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Aufbruch statt Abbruch: Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft
Aufbruch statt Abbruch: Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft
Aufbruch statt Abbruch: Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft
Ebook337 pages3 hours

Aufbruch statt Abbruch: Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft

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About this ebook

Die Welt ist in Bewegung, Europa ist in Bewegung, Deutschland ist in Bewegung. Migration bestimmt unseren Alltag mehr denn je. Anfang des 21. Jahrhunderts ist Deutschland eine multikulturell geprägte Gesellschaft. Gerade vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen nach Werten, Tradition und Identität
neu. Mündet ein Multikulturalismus notwendig in einen Wertekonflikt? Welche Rolle spielen religiöse Wertvorstellungen, und wie sind sie in eine Multi-Options-Gesellschaft einzubringen? Woher kommt die Sympathie für das Autoritäre und Extreme, und wie kann sich eine Gesellschaft der Mitte dagegen wehren?
Das vorliegende Buch gibt Antworten und entwirft Zukunftsszenarien, wie wir in Deutschland zusammenleben könnten.
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Herder
Release dateJul 2, 2018
ISBN9783451812019
Aufbruch statt Abbruch: Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft

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    Aufbruch statt Abbruch - Verlag Herder

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    Dieser Band ist im Auftrag des Rats muslimischer Studierender und Akademiker e.V. als Teil des Projektes »Zukunft bilden!« ­entstanden. Das Modellprojekt Zukunft bilden! wird im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Förderer sind die Stiftung Mercator und die Robert Bosch Stiftung.

    RAMSA_Logo.jpg

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen

    ISBN E-Book 978-3-451-81201-9

    ISBN (Print) 978-3-451-37878-2

    Inhalt

    Vorwort

    Einleitung

    1. Über Partikularität und Universalität von Werten

    Religiöse Pluralität: Vielfalt braucht Dialog

    Yasemin El-Menouar

    Islam im Westen – ein Prüfstein für die Universalität der Werte?

    Hansjörg Schmid

    Tugend, Wert, Norm – kontextlose Entwicklung?

    Wolf D. Ahmed Aries

    Mündiges Subjekt und kosmopolitische Demokratie

    Micha Brumlik

    Über christliche und islamische Menschenbilder – Warum ich als Muslimin der CDU angehöre

    Cemile Giousouf

    Muslime in der Moderne

    Ayyub A. Köhler

    2. Was ist (Islam-)Kritik?

    Die Überhitzung und Verzerrung der »Islamdebatten«

    Floris Biskamp

    Political Correctness Reloaded: Zur notwendigen Neuverhandlung des Liberalismus als Metawert der Gesellschaft

    Kai Hafez

    Die (islamische) Welt braucht ein säkulares Narrativ

    Alexander Görlach

    Wir sind nicht nur Muslime!

    Nushin Atmaca

    3. Zur Konstruktion von Identität, Autorität und Freiheit

    Selbstbehauptung, Annäherung, Dissens: Die Bedeutung kultureller Anerkennung im Prozess der sozialen Integration Türkeistämmiger in Deutschland

    Detlef Pollack/Olaf Müller

    Von innen nach außen – Muslime zwischen Opferdiskurs und gesellschaftspolitischer Teilhabe

    Ali Baṣ

    Mittendrin – aber auch in jeder Hinsicht gleichgestellt?

    Gabriele Boos-Niazy

    Die Falle schnappt zu: Zur Ambivalenz der muslimischen Identitätskonstruktionen in Deutschland

    Armina Omerika

    Chancen und Herausforderungen für die religiöse Bildung in einer globalisierten Gesellschaft

    Fahimah Ulfat

    Muslime in Deutschland – Für eine Philosophie der Anerkennung der Differenzen

    Reza Hajatpour

    Die Herausgeber

    Die Autor(inn)en

    Anmerkungen

    Vorwort

    Die Welt ist in Bewegung, Europa ist in Bewegung, Deutschland ist in Bewegung. Anfang des 21. Jahrhunderts ist Deutschland eine plural geprägte Gesellschaft. Gerade vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen nach Werten, ­Traditionen und Identitäten neu. Mündet ein Multikulturalismus notwendig in einen Wertekonflikt? Welche Rolle spielen religiöse Wertvorstellungen, und wie sind sie in eine Multi-Options-Gesellschaft einzubringen? Woher kommt die Sympathie für das Autoritäre und Extreme, und wie kann sich eine Gesellschaft der Mitte dagegenstellen? Was ist Kritik, und wie kann sie sinnvoll in den öffentlichen Diskurs ein­gebracht werden?

    Der Rat muslimischer Studierender & Akademiker e.V. (RAMSA) bildet eine Plattform zur Meinungsbildung und Diskursförderung von jungen Studierenden und Akademi­kerInnen und beschäftigt sich seit seiner Gründung mit Fragen, die junge Studierende und AkademikerInnen bewegen. Ziel dabei ist es, progressive Perspektiven auf aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse zu entwickeln und diese aktiv in die Gesellschaft zu kommunizieren. Ein besonderes Merkmal unserer Plattform ist dabei die Pluralität der Stimmen, die wir als Chance begreifen und pflegen wollen.

    Der vorliegende Band ist im Kontext dieser Bemühungen im Rahmen des Modellprojektes »Zukunft bilden!« entstanden. Mit diesem Projekt, das durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert und getragen wird, engagiert sich der RAMSA für einen offenen gesellschaft­lichen Austausch. Weitere hervorzuhebende Partner des Modellprojekts »Zukunft bilden!« sind die Stiftung Mercator und die Robert Bosch Stiftung. Wir danken allen mitwirkenden Personen sowie Institutionen, die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben.

