Amalinca: Roman
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Book preview
Amalinca - Eva Ruth Wemme
Anfang.
I.
Sobald du sprechen lernst, Vinzent, wird zwischen dir und Iacov ein Unterschied sein. Zuerst scheint alles einfach. »Ball! Auto! Brot!«, sagst du und das reicht dir, um die Welt zu verstehen und mit Iacov zu teilen. Iacov sagt: »Mingea, Maṣines, Maro«. Ihr scheint zu wissen: Es sind nur Wörter und Wörter sind zum Spielen auf der Welt. Manchmal bemerkt ihr, dass ihr euch nicht versteht, ihr ruft euch fremde Wörter zu und lacht, ihr akzeptiert, was ihr hört, ihr wisst anscheinend, dass das zu eurer Geschichte gehört und das ist einfach, denn eins ist klar: dass ihr seit dem Beginn eures Lebens Freunde seid.
So spielend wartet ihr und wachst und auch euer Nichtverstehen der fremden Wörter des jeweils anderen wird größer, bis ihr begreift, was es heißt, eine andere Sprache zu haben. Noch ist das Anlass zu Gelächter, ihr sprecht miteinander und manchmal versteht euch gar niemand. »Billa Willa Mena Motti!«, schreit ihr euch zu und quiekt. »Willa Bella Buba Lotti!«, das setzt ihr dieser Welt entgegen, die großes Aufheben darum macht, sich der Sprache ja sinnvoll zu bedienen, denn sonst wäre alles verloren.
Bevor die Wörter ins Spiel kamen, zogst du, Vinzent, deinen Freund zärtlich an den Haaren, stecktest ihm die Finger in die Nase, bliest ihm ins Ohr und brachtest ihm einen kleinen Hammer aus Holz, damit ihr zusammen bunte Plastiknägel in Bretter schlagen konntet. Noch stritten nur eure Hände um den Ball. Bald begannt ihr euch zu lieben. Ihr ahntet noch nichts von den Hindernissen eurer Herkunft.
Also begann ich, dir diese Geschichte zu erzählen. Ich erzähle sie zusammen mit Cireașa, Iacovs Mutter, ich habe sie darum gebeten, für euch beide und auch für uns selbst. Das hat es mit dieser Geschichte auf sich, dass wir sie erzählen, um dabei ruhig zu werden oder froh, egal woher wir kommen. Wir reden wegen unserer Angst, wegen unserem Unwissen und wegen aller Krankheiten. Wir erzählen und spielen dieses Spiel, weil wir wagemutig sein wollen und unsere Verschiedenheit mit unserer Geschichte übertrumpfen. Damit wir, während wir erzählen, zusammen sprachlos werden. »Worüber?«, fragst du. Dass Cireașa und ich uns wie Schwestern lieben und auch ihr seit dem Beginn eures Lebens Freunde seid.
Mit dieser Geschichte erfinden wir keine neue Sprache. Es ist die alte Sprache, in der wir uns über die Feindschaft zwischen den Gadsche und den Roma hinwegsetzen, nicht ohne Verluste, aber geistesgegenwärtig, sehnsüchtig. Diese Kluft ist alt und gefahrvoll, in ihr hat sich alles gesammelt, was Menschen an Schlimmem kennen: Gleichgültigkeit, Hass, Brutalität, Mord, Verachtung, Angst, Hohn. Auf diese Feindschaft werdet ihr auch eines Tages stoßen. Und wir werden euch mit dieser Geschichte zu trösten versuchen. Eine Feindschaft, die dir, kleiner, goldener Vinzent, jetzt noch unvorstellbar erscheint, jetzt, da du genau wie Iacov noch an der Brust Milch trinkst und ihr euch gegenseitig von Kinderwagen zu Kinderwagen Sesamstangen reicht. Denn du bist nur drei Monate nach Iacov zur Welt gekommen und beide habt ihr auf den Armen eurer Mütter geschlafen, als die eine der anderen anfing, ihre Geschichte zu erzählen, und ich kurz darauf alles aufschrieb.
Es war im Spätherbst 1988, ein Jahr vor der rumänischen Revolution. Die erste Kälte kam mit Wind und kurzen Regengüssen, zwischen denen die Stille bis in die Höfe des wenige Kilometer südöstlich von Bukarest gelegenen Dorfes Izvoru Verde fiel, bis in die Schweineställe, in die Winkel der Gemüsegärten, in die verlassenen Sommerküchen aus ungestrichenen Brettern, aber vor allem bis tief ins Herz von Sara. An diesem Nachmittag saß sie traurig in ihrer Küche über den Kartoffeln, hielt das Schälmesser in der einen Hand, mit der anderen wischte sie sich die Tränen ab und dachte an den Tod.
