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Sackgasse Brexit: Reportagen aus einem gespaltenen Land
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Sackgasse Brexit: Reportagen aus einem gespaltenen Land

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Warum kehren die Briten der EU den Rücken? Das Votum vom 23. Juni 2016 gründet in einer Reihe von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen, deren Wurzeln teilweise Jahrzehnte zurückreichen. Seit den 1980er-Jahren hat Großbritannien tiefere Veränderungen erlebt als die meisten anderen Länder Westeuropas. Die neoliberale Wirtschaftspolitik hat die Ungleichheit anwachsen lassen. Und während die Regierung alles auf den Finanzsektor in London setzte, erlebten die ehemals starken Industrieregionen einen steilen Niedergang – fruchtbarer Boden für Rechtspopulisten und Demagogen, die sich eine Rückkehr in die Zeiten des britischen Empire wünschen.
Der London-Korrespondent Peter Stäuber fühlt der hadernden Insel auf den Zahn. Seine Reportagen führen vom multikulturellen Londoner Stadtteil Lambeth zu den ehemaligen Bergbaugebieten im südlichen Wales, von den "Leavers" in der einst blühenden Küstenstadt Great Yarmouth zu den "Remainers" im schottischen Glasgow. Eindrücklich zeigen sie ein Land zwischen boomender City und vergessener Peripherie, zwischen Wirtschaftswahn und sozialem Elend und gehen dabei der Frage nach, wie die gespaltene Gesellschaft wieder zusammenwachsen kann.
LanguageDeutsch
Release dateSep 4, 2018
ISBN9783858698094
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    Book preview

    Sackgasse Brexit - Peter Stäuber

    übertragen.

    Kapitel 1

    London: Europäische Metropole, Wiege der Brexit-Elite

    Ausgerechnet Waterloo. An der hektischsten U-Bahn-Station Londons umzusteigen ist selbst zu Ebbezeiten ein Ärgernis, im Abendverkehr verdirbt es einem die beste Laune. Entkommt man dem Waggon der Jubilee Line, wird man vom Menschenstrom die Treppe hinaufbefördert, stapft dann dicht gedrängt und zügig durch den Tunnel, wie Ameisen bei der Arbeit, vorbei am Gitarristen, der tatsächlich Simon and Garfunkels Sound of Silence spielt und damit die gereizten Passanten noch verbissener marschieren lässt, und betritt dann in der Hoffnung auf etwas mehr Platz die Plattform der Northern Line, aber auch hier stehen die Passagiere schon drei Reihen tief. Als der Zug einfährt, drücke ich mich ins rappelvolle Abteil. Stockend ist die Fahrt, immer wieder halten wir mitten auf der Strecke, die Temperatur im Abteil steigt unerbittlich an. Eine Frau mit Buch in der Hand wirft wiederholt einen giftigen Blick auf den Hinterkopf eines jungen Mannes, weil sein rumwackelnder Rucksack ihr die Lektüre erschwert. Endlich fährt der Zug in Clapham North ein, und ich zwänge mich unter gemurmeltem »Excuse me, excuse me« aus dem Abteil. Nur nicht zu schnell auf die Plattform platzen: Sie ist schmal und man riskiert, auf der anderen Seite auf die Schienen zu fallen.

    Diese mühselige Reise muss sein, denn in einem Pub in Clapham, einem Quartier im Süden Londons, wird der glühende Europafreund Denis MacShane heute erklären, wie der Brexit gestoppt werden kann.¹ Dass dies möglich ist, behauptet er im Untertitel seines neuen Buches: Brexit, No Exit: Weshalb Großbritannien (am Ende) die EU doch nicht verlassen wird (2017). Wenige Jahre zuvor war er noch defätistischer gewesen: Sein Buch von 2015 heißt Brexit: Wie Großbritannien die EU verlassen wird. (Nach dem Referendum wurde es neu aufgelegt mit dem Titel Brexit: Wie Großbritannien die EU verlassen hat.) Kurz darauf publizierte er noch ein Buch, in dem er versuchte, genau dies zu verhindern: Bleiben wir zusammen: Ja zu Europa (2016). Europa ist MacShanes Lieblingsthema, und der Labour-Politiker kennt sich in der Materie aus.

