hielt, ist zugleich einer der wirtschaftshistorisch vermutlich ältesten Fälle: Er findet sich in der US-Automobilindustrie Anfang der 1920er-Jahre.⁷
Henry Ford war ein unerschütterlicher Anhänger von Qualität und langer Haltbarkeit, ein überzeugter Techniker, für den die »Integrität des Produkts« immer an erster Stelle kam. Alle Gedanken an Gewinn waren für ihn nebensächlich.⁸ Er wehrte sich vehement gegen alle Arten von Verkürzung der Lebenszeit oder vorzeitige »Veralterung« seiner Autos: »Wir möchten gern eine Maschine bauen, die ewig dauert. Es ist uns nicht angenehm, wenn der Wagen eines Kunden abgenutzt wird oder veraltet. Wir wollen, dass der Kunde, der eins unserer Produkte ersteht, niemals ein zweites anzuschaffen braucht.«⁹ Ford war mit dieser Einstellung lange Zeit extrem erfolgreich: 1921 hatte sein »Model T«, das es nur in Schwarz gab und das insgesamt über 15 Millionen Mal gebaut wurde, einen US-Marktanteil von 61 Prozent.¹⁰ Zu dieser Zeit hatten bereits über 55 Prozent aller US-Haushalte ein Auto.¹¹
Hauptkonkurrent von Ford Anfang der 20er-Jahre war General Motors. Dessen Spitzenmanager Alfred Sloan hatte am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Boston) entgegengesetzte Werte erlernt: Neue Modelle, neue Technologien sollten im Wettbewerbsprozess, der darwinistisch gedacht war, vorhandene Produkte zum Veralten bringen, um einen Wettbewerbsvorteil und hohe Gewinne zu erzielen.¹² So setzte GM bewusst auf Design und schnelle Modezyklen – jedes Automodell wurde jedes Jahr geändert und leicht modernisiert¹³ –, geschicktes Marketing und eine Umbewertung des Autos weg vom reinen Fortbewegungsmittel hin zu einem Lebensstilprodukt. Dabei wurde die Haltbarkeit der Automobile bewusst verkürzt. So sagte einer der führenden Manager von GM damals: »Our big job is to hasten obsolescence«¹⁴, unsere große Aufgabe ist es, den Verschleiß zu beschleunigen. Entsprechend tat Sloan »das Äußerste, um neue Wege zu finden, die Haltbarkeit zu verringern und die Abnutzung zu beschleunigen«¹⁵.
Die darwinistische Marketingstrategie erwies sich als extrem erfolgreich, der Plan ging auf. Fords Marktanteil sank in wenigen Jahren von über 60 Prozent auf 30 Prozent und im Frühjahr 1927 musste die Produktion des »Model T« endgültig eingestellt werden. Sloan konnte 1941 im Rückblick zufrieden feststellen, dass Fahrzeugdesign und Marketing zum entscheidenden Verkaufsfaktor geworden war – »weil ohnehin jeder weiß, dass das Auto fährt«¹⁶ –, nicht etwa hohe Produktqualität und Langlebigkeit.
Dieses historische Beispiel zeigt beeindruckend, wie die Strategie, auf haltbare, qualitativ hochwertige, langlebige Produkte zu setzen, bei geschicktem Marketing und starkem Wettbewerb bestraft wird und wie die Einführung von weniger haltbaren, qualitativ minderwertigen Produkten, die durch schickes Design und viel Werbung vertrieben werden, die Wettbewerbs-fähigkeit stärken kann.
WARUM HALTEN SO VIELE ALLTAGSPRODUKTE HEUTE WESENTLICH KÜRZER ALS FRÜHER?
Die Hauptursache liegt im Wesentlichen an unseren im Markt vorhandenen ökonomischen Anreizstrukturen.
Ein Beispiel: Angenommen im Markt für elektrische Rasierapparate gebe es zwei größere Anbieter, die den Markt dominieren, Anbieter A und Anbieter B.¹⁷ Da praktisch jeder deutsche Mann, der sich trocken rasieren möchte, bereits einen elektrischen Rasierer hat, ist der Markt weitgehend gesättigt und es gibt kaum mehr Wachstumspotenzial.¹⁸ Die durchschnittliche Lebensdauer der Elektrorasierer liegt bei etwa zehn Jahren. Die Umsätze wachsen kaum, die Rentabilität bzw. die Gewinne stehen wegen des starken Wettbewerbs unter Druck.
Um die Rendite auf das eingesetzte Kapital zu erhöhen, hat Anbieter A die Idee, bei der Entwicklung einer neuen Modellreihe die Kosten durch die Verwendung billigeren Materials oder etwas schlechtere Verarbeitung zu senken, was gleichzeitig zu einer geringfügig kürzeren Lebensdauer von etwa neun Jahren statt wie bisher zehn Jahren führt. Absatzpolitisch wichtig dabei ist, dass die Verkürzung der Lebensdauer so gering ist, dass sie unter der Wahrnehmungsschwelle der Käufer bleibt, also dass sie verborgen abläuft. Und – Hand aufs Herz, welcher Mann kann sich schon so genau daran erinnern, ob er seinen Rasierer vor zehn oder vor neun Jahren gekauft hat?
