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Emphyrio
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Ebook338 pages7 hours

Emphyrio

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About this ebook

Vor etwa 2000 Jahren lebte ein Mensch, der die Welt befreite, indem er die Wahrheit verkündete.
Heute lebt ein junger Mann, dem die Geschichte des Befreiers für sein Leben und seinen Weg wichtig ist. Um die Welt zu befreien, muss er werden wie er und die Wahrheit ans Licht bringen …

Halma – eine Welt hinter dem Mirabilis-Sternhaufen. Die Stadt Ambroy liegt nach Zeitaltern der Kriege halb in Ruinen. Die Lords oder auch ›Heiler‹, wie sie mitunter genannt werden, haben die grundlegende Infrastruktur wiederhergestellt. Die Kosten, die sie dafür aufgebracht haben, werden ihnen von den Empfängern zurückbezahlt.
Die Empfänger sind Handwerker, die Kunstwerke schaffen, ohne Vervielfältigungshilfen verwenden zu dürfen – wie beispielsweise der Holzschnitzer Amiante Tarvoke. Dessen Sohn Ghyl wächst in diesen Umständen heran und lernt die Verhältnisse kennen.
Wohlfahrtsmittler achten darauf, dass die Vorschriften eingehalten werden und die Empfänger den Tempel Finukas besuchen, um ihre Sprünge zu absolvieren.
Die Legende von Emphyrio fasziniert Ghyl von klein auf. Sein Vater kennt allerdings nur die Hälfte der Überlieferung; Ghyl, der sich mehr und mehr mit Emphyrio identifiziert, will die ganze Geschichte wissen, denn sie ist eng verknüpft mit der Wahrheit seines eigenen Lebens, mit der Wahrheit Ambroys und Halmas, mit der Wahrheit an sich.

Emphyrio ist die Geschichte über die Suche nach der Wahrheit, nach sich selbst und dem richtigen Handeln – keine Abenteuergeschichte, sondern ein Bildungsroman, wie Joanna Russ in ihrer Besprechung in The Magazine of Fantasy and Science Fiction im Januar 1970 schrieb.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateSep 16, 2018
ISBN9781619472938
Emphyrio
Author

Jack Vance

Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

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    Book preview

    Emphyrio - Jack Vance

    Jack Vance

    Emphyrio

    Edition

    Andreas Irle

    Hunschlade 27

    51702 Bergneustadt

    2016

    Originaltitel: Emphyrio

    Copyright © 1967, 2002 by Jack Vance

    Originalausgabe: Emphyrio – Doubleday: Garden City, 1969

    Deutsche Erstausgabe: Emphyrio – Heyne: München, 1971

    Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Spatterlight Press

    Titelbild: Joe Bergeron

    Karte: Christopher Wood

    Satz: Andreas Irle

    Übersetzung: Andreas Irle

    Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald

    ISBN 978-1-61947-293-8

    V01 2016-11-02

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    spatterlight.de

    Management: John Vance, Koen Vyverman

    Das Buch

    Vor etwa 2000 Jahren lebte ein Mensch, der die Welt befreite, indem er die Wahrheit verkündete.

    Heute lebt ein junger Mann, dem die Geschichte des Befreiers für sein Leben und seinen Weg wichtig ist. Um die Welt zu befreien, muss er werden wie er und die Wahrheit ans Licht bringen …

    Halma – eine Welt hinter dem Mirabilis-Sternhaufen. Die Stadt Ambroy liegt nach Zeitaltern der Kriege halb in Ruinen. Die Lords oder auch ›Heiler‹, wie sie mitunter genannt werden, haben die grundlegende Infrastruktur wiederhergestellt. Die Kosten, die sie dafür aufgebracht haben, werden ihnen von den Empfängern zurückbezahlt.

    Die Empfänger sind Handwerker, die Kunstwerke schaffen, ohne Vervielfältigungshilfen verwenden zu dürfen – wie beispielsweise der Holzschnitzer Amiante Tarvoke. Dessen Sohn Ghyl wächst in diesen Umständen heran und lernt die Verhältnisse kennen.

