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Nach dem Fest: Erzählungen
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Nach dem Fest: Erzählungen

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In ihrem neuen Erzählband "Nach dem Fest" führt uns Christine Haidegger an die unterschiedlichsten Orte: in Salzburg etwa entwirft sie ein Zukunftsszenario, in dem die Altstadt mit einer hohen Plexiglaswand eingefasst und von einer Kuppel überspannt ist. Die Touristenströme werden ebenso reguliert wie die Besucherzahl der Einheimischen, die für die Innenstadt eine Dauerkarte besitzen.
In Venedig hingegen ist alles zugänglich. Dort treffen wir die Übersetzerin Anna, die einige Sommerwochen zum Arbeiten in der Lagunenstadt verbringt. Ihr Leben unter den alteingesessenen Venezianern, die Gespräche beim Weinhändler, in einem Friseursalon oder in einer kleinen Bar fernab der touristischen Attraktionen, zeigt uns einen wohltuend anderen Blick auf das mit Klischees überladene Venedig.
Ernst wird es dort, wo ein einsamer Mann aufs Meer blickt und seine Frau vermisst; wo ein nicht minder einsamer eine Frau grausam tötet, in der er seine Mutter sieht.
Und tieftraurig in jenem Haus in der österreichischen Provinz, in dem ein Ehepaar seit vielen Jahrzehnten zusammenlebt. Der Mann weiß nicht, wie er seiner Frau die Nachricht überbringen soll, die das Familienleben verändern wird. Er verschiebt die Aussprache auf die Tage nach dem Fest - nichtsahnend, dass auch seine Frau ein schreckliches Geheimnis mit sich trägt.
LanguageDeutsch
Release dateSep 7, 2018
ISBN9783701362639
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    Book preview

    Nach dem Fest - Christine Haidegger

    Fellinger

    Heimatlos

    Sie überquert die Straße ohne sich umzusehen, wie immer. Später wird sie den Schlüssel in der Manteltasche finden, altmodischer Schlüssel mit Bart, ihn befingern, erkennen. Einen Augenblick in der Hand wärmen und dann über die Uferböschung werfen. Lautlos wird er im milchweißen Strudel des Schmelzwassers versinken.

    Abends wird sie durch die Stadt gehen in der frühen Dunkelheit, den Kopf gesenkt, als wehte der Wind von den Bergen. Noch sind die Geschäfte geöffnet, stehen müde Verkäuferinnen versteckt gähnend in den beleuchteten Räumen.

    Auf einer der Brücken hält sie inne, betastet das eiserne Geländer mit klammen Fingern. Der Fluss rauscht, denkt sie, obwohl sie ihn über dem Verkehrslärm nicht hören kann.

    Die Augen der Toten werden grün, hat sie irgendwo gelesen. Noch sind ihre blau.

    Der Friedhofseingang ist bereits geschlossen – auch dafür gibt es Vorschriften in dieser Stadt. Sie lächelt. Das schmiedeeiserne Tor ist kein besonderes Hindernis. Das Grab liegt an einem der Hauptwege, dann das vierte in der zehnten Reihe. Leicht zu finden auch in der Dunkelheit. Wolkenfetzen treiben über den Himmel. Sie legt den Kopf in den Nacken und sieht zu den Sternen, dem saugenden Tief dahinter. Setzt sich auf das Holzbänkchen, in dem der Witwer seine Grabwerkzeuge versperrt hat. Der Efeu auf dem Grabstein seiner Frau raschelt.

    Die Frau sitzt einige Zeit fast reglos.

    „Pass gut auf den Schlüssel auf, hörst du!"

    Die Stimme der Mutter.

    Der Haustürschlüssel hängt an seinem Band um ihren Hals. Sie ist nicht die einzige in der Klasse. Oft gehen Schlüssel trotzdem verloren, warten die Volksschulkinder, wenn sie Glück haben, bei der Nachbarin, bis abends die Mütter heimkommen. Müde, mit schlechtem Gewissen. Aber das Geld reicht sonst nicht. Die Kinder verstehen es später, die Nachbarinnen nicht immer. Nervöse Mütter, voller Erleichterung, dass dem Kind nichts passiert ist. Trotzdem oftmals die schnelle, erleichterte Ohrfeige. Schlüssel kosten Geld. Hat das Kind wirklich sorgfältig gesucht?

    Später die Freunde der Mutter.

    Der Fernseher läuft lange an diesen Abenden, es ist schwer, einzuschlafen. „Du bist noch zu jung", sagt die Mutter. Will nicht glauben, dass der Freund das Kind betatscht.