    1948 geboren als Sohn einer Irin und eines Exil-Polen, fühlte er stets eine Verbundenheit zur Welt jenseits des Ärmelkanals. Anfang der 1980er-Jahre unterstützte er in Polen die regierungskritische Gewerkschaft Solidarność, bis er an einer Demonstration verhaftet und mit einem Einreiseverbot belegt wurde. 1994 trat er ins Parlament ein, und ab 2001 hatte er eine Reihe von Posten in Tony Blairs Labour-Regierung inne, zunächst als Staatsekretär im Außenministerium, dann drei Jahre lang als Europa-Minister. Seine nachfolgende Karriere war weniger illuster. 2010 begannen Gerüchte zu zirkulieren, dass er bei der Abrechnung seiner Spesen nicht ganz redlich vorgegangen sei. Zunächst wurden die Vorwürfe von einem Parlamentsausschuss untersucht, dann von der Staatsanwaltschaft. 2013 wurde MacShane aufgrund seiner gefälschten Spesen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er sechs Wochen absaß.² Auch über seinen Gefängnisaufenthalt schrieb er ein Buch: Prison Diaries.

    Dieser Mann also wurde heute in die Railway Tavern geladen, um seine Sicht auf die derzeitigen Brexit-Verhandlungen darzulegen. Als ich aus der U-Bahn-Station trete, ist es bereits dunkel, das Pub ist nicht auf Anhieb zu finden. An der Ampel steht ein älterer Herr mit Tragtasche und karierter Schiebermütze, der unsicher um sich schaut. Offensichtlich hat er ebenfalls die Orientierung verloren. Er überquert die Straße, bleibt stehen und konsultiert die Karte auf seinem Handy. Ich gehe zu ihm und sage: »Hallo. Sie sind Denis Mac-Shane, wir gehen zum gleichen Event.« Auf dem Weg zum Pub, das wir bald lokalisiert haben, stellt sich heraus, dass der Politiker so redselig ist, wie es sein Hang zum Schreiben vermuten lässt.

    Im oberen Stock der Railway Tavern warten bereits einige Gäste. Unter ihnen findet sich noch eine Schweizer Journalistin, und Mac-Shane beginnt in flüssigem Deutsch mit uns zu plaudern. »Aber ihr seid doch Ausländer«, sagt er augenzwinkernd. »Wir wollen Ausländer nicht.« Bald ist der Raum voll, und er beginnt seinen Vortrag. Eine Stunde lang zieht er über den Wahnsinn des EU-Austritts her und warnt vor den Folgen eines Ausscheidens aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Er spricht von den unvermeidlichen kilometerlangen Warteschlangen an der Grenze, vom Mangel an Fachleuten in unzähligen Sektoren, von chinesischen Restaurants in Soho, die ihre Peking-Ente aus dem Angebot nehmen müssten, weil die Enten fast ausschließlich aus Irland kommen. MacShane erzählt witzig, zu jedem Punkt weiß er eine Anekdote. Gelacht wird über die Inkompetenz des Außenministers Boris Johnson und über die unrealistischen Erwartungen der Brexiteers. »Alle Träume, über die wir in der Presse lesen, sind schlichtweg nicht möglich«, sagt MacShane. Das Publikum nickt.

    In Clapham kann sich MacShane der Zustimmung sicher sein: Das Quartier liegt im Stadtbezirk Lambeth, dem EU-freundlichsten Gebiet im ganzen Land. 78,6 Prozent der Wähler haben gegen den Brexit gestimmt; nur in Gibraltar war der Anteil mit 96 Prozent noch höher. In London insgesamt war das »Remain«-Votum etwas weniger überwältigend, aber dennoch deutlich: 60 Prozent wollen in der EU bleiben. Sieben der zehn EU-freundlichsten Wahlkreise im Land liegen in der Hauptstadt. »Es gibt keinen Grund zur Panik«, beschwichtigte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan seine Landsleute am 24. Juni 2016. Die Stadt werde so bleiben, wie sie ist: international, boomend, ein Magnet für Leute aus Europa und Übersee.