    Wohlfahrtsmittler achten darauf, dass die Vorschriften eingehalten werden und die Empfänger den Tempel Finukas besuchen, um ihre Sprünge zu absolvieren.

    Die Legende von Emphyrio fasziniert Ghyl von klein auf. Sein Vater kennt allerdings nur die Hälfte der Überlieferung; Ghyl, der sich mehr und mehr mit Emphyrio identifiziert, will die ganze Geschichte wissen, denn sie ist eng verknüpft mit der Wahrheit seines eigenen Lebens, mit der Wahrheit Ambroys und Halmas, mit der Wahrheit an sich.

    Emphyrio ist die Geschichte über die Suche nach der Wahrheit, nach sich selbst und dem richtigen Handeln – keine Abenteuergeschichte, sondern ein Bildungsroman, wie Joanna Russ in ihrer Besprechung in The Magazine of Fantasy and Science Fiction im Januar 1970 schrieb.

    Der Autor

    Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.

    Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.

    Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

    Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:

    www.editionandreasirle.de

    Kapitel I

    In dem Zimmer im oberen Teil des Turmes befanden sich sechs Personen: drei, die sich selbst »Lords« oder zuweilen auch »Heiler« nannten; ein geplagter Untergebener – ihr Gefangener – und zwei Garrion. Das Zimmer strahlte etwas Dramatisches, Wunderliches aus. Es war von unregelmäßigen Abmessungen und mit Vorhängen aus schwerem rötlichbraunem Samt behangen. An einem Ende ließ ein Fenster in Form einer Schießscharte Lichtstrahlen herein, Strahlen, wie aus rauchigem Bernstein, als wäre die Scheibe mit Staub verschmutzt – was sie allerdings nicht war. Das Glas war von einer solchen Feinheit, dass es bemerkenswerte Effekte hervorbrachte. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes befand sich eine niedrige, trapezförmige Tür aus schwarzem Stahl.

    Der bewusstlose Gefangene war auf einen kompliziert gestalteten Rahmen geschnallt. Der obere Teil seines Schädels war entfernt worden. Auf dem bloßen Hirn breitete sich netzförmig ein gelbes Gel aus. Darüber hing eine schwarze Kapsel, ein außergewöhnlich hässliches Objekt aus Glas und Metall. Die Oberfläche war übersät mit warzenähnlichen Auswüchsen, von denen jeder einen bebenden Impuls durch das Gel sandte.

    Der Gefangene war ein hellhäutiger junger Mann mit nicht sehr ausgeprägten Gesichtszügen. Das Haar, soweit zu sehen, war lohfarben. Die Stirn und die Wangenknochen waren breit, die Nase stumpf, Mund- und Kieferbereich mündete in ein kleines festes Kinn – ein Gesicht unschuldiger Nichtsnutzigkeit. Die Lords oder »Heiler« – dieser Begriff war etwas veraltet und nur noch selten zu hören – waren von verschiedener Art. Zwei von ihnen waren hochgewachsen und hager, hatten eine ungesunde Hautfarbe, schmale lange Nasen, finster verzogene Münder und schwarzes Haar, das wie lackiert an ihren Köpfen klebte. Der dritte war älter, gewichtiger, besaß listige Züge, einen wild starrenden Blick und eine dunkle Haut in einem ungesunden Magentaton. Lord Fray und Lord Fanton waren anspruchsvoll und hochmütig. Großlord Dugald den Boimarc schien bedrückt von Sorge und chronischem Ärger. Alle drei gehörten einer Rasse an, die berüchtigt war für ihre Lustbarkeiten. Trotzdem wirkten sie humorlos und sauertöpfisch, ohne Möglichkeit zur Abwechslung und Ausgelassenheit.

    Die zwei Garrion an der Rückseite des Raums waren Andromorphen von schwärzlich-purpurbräunlicher Hautfarbe und untersetzter, massiver Statur. Ihre Augen – schwarz und glanzlos hervorstehend – zeigten innere sternförmige Strahlenbrechungen. An den Seiten ihrer Gesichter sprossen Büschel schwarzen Haares hervor.