Währenddessen lehnte sich Tante Filia, eingehüllt in einen Morgenmantel, gegen den Wind. Sie ging zwischen den Pfützen und Furchen auf der Hauptstraße bis zur großen Kreuzung in der Mitte des Dorfes. Zu Hause hatte sie alle Fleisch- und Krauttöpfe umgerührt, alle Teppiche geklopft und alle Tische und Böden gewischt. Jetzt hatte sie beschlossen, jemandem einen Besuch abzustatten. Als sie vorhin die Haustür hinter sich geschlossen hatte, war sie noch nicht sicher gewesen, ob sie zu ihrer Nichte Violeta oder zu ihrer Schwester Sara gehen wollte.
Das Dorf lag wie ein schiefes Netz um eine Straßenkreuzung, um den großen Platz, von dem aus man in alle vier Achsen des Ortes hineinsehen konnte. Als Filia an die Stelle kam, wo die vier ins Flachland hinausweisenden Straßen sich trafen, sah sie zuerst nach links hinunter zu Violetas Haus, machte einen Schritt, überlegte es sich jedoch anders und ging doch geradeaus. Ein Windstoß riss an ihrem Kopftuch. Sie sah auf und fing an zu zittern. Nicht vor Kälte. Ganz am Ende der Straße Richtung Cojaru erkannte Filia das Haus ihrer Schwester, in dessen Fenstern sich der dunkle Himmel spiegelte, aber vor allem sah sie, mitten in den Wolken, dort wo das tiefste Grau des Nachmittags über dem Schornstein hing, ein brennendes Zeichen.
Sara wohnte mit ihrem Mann Zavaidoc, ihren fünf Jungen und ihrer Tochter in einem Haus am Rand des Dorfes, Apfelbäume und riesige Rosenstöcke umgaben es. Filia starrte auf diese Stelle im Himmel über Saras Dach. Vor der dunklen Wolkendecke hing ein leuchtender Pfeil, er zeigte auf das Haus.
Filia war noch nicht lange und als einzige in der Familie zur Pfingstkirche übergetreten, aber sie wusste gleich, Gott hatte ihr den Weg durch den kalten Wind hierher gewiesen und in diesem Zeichen sprach er zu ihr. Sie raffte den Morgenmantel enger um ihre Brust und ging so schnell sie konnte auf die rot gestrichene Türe zu.
Als sie hereinkam, fragte sie, ohne zu grüßen und abzuwarten: »Sara, was ist los?«
Sara antwortete ebenfalls sofort, ohne sich zu wundern und mit Tränen in den Augen, sie sei wieder schwanger.
»Das ist ein Grund, sich zu freuen«, sagte Filia.
Sara schüttelte den Kopf. »Ich schäme mich, mein Ältester ist schon verheiratet und es ist hässlich, zur gleichen Zeit mit seinen Kindern ein Kind zu bekommen.«
»Sara, ich warne dich, denke bloß nicht daran, dieses kleine Mädchen in deinem Bauch abzutreiben. Denn es wird ein Mädchen sein.« Filia war sich sicher.
Ihre Schwester schüttelte traurig den Kopf, hörte Filias Prophezeiungen allerdings bis zu Ende an: »Wenn du das tust, dann wird dein dir liebster Sohn sterben.«
Sara murmelte zuerst etwas und sagte dann sehr klar: »Ich scheiß drauf, Filia, ich kann kein Kind gebrauchen, es geht einfach nicht.«
»Dieses Mädchen wird die Schwester deiner ersten Tochter und deine Hilfe im Alter. Denk an meine Warnung!« Filia schüttelte dreimal die Hand über ihrem Kopf.
»Geh zum Teufel«, sagte Sara und ihr liefen Schauder über den Rücken, weil sie so etwas Schlimmes gesagt hatte.
Filia drehte zuerst nur das Kinn zur Tür, dann ging sie aus dem Haus, ohne Auf Wiedersehen zu sagen.
Sara wendete sich seufzend wieder ihrem Bohnentopf zu und rührte weiter. Sie wusste, sie wollte nicht über das Kind oder über Filias Worte