    London ist die globale Stadt schlechthin. Die Internationalität der Metropole ist mitunter das Erste, was einem bei einem Spaziergang durch die Straßen auffällt. Menschen aus aller Welt haben sich hier ihr Zuhause gemacht, dreihundert verschiedene Sprachen werden gesprochen, und manche Communitys prägen heute ganze Stadtteile – Bengalen in Whitechapel, karibischstämmige Briten in Brixton, Juden in Stamford Hill und Franzosen in South Kensington. Laut der letzten Volkszählung machen die Londoner, die sich als weiße Briten bezeichnen, nur 45 Prozent der Einwohner aus.³ Die Immigration hat eine lange Geschichte. Angefangen mit den Hugenotten, die im 18. Jahrhundert Zuflucht vor der Verfolgung in Frankreich suchten und sich im Osten der Stadt niederließen, trafen immer wieder größere Wellen von Einwanderern ein und prägten die Stadt mit: Im 19. Jahrhundert waren es vorwiegend Iren sowie Juden aus Osteuropa und Russland, nach dem Zweiten Weltkrieg Migranten aus den ehemaligen Kolonien, in den 1970er-Jahren Bangladeschis und indischstämmige Flüchtlinge aus Ostafrika. In den 1990er-Jahren folgten Menschen aus mehreren Kriegsgebieten: Afghanistan, Somalia, Ex-Jugoslawien. Eine weitere Phase der Migration begann mit der EU-Osterweiterung 2004. Die Polen wurden zur größten Einwanderergruppe – heute gibt es kaum ein Quartier, in dem kein osteuropäischer Spezialitätenladen steht. Und schließlich kamen junge Menschen aus Südeuropa, die inmitten der Eurokrise Arbeit in einer stabileren Volkswirtschaft suchten.

    Die Einwanderung aus der EU erfolgte zu einem Zeitpunkt, als London in einem beispiellosen Boom schwelgte, der bis heute anhält. Die entfesselte City of London, also der Finanzdistrikt im historischen Kern der Stadt, wurde zum wichtigsten internationalen Geschäftszentrum, das Talente und Geld aus Übersee anlockte. Dieser Prozess hatte bereits in den 1980er-Jahren angefangen, erhielt jedoch gegen Ende der 1990er-Jahre einen kräftigen Schub. Geld und Menschen flossen nach London, die Stadt wuchs so schnell wie zuletzt zur Zeit von Königin Viktoria; derzeit wird die Bevölkerung auf annähernd 8,8 Millionen geschätzt. Nicht nur in den Handelsräumen der City hörte man zunehmend Englisch mit ausländischem Akzent, sondern auch hinter den Theken der Cafés, in denen sich die Finanzjongleure und Buchhalter mit Nahrung und Koffein versorgten. Fast ein Drittel der 455 000 Angestellten, die heute in der City arbeiten, wurden im Ausland geboren.⁴ Aber der Aufstieg Londons geht weit über das Finanzzentrum hinaus. Internationale Baufirmen butterten in den vergangenen fünfzehn Jahren Milliarden Pfund in schicke Neubauten, Start-up-Unternehmen schießen rund um die Old Street wie Pilze aus dem Asphalt, Londoner Modeunternehmen und Restaurants lassen die Pariser Bourgeoisie neidisch über den Kanal schielen, und Künstler und Architekten verleihen der Stadt ein kreatives Flair. London schafft es, Los Angeles, Washington und New York in einem zu sein, schrieb die New York Times im April 2017.⁵ Die unendlichen Möglichkeiten der Metropole ziehen Menschen aus Europa und ferneren Ländern wie die Schwerkraft an sich – und die Stadt brauchte sie: Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland würden viele Branchen schlichtweg nicht funktionieren. Zwischen 2005 und 2015 verdoppelte sich die Zahl der EU-Bürger in der Stadt, heute sind es fast eine Million. Die jüngsten Zahlen lauten wie folgt: 148 000 EU-Migranten arbeiten in der Londoner Gastronomie, 190 000 im Finanzsektor, 109 000 im Baugewerbe, 33 000 in der herstellenden Industrie und 82 000 in der Transport- und Kommunikationsbranche.⁶ Ein Drittel der 62 000 EU-Bürger, die im Gesundheitsdienst NHS angestellt sind, lebt und arbeitet in London.⁷