    Die Lords waren in schwarze Gewänder von feinem Schnitt gehüllt, ihre Kopfbedeckung bestand aus juwelenbesetzten Metallnetzkappen. Die Garrion trugen schwarze Lederharnische und braunrote Schürzen.

    Fray, der an einer Konsole stand, erklärte die Funktion des Mechanismus’. »Erstens: eine Periode der Verbindungen. Jeder Strang sucht eine Synapse. Wenn die Lichter erlöschen, wie es jetzt der Fall ist, und die Indikatoren übereinstimmen« – Fray deutete auf ein Paar sich gegenüberliegender schwarzer Pfeile – »wird er zu Nichts: zu einem rohen Tier, einem muskelzuckenden Polypen. Im Computer sind die neuralen Kreisläufe in sieben Bereiche eingeteilt, klassifiziert nach Reichweite und Komplexität der Kreuzverbindungen.« Lord Fray untersuchte das gelbe Gel, in dem die Impulse keine weiteren Lichtsplitter aussandten. »Das Gehirn ist nunmehr in sieben Bereiche aufgegliedert. Wir bringen ihn jetzt in den gewünschten Zustand, indem bestimmte Gebiete durch Entspannung beruhigt werden. Oder, falls notwendig, durch Dämpfen oder Unterdrücken anderer Gebiete. Da Lord Dugald keine Rehabilitation beabsichtigt …«

    Fanton sprach mit heiserer Stimme: »Er ist ein Pirat. Er muss ausgestoßen werden.«

    »… werden wir die Bereiche nacheinander entspannen, bis er fähig ist, die Auskünfte zu geben, die Lord Dugald erfragt. Allerdings muss ich zugeben, dass mir seine Motive unverständlich sind.« Und Lord Fray streifte Großlord Dugald mit einem unsteten Blick.

    »Meine Motive sind ausreichend«, sagte Dugald, »und betreffen Sie stärker als Sie denken. Fahren Sie fort.«

    Fray drückte mit einer subtilen Geste die erste von sieben Tasten. Auf einem gelben Bildschirm drehte und krümmte sich ein amorpher schwarzer Fleck. Fray justierte; der Umriss festigte sich, verkleinerte sich zu einer münzgroßen Scheibe, die im Pulsrhythmus des Gefangenen ausschlug. Der junge Mann keuchte, stöhnte, lehnte sich schwach gegen die Fesseln auf. Fray arbeitete mit großer Gewandtheit, legte ein Muster aus konzentrischen Kreisen über den Fleck und justierte ein letztes Mal.

    Die Augen des jungen Mannes verloren ihren starren Glanz. Er sah Lord Fanton und Lord Dugald: Die schwarze Scheibe auf dem Bildschirm krampfte sich zusammen. Er sah die Garrion: Die schwarze Scheibe verzerrte sich. Er drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen. Die Sonne hing tief im Westen. Durch eine kuriose optische Eigenschaft des Glases schien sie wie eine fahle graue Scheibe, umgeben von einer rosagrünen Aureole. Der schwarze Fleck auf dem Bildschirm zögerte, zog sich langsam zusammen.

    »Phase Eins«, sagte Fray. »Seine genetischen Reaktionen sind wiederhergestellt. Haben Sie bemerkt, wie ihn die Garrion aufbrachten?«

    »Kein Wunder«, schnaubte der alte Lord Dugald. »Seinem genetischen Hintergrund sind sie fremd.«

    »Warum reagierte der Fleck dann ebenso, als er uns ansah?« fragte Fanton kühl.

    »Pah!«, murmelte Lord Dugald. »Wir sind eben nicht seinesgleichen.«

    »Das ist wahr«, sagte Fray. »Selbst nach so vielen Generationen. Die Sonne dient als Bezugspunkt, als Ursprung der mentalen Koordinaten. Sie ist ein mächtiges Symbol.«

    Er bediente die zweite Taste. Der schwarze Fleck explodierte zu Fragmenten. Der junge Mann wimmerte, verkrampfte sich, erstarrte. Fray arbeitete an der Justierung und brachte damit die ursprüngliche Scheibengestalt wieder zum Vorschein. Er drückte auf den Stimulationsknopf. Der junge Mann lag ruhig. Seine Augen durchwanderten den Raum; von Lord Fray zu Lord Dugald, zu den Garrion, zu seinem eigenen Körper. Die schwarze Scheibe hielt ihre Form und Position.