    Endlich kommt Fred, mit dem das Haus gebaut wird. Das Kind noch immer zu jung, um viel zu helfen, meist ist das Essen kalt. Fred braucht sein Bier dazu. Am Wochenende kommen seine Freunde auf die Baustelle. Das Kind lacht über die Witze, während es Baumaterial schleppt. Schon ist es dreizehn.

    Fred will nicht heiraten, ehe das Haus fertig ist. Die Mutter drängt.

    Brautjungfer mit fünfzehn, erstmals seit langem ein neues Kleid. Die neuen Schuhe drücken.

    Das eigene Zimmer im eigenen Haus. Aber wenig Zeit, es zu genießen. „Schwarz" mit der Mutter nachts noch Büros reinigen wegen der Schulden. Am Wochenende im Garten mithelfen – warum soll man Gemüse kaufen, sagt Fred, sagt der Vater, das bisschen Arbeit schadet euch nicht.

    Er ist fleißig, macht Überstunden, wo immer er kann, kaum ein Wochenende zuhause. Den Grund wird die Mutter erst später erfahren. Die Nachbarn haben es lange schon vermutet.

    Das Kind hat keine Freundinnen. Nach der Schule gleich im Sommer kann es in einem Gasthaus aushelfen, da braucht’s keine Ausbildung, das lernt sich so. Die Arbeitszeit ist lang, auch wenn nachmittags zwei Stunden frei sind, damit kann man nicht viel anfangen. Der freie Montag ist zum Ausschlafen, am Nachmittag kann sie Bügelwäsche fertigmachen für ein paar Frauen aus der Umgebung, dabei kann man fernsehen. Manchmal, wenn sie sie zurückbringt, bekommt sie ein kleines Trinkgeld. Dafür kauft sie Schokolade.

    Die Mutter behält nur einen Rest Haushaltsgeld, die Tochter darf von ihrem Lohn nur einen Bruchteil behalten. Alles geht an Fred, alles geht auf für die Schulden, das Haus.

    Später bekommt sie auch Trinkgelder im Service. Nicht so viel wie die anderen, aber immerhin. „Musst mehr mit ihnen schäkern, sagt die Wirtin, „stell dich nicht immer so an, sei nicht so ernst.

    Manchmal probiert sie das Lächeln vor dem Spiegel im Stiegenaufgang.

    Das Gasthaus baut aus, zwölf Fremdenzimmer werden es sein. Gekicher in der Küche. Da werden auch unverheiratete Männer dabei sein, wirst sehen. Und so ein Urlaubsflirt … Der Zubau ist in einem Jahr fertig gestellt und nun kann sie Zimmermädchen werden, wenn sie will, da hat sie nicht so viel mit den Gästen direkt zu tun, braucht nicht zu lächeln und zu lachen, wenn sie nicht will, sagt die Wirtin. Im Service braucht man einfach lustigere Menscher.

    Etwas weniger Geld, aber sie ist’s zufrieden. Mit zwanzig ist sie immer noch Jungfrau. Sie kommt ja nirgends hin. Manchmal liest sie in den Büchern, die die Gäste vergessen haben. Liebesgeschichten sind ihr am liebsten. Immer geht alles gut aus, das ist wichtig.

    Schokolade und Liebesgeschichten, denkt die Frau auf dem Friedhof. Sie fröstelt.

    Von der Schokolade wird sie dicker. Später auch von ihrer ersten Liebesgeschichte mit einem verheirateten Stammgast, einem Monteur. Dass sie schwanger ist, merkt sie zu spät.

    Fred hat es ja immer schon gewusst, dass sie ein dummes Trampel ist, die Mutter denkt an die Schande, und wer sich wohl dann um das Kind kümmern soll.

    Die Frau des Stammgastes darf nichts erfahren, das muss sie schwören, und wegen der Alimente wird man schon sehen, sein Aufenthalt ist in zwei Tagen vorbei, die soll man doch jetzt noch ausnutzen.

    Die Schwangere ist verwirrt, es ist alles so anders als in den Geschichten, aber sie freut sich auf das Kind. Darüber hinaus mag sie nicht denken.

    Das Mädchen wird zu früh geboren, ist nicht lebensfähig. Mit dem Weihnachtsgeld bezahlt sie das Begräbnis.

    Der Stammgast kommt nicht mehr in den Ort.