    Tritt man aus dem Bahnhof London Bridge auf die Borough High Street, steht man mitten in diesem brummenden, lebhaften London, das aus seiner Internationalität ein gelassenes Selbstbewusstsein schöpft. Protzig sind die Hochhäuser der City auf der anderen Seite der Themse, protziger noch der »Shard« gleich neben dem Bahnhof. Ich bin zu früh für meinen Termin, also gehe ich zur Zeitungslektüre in die John Harvard Library, benannt nach dem Gründer der US-amerikanischen Hochschule, der hier geboren wurde. Ein halbes Dutzend Sprachen höre ich auf dem Weg, und in der Bibliothek werde ich von einer lateinamerikanischen Großmutter in unwirschem Spanisch von meinem Platz vertrieben, weil ihre Tochter bald mit ihrem niño auftauchen werde. Wenig später schnappt sie sich den Platz eines Mannes, der kurz aufstand und sich einen Kaffee holte. »Die macht es einem nicht einfach«, meint er lapidar, als er sich gegenüber von mir hinsetzt. Gelassen muss man bleiben.

    Auch Terroranschläge stecken die Londoner weg. Am 3. Juni 2017 rannten drei Männer in einem Mordrausch die Borough High Street runter, nachdem sie zunächst mit einem Kleinlaster die Brücke überquert hatten, dabei auf den Gehsteig fuhren und drei Menschen tödlich verletzten. In den Händen hielten sie lange Küchenmesser, befestigt an den Handgelenken, mit denen sie auf Passanten einstachen und in den Borough Market vordrangen. Wenige Minuten später wurden sie von der Polizei erschossen. Acht Menschen starben bei dem Anschlag, dem zweiten in London innerhalb von wenigen Monaten. Doch die Großstadt ging schnell wieder zum Alltag über. Der Borough Market ist an diesem kalten Novembertag so belebt wie immer um die Mittagszeit. Touristen und Angestellte beim Lunch gehen zwischen den Spezialitätenläden hindurch, von deren erlesenem Angebot sie gern kosten, weniger gern kaufen: Fleur de Sel aus der Camargue, handgezogener Büffelmozzarella aus Kampanien, kroatischer Salami, Cinta-Senese-Schinken, alles teuer. Für Eis ist es zu kalt, aber die Gelateria gegenüber vom Pub macht auch guten Kaffee.

    Heather Glass nippt von ihrem Cappuccino. Die 38-Jährige, die für ein Londoner Energieunternehmen arbeitet, engagierte sich in der Kampagne für den Verbleib in der EU und koordiniert heute die Gruppe »Lambeth for Europe«. Diese Kampagne war es, die in der Woche zuvor Denis MacShane nach Clapham eingeladen hatte. »Nach dem verlorenen Referendum wollten wir irgendetwas tun – was, das wussten wir noch nicht«, sagt Glass.⁸ Doch dass sich die Pro-Europäer jetzt einfach aus der Debatte zurückziehen und den Brexit akzeptieren sollten, das war ausgeschlossen. Ob sie dadurch denn nicht den Volkswillen ignoriere, gar die Demokratie verachte, wie es manche Brexiteers den Remainers vorwerfen? »Blödsinn. Undemokratisch ist es vielmehr, eine extrem eng definierte Version des Brexit durchzudrücken, die im Prinzip von einer Mischung aus Pressebaronen, Desaster-Kapitalisten und Politikern ohne Rückgrat vorangetrieben wird.« Das heißt nicht, dass das Votum einfach missachtet werden sollte – das wäre tatsächlich nicht demokratisch. »Aber man hätte die Leute zunächst fragen sollen, was sie sich denn vom Leben außerhalb der EU wünschen – man hätte Workshops machen können, Konsultationen abhalten und so weiter. So hätten die Leute gesehen, was sich ändern würde und was für Optionen es gäbe.« Aber so, wie die Verhandlungen in den vergangenen achtzehn Monaten gelaufen sind, werde der Brexit eine »gigantische Shit-Show«, meint Glass.