    »Phase Zwei«, sagte Fray. »Er nimmt wahr, kann allerdings keine Beziehungen zwischen den Dingen herstellen. Er erkennt, ist aber nicht bei Bewusstsein. Er kann sich und seine Umgebung nicht unterscheiden. Alles ist für ihn dasselbe: Die Dinge und ihre emotionalen Inhalte sind identisch – wertlos für unsere Zwecke, also zu Phase Drei.«

    Er drückte die dritte Taste. Der dichte schwarze Kreis weitete sich. Fray justierte wieder, engte den Kreis zu einer kleinen dichten Scheibe ein. Der junge Mann stemmte sich hoch, starrte auf die Metallstiefel und Gelenkmanschetten, blickte zu Fanton und Dugald. Fray sprach mit klarer, kalter Stimme zu ihm: »Wer bist du?«

    Der junge Mann runzelte die Stirn, befeuchtete die Lippen. Als er sprach, hörte es sich an, als wäre er weit entfernt: »Emphyrio.«

    Fray nickte kurz. Dugald schaute ihn überrascht an. »Was soll das?«

    »Eine falsche Verbindung. Eine tiefliegende Identifikation. Nicht mehr. Man muss mit Überraschungen rechnen.«

    »Aber ist er nicht zur Genauigkeit gezwungen?«

    »Genauigkeit aus seiner Erfahrung heraus und von seinem Standpunkt aus gesehen.«

    Frays Ton wurde trocken. »Wir können keine kosmischen Wahrheiten erwarten – wenn es die überhaupt gibt.«

    Er wandte sich wieder dem jungen Mann zu. »Also, wie ist dein Geburtsname?«

    »Ghyl Tarvoke.«

    Fray nickte brüsk. »Wer bin ich?«

    »Sie sind ein Lord.«

    »Weißt du, wo du hier bist?«

    »In einem Hochhorst über Ambroy.«

    Fray sagte zu Dugald: »Nun kann er seine Wahrnehmungen und seine Erinnerungen miteinander abstimmen. Er kann qualitative Identifikationen vornehmen. Noch ist er nicht bei Bewusstsein. Wenn er rehabilitiert werden sollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt. Jede seiner Assoziationen ist nun zugänglich. Weiter zur Phase Vier.«

    Fray bediente die vierte Taste und nahm Einstellungen vor. Ghyl Tarvoke zuckte zusammen und lehnte sich in den Stiefeln und Manschetten auf. »Er ist nun fähig zur quantitativen Taxierung. Er kann Beziehungen wahrnehmen, Vergleiche ziehen. Er ist, sozusagen, gewahr, aber immer noch nicht bei Bewusstsein. Zur Rehabilitation fehlen jetzt nur noch einige weitere Justierungen auf dieser Ebene. Phase Fünf.«

    Phase Fünf war abgeschlossen. Konsterniert starrte Ghyl Tarvoke von Fray zu Dugald, zu Fanton, zu den Garrion. »Sein Zeitgefühl setzt ein«, sagte Fray. »Die Erinnerung ist jetzt vorhanden. Mit beträchtlicher Anstrengung könnten wir nun eine Aussage erhalten, objektiv und ohne emotionale Färbung, die bloße Wahrheit, sozusagen. In gewissen Situationen wäre dies angebracht, nun aber würde es uns nichts nutzen. Er kann keine Entscheidungen treffen, damit ist die Grenze in diesem Stadium erreicht, da die Sprache einen ständigen Fluss von Entscheidungsprozessen erfordert – die Wahl zwischen Synonymen, verschiedenen Graden von Betonungen, Syntaxsystemen. Zu Phase Sechs.«

    Er drückte die sechste Taste. Die schwarze Scheibe brach in einer heftigen Bewegung zu mehreren Tropfen auseinander. Fray zuckte überrascht zurück. Ghyl Tarvoke gab wilde, animalische Laute von sich, knirschte mit den Zähnen, zerrte an den Fesseln. Fray beeilte sich mit der Rejustierung, zwang die sich windenden Elemente zurück in eine zitternde Scheibenform. Ghyl Tarvoke saß keuchend da, den Blick voller Abscheu auf die Lords gerichtet.