    Dass Fred eine Freundin hat, der er das ganze Geld zusteckt, merkt die Mutter dann an den Mahnungen der Bank. Vorwürfe, Streit, Weinen.

    Das wenige Ersparte der Tochter hilft einen Monat. Aber was dann?

    Die Zeitungsmeldung ist nicht besonders groß. „Mord und Selbstmord in S." Wahrscheinlich im Streit wegen einer anderen Frau und drückenden Bankschulden hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag der Bauhilfsarbeiter M. aus S. seine Frau mit der Hacke getötet und sich dann im Dachboden erhängt. Fremdverschulden ist auszuschließen.

    Die Tochter steht in der Küchentür und sieht auf das dunkle Blut, das sie an Schokolade erinnert. Hinter dem Kühlschrank liegt der Körper der Mutter. Stumm beugt sie sich über die tote Frau. Noch verspürt sie keinen Schmerz. Abwesend holt sie aus ihrer großen Umhängetasche eine Tafel Schokolade. Als sich die Ortspolizei am Telefon meldet, muss sie erst schlucken.

    Die Frau streicht mit den Fingerspitzen über die Vertiefungen im Grabstein.

    Das Kind. Die Mutter.

    Fred liegt anderswo begraben.

    Das Haus gehört nun der Bank, auch wenn sie einen Schlosser brauchen werden, um hineinzukommen. Die Frau lächelt.

    Später wird sie wieder über das Friedhofsgitter steigen, Richtung Fluss gehen. Sie wird den Obdachlosen, die sich die Hände über dem kleinen Feuer wärmen, das in einem Kochgeschirr brennt, einen Guten Morgen wünschen im Vorbeigehen und dann an einem Bauzaun stehenbleiben, auf dem groß angekündigt ist, sodass sie es in der Morgendämmerung lesen kann: HIER BAUT DIE HEIMAT ÖSTERREICH.

    Sie wird ein Stück Schokolade essen und weitergehen zum Bahnhof und ihrem Frühzug in ein anderes Land.

    Der Traum von Salzburg

    So wie Hallstatt in China, gibt es nun auch Salzburg in Nevada – nämlich in Las Vegas. Der Casinoeingang erfolgt durch die 34 Stockwerke hohe Festung, und im Inneren empfängt die Spieler Mozart, der ja auch ein Glücksspieler war, ganz „original, mit Perücke an einem – natürlich weißgoldenen – Flügel, der live ununterbrochen „Eine kleine Nachtmusik spielt. Dahinter hört man über dem Gedudel der Spielautomaten „Sound of Music", während ältliche Serviererinnen in weit ausgeschnittenen Microdirndln, die die Unterwäsche erahnen lassen, gratis Nannerllikör darbieten.

    Weiter geht’s durch einen glasgedeckten Gastgarten, der halb Müllnerbräu halb St. Peter nachgebaut ist und Biertische die Roulettetische umgeben.

    Anschließend – so wie der verkleinerte Markusplatz im naheliegenden Casino „Venetian" – geht’s über den Alten Markt zum Hotel-check-in, der den Blick in die Getreidegasse freigibt, wo die gelangweilten Frauen der eingeflogenen Spieler in den Designerläden mit ihren Platinkarten überteuerte Kleider, Schuhe, Taschen und Souvenirs kaufen.

    Der Swimmingpool ist in einer riesigen Mozartkugel versteckt und wird hauptsächlich von Japanerinnen benutzt, die verzückt dem Lied „Edelweiß, Edelweiß" lauschen, das sie als österreichische Hymne identifizieren und textsicher auch gerne beim dritten Mal noch mitsingen.

    Im ersten Stock vor dem dreidimensionalen Sattlerpanorama stehen auf dem domlosen Residenzplatz Mozarts Geburtshaus, das ja in der Getreidegasse fehl in dieser gewesen wäre, und das von dem berühmten Architekten Calatrava entworfene „Sound-of-Music-Museum, in dem neben Adventsingen auch „Mozart dinners mit Schnitzeln und Nudeln geboten werden.

    Lachend wachst du auf und siehst aus dem realen Salzburger Fenster hinunter auf die Touristenschlangen an den vielen Kiosken, wo der Eintritt in die mit mönchsberghohem Plexiglas durchsichtig abgeschirmte und überdachte Altstadt zu bezahlen ist, und denkst an den Niedergang des überflüssig gewordenen Schirmmachergewerbes.