    Früher, als Teenager, war auch sie viel EU-kritischer als heute. Damals lebte sie noch in Reading, einer Stadt im Themsetal, westlich von London. »Es hatte etwas mit Souveränität zu tun – ich sah die EU als ein gesichtsloses Gebilde, das uns Entscheidungen aufzwängt. Ich glaubte, sie raube uns unsere Individualität und unsere Tradition.« Als sie erwachsen wurde, änderte sie ihre Meinung um 180 Grad. Der wichtigste Faktor für diesen Umschwung war, dass sie jetzt in London lebte: »Städte zwingen dich, mit anderen Leuten in Kontakt zu treten. Wenn man in einer Stadt wohnt und all diese Leute trifft, merkt man, dass der isolierte Blickwinkel, den man vorher hatte – etwa meine frühere Xenophobie –, recht dumm ist.« Verantwortlich für ihre ausgesprochene Brexit-Ablehnung ist ein eher diffuses Gefühl, dass Zusammensein besser ist als Trennung: »Ich hasse Streit. Ich kann nicht ins Bett gehen, wenn eine Auseinandersetzung schwelt. Ich versuche stets, die Wogen zu glätten. Dasselbe empfinde ich auch in Bezug auf die Beziehungen zwischen Ländern.«

    Unter Leuten wie Glass war das »Remain«-Votum überwältigend: relativ junge, gut ausgebildete und ordentlich verdienende Berufstätige. Sie fühlen sich in der multikulturellen Stadt rundum wohl und sehen die Vorteile der EU-Mitgliedschaft jeden Tag. Sie sind jene Weltbürger, die Theresa May abschätzig als »Bürger von nirgendwo« bezeichnet hat.⁹ Ähnlich wie May äußert sich David Goodhart, Journalist und Kritiker des Multikulturalismus. Er beschreibt diese Leute als Teil jener Elite, die in den vergangenen dreißig Jahren zur dominanten gesellschaftlichen Gruppe aufgestiegen sei: erfolgreiche, sozialliberale Individualisten mit Universitätsausbildung, die gern mal eine Zeit lang im Ausland arbeiten und Migration im Allgemeinen begrüßen – die Nutznießer der Globalisierung. Goodhart fasst sie unter der Bezeichnung »Anywheres« zusammen. Er stellt ihnen die »Somewheres« gegenüber, denen Tradition, Nation und Familie viel wichtiger sind. Diese zweite Gruppe sei es, die in den vergangenen Jahrzehnten an gesellschaftlichem Einfluss verloren habe – und der Brexit sei ihre Rache.¹⁰ Wenig überraschend ist London für ihn der Inbegriff des Weltbürgertums: Er bezeichnet die Stadt als »Anywhereville«, die Stadt der Entwurzelten. Dies sind die Einwohner, die vom London-Boom der vergangenen zwei Jahrzehnte profitiert haben.

    Die Global Villagers, wie Goodhart den harten Kern der Weltbürger nennt, zeichnen sich in erster Linie durch ihre gute Ausbildung aus – eine Bevölkerungsgruppe, die in London überdurchschnittlich vertreten ist. Ein Viertel der Absolventen britischer Universitäten arbeiten in der Hauptstadt, deutlich mehr als der Londoner Anteil an der Gesamtbeschäftigung im Land; unter den besten Abgängern der führenden Universitäten im Land arbeiten sogar 38 Prozent in London.¹¹ Im Jahr 2014 wurden 45 Prozent aller freien Stellen für Hochschulabgänger in der Hauptstadt ausgeschrieben.¹² Laut der Statistikbehörde der EU-Kommission ist London die Stadt mit der höchsten Konzentration an Uni-Absolventen in Europa: Im westlichen Zentrum haben fast 70 Prozent der berufstätigen Erwachsenen einen Universitätsabschluss.¹³