    »Also dann, Ghyl Tarvoke«, sagte Fray, »wie denkst du nun über dich selbst?«

    Der junge Mann, der wild von Lord zu Lord starrte, erwiderte nichts.

    Dugald bewegte sich einen halben Schritt zur Seite. »Wird er sprechen?«

    »Er wird«, erwiderte Fray. »Sehen Sie, er ist bei Bewusstsein. Er hat vollständige Kontrolle über sich.«

    »Ich frage mich, was er weiß«, sann Dugald. Er sah scharf von Fanton zu Fray. »Denken Sie daran, ich stelle die Fragen!«

    Fanton warf ihm einen beißenden Blick zu. »Man könnte beinahe glauben, Sie und er teilten ein Geheimnis.«

    »Denken Sie, was Sie wollen«, schnappte Dugald. »Vergessen Sie nur nicht, dass die Autorität in meinen Händen liegt!«

    »Wie könnten wir das vergessen?« fragte Fanton und wandte sich ab.

    Dugald sagte hinter ihm: »Wenn Sie meine Stelle möchten, bitte – übernehmen Sie sie! Aber dazu gehört die entsprechende Verantwortung!«

    Fanton wandte sich um. »Ich will nichts von Ihnen. Denken Sie nur daran, wer von dieser widerspenstigen Kreatur dort drüben geschädigt wurde.«

    »Sie, ich, Fray, jeder von uns: in gleichem Maße. Haben Sie nicht gehört? Er benutzt den Namen ›Emphyrio‹.«

    Fanton zuckte die Achseln. Fray sagte leichthin: »Also, zurück zu Ghyl Tarvoke! Noch ist er keine vollständige Person. Ihm fehlen die Flexibilität, die freien Assoziationen. Er ist zu keiner Spontaneität imstande. Es ist unmöglich für ihn zu kreieren, er kann also nicht heucheln. Er kann nicht hoffen, er kann nicht planen, er hat keinen Willen. Folglich werden wir die Wahrheit hören.« Er machte es sich auf einer gepolsterten Bank bequem und startete ein Aufzeichnungsgerät. Dugald trat vor, platzierte sich in eiserner Haltung gegenüber seinem Gefangenen. »Ghyl Tarvoke: Wir wünschen die Beweggründe für deine Verbrechen zu wissen.«

    Fray vermittelte mit sanfter Bosheit: »Ich schlage vor, ihm eine Frage einer mehr kategorischen Natur zu stellen.«

    »Nein, nein!« erwiderte Dugald. »Sie verstehen meine Anforderungen nicht.«

    »Sie haben sie nicht klar gestellt«, sagte Fray, immer noch gefährlich höflich.

    Ghyl Tarvoke sträubte sich unruhig im Harnisch. Ärgerlich sagte er: »Befreien Sie mich von diesen Klammern, dann fühle ich mich besser.«

    »Dein Wohlsein ist von keinem großen Belang«, bellte Dugald. »Du wirst nach Bauredel ausgestoßen. Also sprich!«

    Ghyl Tarvoke zog wieder an den Fesseln, dann lehnte er sich zurück und starrte an die Wand jenseits der Lords. »Ich weiß nicht, was Sie zu hören wünschen.«

    »Genauer«, murmelte Fray. »Präziser.«

    »Ich erinnere mich an ein Leben voller Begebenheiten. Ich werde Ihnen alles erzählen.«

    »Ich ziehe vor, dass du zum entscheidenden Punkt kommst.«

    Ghyl runzelte die Stirn. »Schließen Sie den Prozess ab, damit ich denken kann.«

    Dugald sah entrüstet zu Fray hinüber, während Fanton lachte.