    Vielleicht solltest du auch wieder einmal in die Stadt gehen – wie alle Bewohner hast du eine Dauerkarte und darfst daher die ehemalige Staatsbrücke jederzeit an Montagen, so wie heute, gratis benutzen. Aber die App auf deinem Smartphone zeigt, dass die erlaubte Einheimischenbesucherzahl bereits erreicht ist. Nun ja, dann eben ein anderes Mal …

    Nach dem Fest

    Die Frau öffnet das Fenster. Ihr weißer Arm neben dem weißen Lack des Rahmens. Sie beugt sich vor und sieht hinaus in den Wintertag. Fröstelnd reibt sie die Arme, verschränkt sie, tritt in das Zimmer zurück. Der Mann beobachtet die Frau. Giert nach dem bläulichen Schatten in ihrer Armbeuge. Aber die Arme bleiben verschränkt.

    Die Frau steht still, die Augen halb geschlossen, das Gesicht völlig ruhig. Es wird kühler im Zimmer, die weiße Gardine bewegt sich leicht. Dann tritt die Frau vor und schließt das Fenster wieder. Die Stimmen der Kinder im Hof nur mehr ein buntes Zirpen.

    Jetzt wäre es Zeit, etwas zu sagen, doch der Moment verstreicht.

    Der Mann zieht sich tiefer in seinen Polstersessel zurück. Die Frau hat den Raum verlassen, das Licht wird schwächer.

    Hanna steht in der Küche, wie immer in der Küche, wie seit Jahren in der Küche. Das Neonlicht erhellt das dunkle Holz, das der Mann im Wohnzimmer vor Jahren ausgesucht hat. Edel und schmutzabweisend.

    Aus dem Schauraum gekaufte Küche, immer schon die falsche Arbeitshöhe gewesen, etwas unpraktisch im Arbeitsablauf, immer schon zu wenig Stauraum. Menschen aus der Familie der Frau sind älter geworden, gestorben. Haben hinterlassen, vererbt. Die Oberkanten der Küchenzeile quälend voll mit ihren bäuerlichen Geräten, die sie selbst schon nicht mehr verwendet haben. Morgen ist der Tag, an dem sie wieder geputzt werden.

    Strohkörbe, Mehlsiebe, blauemaillierte Kaffeekannen, dunkle Kaffeemühlen, geschwärzte Kohlebügeleisen. Der Mann freut sich. Die Preise in den Antiquitätenläden steigen. Er hat keine Erinnerung an die Frauen, die all das nach dem Krieg noch benutzt haben.

    Der Tisch vor der Eckbank ist zu klein für fünf Personen. Gut, dass die Kinder außer Haus sind. Die Frau deckt den Tisch, bewegt sich fast lautlos in der Küche. Der Mann sieht ihren hellen Schatten durch die milchige Glastüre, die halb offen steht.

    Er stellt den Fernseher an, rollt ihn mit dem Teewagen nach rechts, öffnet die Küchentüre ganz und nimmt seinen Platz auf der Eckbank ein, Fernbedienung in der Hand. Die Frau trägt das Essen auf, bedacht nicht zwischen ihn und den Bildschirm zu kommen.

    Der Mann kommentiert die Nachrichten nicht. Die Frau trinkt Mineralwasser, füllt sein Glas automatisch nach, der Wein hat die richtige Temperatur.

    Als das Telefon läutet, bedeutet er ihr, es läuten zu lassen, erhöht den Fernsehton. Es ist unhöflich, während der Essenszeiten anzurufen. Nach siebenmal Klingeln schweigt das Telefon. Der Mann nickt zufrieden. Während sie die Spülmaschine füllt, geht der Mann zurück ins Wohnzimmer. Der Wetterbericht war günstig. Der Teewagen mit dem Fernseher steht nun wieder auf seinem angestammten Platz im Holzwandverbau. Die dunkelbraunen Samtvorhänge werden geschlossen, die Heizkörper kontrolliert. Abends bevorzugt der Mann einen schmutzlehmfarbenen ledernen Ohrensessel. Die Esszimmergarnitur am anderen Ende des Raumes bietet sechs Personen Platz. Das gestickte Leinentischtuch in Beige und Rot ist von schwerer Qualität, die Bordüre streift fast die Perserteppiche. Das schwarze Klavier ist geschlossen, auf der dunkelgrünen Samtdecke stehen grünweiße Keramikvasen der bekannten Manufaktur. Der Kristallleuchter ist sechzig Jahre alt. Nur jede zweite Glühbirne leuchtet matt, wenn man ihn benutzt.

    Der Mann wechselt die Fernsehprogramme, bückt

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