    In den Sektoren, in denen diese Leute arbeiten – darunter Finanzdienstleistungen, Medien, Recht, Kultur –, hat die Immigration keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungsaussichten der Briten, im Gegenteil. Ein Grund hierfür ist, dass die Fertigkeiten der Migranten jene der Einheimischen in der Regel nicht ersetzen, sondern ergänzen. Ein Beispiel: Als ich vor einigen Jahren in einem Unternehmen für Medienbeobachtung arbeitete, waren Sprachkenntnisse erforderlich, über die nur wenige Briten verfügten; weit mehr als die Hälfte unseres Teams bestand aus EU-Migranten, alle gut qualifiziert und mehrsprachig, deren Jobs kaum von einem Briten hätten erledigt werden können und die deshalb für einheimische Arbeitnehmer keine Konkurrenz darstellten. Solche Unternehmen profitieren von der Mitgliedschaft im Binnenmarkt und von der Personenfreizügigkeit: Sie bietet ihnen einen größeren Topf an Kunden und Fachkräften, aus denen sie auswählen können.

    Auch wenn man den Blick von einzelnen Unternehmen auf die ganze Wirtschaft ausweitet, ist die Migration positiv, insbesondere in London: Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfers PricewaterhouseCoopers sind die 1,8 Millionen Migranten für 22 Prozent der jährlichen Bruttowertschöpfung der städtischen Wirtschaft verantwortlich und kommen für 4,5 Prozent der gesamten Steuereinnahmen des britischen Fiskus auf.¹⁴ Andere Erhebungen kommen zum Schluss, dass der Beitrag, den EU-Migranten dem Staat zahlen, weit größer ist als die Summe der staatlichen Leistungen, die sie beziehen (in erster Linie ist das der Tatsache geschuldet, dass viele von ihnen jung und gesund sind). Mehrere Studien haben zudem ergeben, dass die Löhne durch die Einwanderung kaum nach unten gedrückt werden. Nur in den gering qualifizierten Sektoren hat Immigration negative Folgen für die Einkommen der Angestellten; besser qualifizierte Arbeiter hingegen profitieren in puncto Einkommen von der Einwanderung.¹⁵ Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Einwanderer nicht nur bestehende Arbeitsplätze füllen, sondern auch neue schaffen: Migranten benutzen Dienstleistungen und konsumieren Güter, was zu einer Steigerung der Nachfrage führt; auch können qualifizierte Migranten die Produktivität einer Firma erhöhen. Beide Effekte haben zur Folge, dass die Löhne steigen.¹⁶

    Kaum verwunderlich also, dass die kosmopolitischen Londoner mit Uni-Ausbildung die britische EU-Mitgliedschaft mitsamt der Personenfreizügigkeit beibehalten wollen. Tatsächlich ist das Bildungsniveau der deutlichste Indikator dafür, auf welcher Seite in der Brexit-Debatte jemand steht: 68 Prozent der Hochschulabsolventen stimmten für »Remain«, wohingegen 70 Prozent der Wähler mit einem Real- beziehungsweise Sekundarschulabschluss (oder darunter) für »Leave« stimmten.¹⁷ Teilweise ist dies eine Frage des Einkommens: Zwar ist eine Universitätsausbildung keine Garantie, dass jemand auch einen guten Job hat – das Einkommen von Studienabgängern stagniert seit vielen Jahren. Dennoch verdienen sie besser als Berufstätige, die nicht auf die Hochschule gingen.¹⁸ Und das Einkommen spielte im Brexit-Votum eine fast ebenso wichtige Rolle wie die Ausbildung: 58 Prozent der Leute, die in Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 20 000 Pfund leben, stimmten für den Brexit, während es in Familien mit Einkommen von über 60 000 Pfund lediglich 35 Prozent waren.¹⁹ Aber das Bildungsniveau hat auch eine andere, nicht materielle Dimension. An der Universität, besonders an den international orientierten britischen Hochschulen, treffen die Studenten oft auf Leute aus vielen verschiedenen Ländern und Kulturen, sie lernen den Wert von Toleranz und Diversität zu schätzen, und sie setzen sich mit neuen Ideen und Weltbildern auseinander. All dies hat einen Einfluss auf politische Haltungen und auf die

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