    »Ist das kein klarer Ausdruck freien Willens?«

    Fray zupfte sich am langen Kinn. »Ich vermute, dass die Bemerkung mehr rational als emotional bedingt ist.« Er wandte sich Ghyl zu: »Ist das nicht richtig?«

    »Richtig.«

    Fray lächelte matt. »Nach Phase Sieben wirst du der Unwahrheit fähig sein.«

    »Ich beabsichtige keine Unwahrheiten, ganz im Gegenteil. Sie sollen die Wahrheit hören.«

    Fray ging zum Kontrollpult, drückte die siebte Taste. Die schwarze Scheibe zerfiel zu einem Nebel aus kleinen Tröpfchen. Ghyl Tarvoke stöhnte in Agonie. Fray bediente die Kontrollen; die Tropfen vereinigten sich wieder, die Scheibe war wieder wie zuvor.

    Ghyl saß ruhig. Schließlich sagte er, »Also werden Sie mich töten.«

    »Gewiss. Hast du etwas Besseres verdient?«

    »Ja.«

    Fanton platzte heraus: »Aber warum hast du solche Bosheiten verbrochen, an Menschen, die dir nichts getan haben? Warum? Warum? Warum?«

    »›Warum?‹« schrie Ghyl. »Um etwas zu erreichen! Um das Beste aus meinem Leben zu machen, dem Kosmos meinen Stempel aufzudrücken! Ist es richtig, dass ich geboren werde, lebe und sterbe, ohne auch nur eine größere Bedeutung zu haben, als ein Grashalm auf der Dunkumshöh?«

    Fanton lachte bitter. »Bist du besser als ich? Ich lebe und sterbe mit der gleichen Bedeutungslosigkeit. Wer wird sich an irgendeinen von uns erinnern?«

    »Sie sind Sie und ich bin ich«, sagte Ghyl Tarvoke. »Ich bin unzufrieden.«

    »Aus gutem Grund«, sagte Lord Dugald mit einem säuerlichen Grinsen. »In drei Stunden wirst du ausgestoßen werden. Also sprich jetzt oder schweige für immer!«

    Kapitel II

    Ghyl Tarvokes erster Einblick in die Natur des Schicksals ereignete sich an seinem siebten Geburtstag, während eines Besuches bei einer Wanderaufführung. Sein Vater, der gewöhnlich zerstreut und unzugänglich war, hatte sich irgendwie an dieses Ereignis erinnert; gemeinsam machten sie sich zu Fuß auf durch die Stadt. Ghyl hätte es vorgezogen mit Overtrend zu fahren, doch Amiante lehnte dies, aus für Ghyl unerfindlichen Gründen, ab, und so schlenderten sie durch das alte Vashmont-Erschließungsgebiet nach Norden, vorbei an Skeletten Dutzender von Turmruinen, von denen jede den Hochhorst eines Lords trug. Nach einiger Zeit erreichten sie die Nordwiese in der Oststadt, auf der die bunten Zelte von Frambaums Peripathezischen Unterbehaltern aufgebaut worden waren. An einer Rotunde war zu lesen: Wunder des Universums: eine großartige Reise ohne Gefahr, Unannehmlichkeiten oder Ausgaben. Sie beschreibt die Schauspiele von sechzehn aufregenden Welten, arrangiert in geschmackvollen und erbaulichen Sequenzen. Geboten wurde ein Puppenspiel mit einer Truppe lebender Damar-Puppen; ein Diorama, das bemerkenswerte Ereignisse der Geschichte Halmas illustrierte; Ausstellungen außerweltlicher Lebewesen, lebendig, tot oder in Nachbildung; ein komisches Ballett mit dem Titel Niaiserie; ein Gedankenlesersalon mit Pagoul, dem mysteriösen Erdenmann, als Attraktion; Spielbuden, Erfrischungsstände und Flitter und Tand feilbietende Straßenhändler. Ghyl kam vor lauter Hier- und Dorthinsehen kaum voran, während sich Amiante mit geduldigem Gleichmut durch die Menge schob. Die meisten Besucher waren Empfänger aus Ambroy, aber viele waren aus den entlegenen Gebieten Fortinones gekommen; und ebenso gab es eine gewisse Anzahl von Fremden, aus Bauredel, Sauge, Closte, die an den Kokarden, die ihnen freie Wohlfahrtswertmarken gewährleisteten, zu erkennen waren. Nur selten sahen sie Garrion, seltsame Wesen, die in menschlicher Kleidung herausgeputzt und stets ein Anzeichen dafür waren, dass sich Lords unter das gemeine Volk gemischt hatten.