Anbieter A hat von dieser Entwicklungs- bzw. Marketingstrategie zwei Vorteile:
1. Kosteneinsparungen durch die billigeren Materialien bzw. einfachere Verarbeitung, die sofort die Gewinne bzw. Renditen auf das eingesetzte Kapital erhöhen.
2. Nach einigen Jahren erhöht sich der Umsatz , da nun die kürzere Lebensdauer der Produkte zum Tragen kommt. Gewinne und Kapitalrendite steigen erneut, der Marktanteil wächst.
Anbieter B sieht den Erfolg von Anbieter A, dessen finanzielle Überlegenheit sowie die Gefahr von Marktanteilsverlusten und greift zur gleichen Strategie. Auch er spart an der Qualität der eingesetzten Materialien und der Verarbeitung. Dadurch verringert sich auch bei ihm die Haltbarkeit der Rasierer (denn diese Einsparung merkt der Kunde am wenigsten bzw. am spätesten), z. B. auf acht Jahre.
Nun kann Anbieter A diese Erfolgsstrategie weiter forcieren und das Spiel beginnt von vorn, mit dem Ergebnis, dass über viele Jahre hinweg die Lebensdauer der Produkte ständig leicht abnimmt, sodass sie sich z. B über einen Zeitraum von 20 Jahren halbiert.¹⁹
Diese Strategie funktioniert nur unter der extrem wichtigen Nebenbedingung, dass die Degradation bzw. allmähliche Verschlechterung der Produkte heimlich abläuft, dass sie nicht offengelegt und insbesondere nicht kommuniziert wird, sodass sie unter der Wahrnehmungsschwelle des Kunden bleibt. Mit anderen Worten: Er darf es nicht gleich merken. Genau diese Fragestellung bringt die Zeitschrift »Absatzwirtschaft« 2011 auf den Punkt: »Wie schnell darf Ware verfallen, ohne zu enttäuschen?«²⁰
Kurz: die Strategie der heimlichen allmählichen Qualitätsverschlechterung wird von Wettbewerbsmärkten normalerweise in Form niedrigerer Kosten, steigender Umsätze und damit steigender Gewinne belohnt statt durch Kundenabwanderung bestraft. Produzenten, die bei diesem »Spiel« nicht mitmachen, werden vom Markt in Form tendenziell niedrigerer Gewinne und Umsät ze bestraft. In der Ökonomie spricht man in diesem Zusammenhang vom sogenannten »Prisoner’s Dilemma« und man behandelt solche Ansätze im Rahmen der Public-Choice-Theorie bzw. der Spieltheorie.²¹ Was individuell für jedes einzelne Unternehmen von Vorteil ist, ist für die Allgemeinheit von Nachteil. Die Gefahr eines Imageverlusts oder Rufschadens ist nur dann für einen Produzenten zu befürchten, wenn er einen zu großen, auffälligen oder wahrnehmbaren Sprung in der Qualitätsverschlechterung vornimmt. Das sollten Hersteller natürlich tunlichst vermeiden.
Das Grundproblem ist Folgendes: Jeder einzelne (Markt-) Teilnehmer entscheidet sich individuell-rational zu seinem eigenen Vorteil und so kommt für die Allgemeinheit ein unvernünftiges Ergebnis heraus. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist ein Theater- oder Konzertbesuch: Für einen einzelnen Besucher kann es rational sein, aufzustehen, um besser zu sehen, z. B. wenn ein großer Mensch vor ihm sitzt. Dann muss der hinter ihm Sitzende ebenfalls aufstehen, weil er sonst fast nichts mehr sieht. Solche Prozesse können dazu führen, dass am Schluss alle Besucher stehen statt sitzen.²² Für jeden Einzelnen war es rational aufzustehen, für alle gemeinsam ist es unsinnig. In dem Maße, in dem in der Ökonomie oder allgemein im gesellschaftlichen Leben solche Prozesse stattfinden, finden kollektive Fehlentscheidungen statt.
Im Ergebnis sehen wir einen mehr oder weniger langsamen, schleichenden Prozess der Verkürzung der Haltbarkeiten, der lange Zeit unter der Wahrnehmungsschwelle der Verbraucher bleibt.²³ Aber auf Dauer spüren es die Verbraucher irgendwie doch und dann wird allgemeiner Unmut laut, dass immer mehr Produkte immer kürzer halten. Und genau vor dieser Situation stehen wir heute.
BEGÜNSTIGENDE FAKTOREN FÜR GEPLANTEN VERSCHLEISS
»Unsere Bemühungen um Reduzierung der Haltedauer öffnen uns ein weiteres Verkaufspotenzial – nur für den internen Gebrauch«²⁴
Geplanter Verschleiß floriert