    Amiante und Ghyl besuchten zuerst die Rotunde, um mittelbar zwischen den Sternenwelten umherzureisen. Sie sahen die Schlacht der Vögel von Sloe auf Madura, die Ammoniakstürme von Fajane, verlockende Blicke auf die Fünf Welten. Ghyl betrachtete die seltsamen Szenarien ohne Verständnis; sie waren zu fremdartig, zu gewaltig, mitunter zu wild für seine Aufnahmefähigkeit. Amiante schaute mit einem aufmerksamen, bittersüßen Halblächeln zu. Niemals würde Amiante reisen, niemals würde er so viele Wertmarken anhäufen können, um auch nur einen Drei-Tage-Ausflug nach Damar unternehmen zu können. Und mit diesem Wissen schien es, als hätte er jedes derartige Bestreben aufgegeben.

    Nachdem sie die Rotunde verlassen hatten, besuchten sie eine Halle, welche die berühmten Liebenden der Märchen im Diorama zeigten: Lord Guthmore und die Bergwilde; Medié und Estase; Jeruun und Jeran; Hurs Gorgonja und Ladati die Metamorphin; ein Dutzend weitere Paare in malerischen antiken Kostümen. Ghyl stellte viele Fragen, denen Amiante zum größten Teil auswich oder die er nur oberflächlich beantwortete: »Die Geschichte Halmas ist zu lang, zu konfus; es reicht aus zu sagen, dass alle diese ansehnlichen Leute Wesen aus dem Märchen sind.«

    Nachdem sie die Halle verlassen hatten, betraten sie das Puppentheater* und sahen, wie die kleinen maskierten Wesen tanzten, herumtollten, schnatterten und sich durch Der sichere Weg zur finanziellen Unabhängigkeit ist die tugendhafte Treue zu einem Ideal sangen. Fasziniert beobachtete Ghyl Marelvie, die Tochter eines einfachen Drahtziehers, bei einem Straßentanz im Foelgher-Bezirk, wo sie die Aufmerksamkeit von Lord Bodbozzle von Chaluz erregte, einem lüsternen alten Machtmagnaten über sechsundzwanzig Lehen. Lord Bodbozzle umwarb sie mit behänden Kapriolen, einer komischen Entladung von Feuerwerk und Deklamation, doch Marelvie weigerte sich, seinem Gefolge beizutreten, es sei denn als legitime Gattin mit voller Anerkennung und Bezahlung von vier Wahllehen. Lord Bodbozzle war einverstanden, aber Marelvie musste zuerst seine Burg besuchen, um Damenschaft und finanzielle Unabhängigkeit zu erfahren. Also wurde die vertrauensselige Marelvie mittels eines Luft-Fadens zu seiner Burg, hoch auf einem Turm über Ambroy, befördert, wo Lord Bodbozzle unverzüglich den Versuch zur Verführung unternahm. Marelvie durchlief einige Wechselfälle des Schicksals, doch im kritischen Augenblick sprang Rudel, ihr Liebster, der die nackten Träger des uralten Turmes erklettert hatte, durch ein Fenster. Er verprügelte ein Dutzend Garrion-Wächter und presste den wimmernden Lord Bodbozzle an die Wand, während Marelvie einen Hüpftanz der Freude vollführte. Um sein Leben zu erkaufen, büßte Lord Bodbozzle sechs Lehen im Herzen von Ambroy und eine Raumjacht ein. Das glückliche Paar, finanziell unabhängig und von der Liste gestrichen, ging fröhlich auf Reisen, während Lord Bodbozzle sich die blauen Flecke rieb …

    * Die Vorschriften von Fortinone und des gesamten Nordkontinentes untersagten die Synthese und den Import von empfindungsfähigen Wesen, da diese dahin tendierten, die Empfängerlisten zu verlängern. Die Damaraner, Einwohner des Mondes Damar, stellten kleine Wesen von sanftmütiger, eifriger Intelligenz, mit pelzigen schwarzen Köpfen, schwarzen Schnäbeln und seitlich angebrachten Augen her; solange die Wesen lediglich als Puppen dienten oder als Haustiere für Lordkinder, neigten die Wohlfahrtsmittler dazu, ihre Gegenwart zu ignorieren.

    Lampen leuchteten auf und signalisierten eine Unterbrechung; Ghyl wandte sich, eher auf eine Meinung hoffend als eine erwartend, seinem Vater zu. Es war eine Neigung von Amiante, seine Gefühle nicht zu zeigen. Selbst im Alter von sieben spürte Ghyl eine unorthodoxe, beinahe verbotene Eigenschaft im Urteil seines Vaters. Amiante war ein großer Mann, dessen Bewegungen in einer Art und Weise langsam waren, die eher Ökonomie und Kontrolle denn Schwerfälligkeit nahelegten. Der Kopf war groß und grüblerisch, das Gesicht hatte breite Wangenknochen, war bleich und besaß ein kleines Kinn und einen empfindsamen Mund, der charakteristisch zu einem gedankenvollen Halblächeln verzogen war. Amiante redete sehr wenig; wenn, dann in leisem Ton, obwohl Ghyl ihn gesehen hatte, wie er, wenn er durch irgendeinen offenbar unbedeutenden Zwischenfall aufgebracht, die Worte herausstieß, sie ausspuckte, als stünde er unter einem physischen Druck, um genauso unvermittelt, vielleicht gar mitten im Satz, inne zu halten. Aber nun hatte Amiante nichts zu sagen; Ghyl konnte seine Gefühle hinsichtlich der Missgeschicke Lord Bodbozzles lediglich erraten.

    Als er sich unter den Zuschauern umsah, bemerkte Ghyl einige Garrion in einer herrlichen Leder-Livree in Lavendel, Scharlachrot und Schwarz. Sie standen hinten im Saal, menschenähnlich, jedoch nicht menschlich, Hybriden aus Insekt, Wasserspeier und Affe, reglos, aber wachsam, die Augenwölbungen auf nichts fokussiert, jedoch alles beobachtend. Ghyl stieß seinen Vater an. »Garrion sind hier! Die Lords sehen den Puppen zu!«

    Amiante wandte sich um und warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Lords oder Lordlinge.«

    Ghyl suchte unter den Zuschauern. Niemand sah Lord Bodbozzle ähnlich; niemand strahlte diese nahezu sichtbare Großartigkeit von Autorität und finanzieller Unabhängigkeit aus, die Ghyls Vorstellung nach alle Lords umgeben musste. Er wollte seinen Vater fragen, wen er für den Lord halte, ließ es aber dann in dem Wissen sein, dass Amiante nur mit einem uninteressierten Schulterzucken reagieren würde. Ghyl blickte die Reihen entlang, Gesicht für Gesicht. Wie konnte sich ein Lord oder Lordling nicht über die ungehobelte Karikatur von Lord Bodbozzle ärgern? Aber niemand wirkte beunruhigt … Ghyl verlor das Interesse; vielleicht besuchten die Garrion die Aufführung aus eigener Neigung.

    Die Unterbrechung sollte zehn Minuten dauern. Ghyl schlüpfte von seinem Sitz und ging näher, um die Bühne von einem günstigeren Standpunkt aus zu untersuchen. An der Seite hing eine Bahn Leinwand. Ghyl schob sie zur Seite und blickte in einen Nebenraum, in dem ein kleiner Mann in braunem Samt

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