    Hatice Durmaz

    Präsidentin des RAMSA

    Einleitung

    It is certain, in any case, that ignorance, allied with power, is the most ferocious enemy justice can have.

    James A. Baldwin

    Konsultiert man die einschlägigen Analysten, gestalten sich ihre Einschätzungen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen relativ einhellig. Die Rede ist vom ineinander verflochtenen Ringen gegenläufiger Dynamiken, von protektionistischer Wirtschaftsordnung und allumfassender Kommodisierung, von autoritärem gegen liberalem Regierungsverständnis oder von der Forderung nach kultureller Homogenität gegen den Siegeszug des globalen Multikulturalismus. Die neoliberale Wirtschaftsideologie frisst demzufolge ihre gehorsamsten Kinder. Als einstiger Musterstaat der Marktliberalisierung und Deregu­lierung stimmt Großbritannien jüngst mehrheitlich für den Austritt aus der EU und damit aus ihrem wettbewerblichen Binnenraum. Eine Erklärung dafür lautet: Die EU-weite Arbeit­nehmer­frei­zügig­keit setze klassische Arbeitnehmerexistenzen und Familienmodelle mit Einverdienerhaushalten so unter Druck, dass ein Großteil der traditionell sozialdemokratisch orientierten britischen Arbeitnehmerschaft protektionistisch wählt. Auch für die Wahl des US-amerikanischen Präsidenten Trump hätten Wählerstimmen der traditionellen Arbeiterschaft aus dem Rust Belt einen entscheidenden Anteil für dessen Wahlerfolg gehabt. Die Eigenlogik des Kapitals, immer wieder neue Absatzmärkte zu erschließen, zerstöre notwendigerweise Arbeitnehmerbiografien oder untergrabe solidarische Wertvorstellungen des Sozialstaats. Der progressive Neoliberalismus transnational agierender Technologie- und Dienstleistungsunternehmen bilde eine Allianz, so die US-amerikanische Politologin Nancy Fraser weiter, mit sozialen Gleichstellungsforderungen, so wie sie weltweit in offenen Gesellschaften vehement und ohne jede Rücksicht durchgefochten würden. Feminismus, Anti-Rassismus, Multikulturalismus, LGBTQ* – all dies seien Beispiele dafür, wie sich der progressive Neoliberalismus beliebig bestimmter Wertehaltungen bediene, um Marktpositionen zu verteidigen und neue Marktzugänge zu gewinnen. Denn das ist die wesentliche Kritik Frasers an aktuellen sozialen Gleichstellungsforderungen; sprich, dass sie in ihren eigenen Mechanismen höchst meritokratisch und ausgesprochen wenig solidarisch seien. Individualkapitalistische Lebensmodelle, sozusagen die in alle Lebensbereiche universalisierte Ich-AG, würden im Deckmantel sozialer Gleichstellung im Grunde nur jener meritokratischen Logik des Kapitals folgen, die sie zu bekämpfen vorgeben.¹

    The Winner Takes It All? – da ist was dran. Wer über Jahre hinweg im täglichen Kampf um soziale Gleichberechtigung geworben und gefochten hat, wird schnell zugeben, dass ­Frasers Beobachtungen nicht unsachgemäß sind. Auch ihre Schlussfolgerung, in einem überhasteten politischen Reflex oder gar apokalyptischer Manier den Neoliberalismus als einzige Rettung einem wachsenden Autoritarismus gegenüberzustellen, um schließlich alle demokratischen Kräfte unter seiner Standarte zu einigen, lässt sich inhaltlich trefflich diskutieren. Fraser plädiert für ein neues soziales Emanzipationsverständnis, das sich jenseits der kapitalistisch vereinnahmten Vorzeichen von Leistung, Diversität und Empowerment bewegt und soziale Integration unter den neuen Bedingungen postsäkularer Gesellschaften denkt und herstellt. Sie beschreibt damit eine grundlegende Krise der sozialdemokratischen Politik, der es nicht mehr gelinge, ihre zentralen Werte und Botschaften an die Menschen zu bringen. Kritisch wird Frasers Analyse, wenn sie die aktuelle US-amerikanische Präsidentschaft als über­­fälli­gen Bruch zwischen Finanzkapitalismus und Emanzi­pa­tions­forderungen willkommen heißt. Trump als frühlingshafte Erweckung, als langersehnte und heilvolle historische Erfrischung, die den korrupten Mechanismen der kapitalistischen Selbstverständlichwerdung entschlossen entgegentritt? Mit dieser Wahrnehmung stößt Nancy Fraser auf. Zum einen verharmlost sie damit die Situationen derjenigen, die tatsächlich aufgrund welcher Zu­schreibungen auch immer unter Ungleich­behandlung täglich zu leiden haben. Zum anderen erhärtet Fraser mit dieser Wahrnehmung tatsächlich selbst eine Zuspitzung der Antagonismen Neoliberalismus und Autoritarismus. Die kapitalistische Durchdringung vermeintlich emanzipatorischer und solidarischer Gleichstellungsbewegungen ist die eine Seite der Medaille; die andere ist die bittere Realität vieler sozial Marginalisierter, die da lautet: Vor dem Kapital, und nur vor dem Kapital sind wir alle gleich. Es ist für Menschen, die im Hinblick auf eine bestimmte Kategorie zur unhinterfragbaren Normalität und Normativität gehören, kaum möglich nachzuvollziehen, was es für sozial Marginalisierte be­deutet, festzustellen, dass das Versprechen absoluter Gleichheit am ehesten von einer kapitalistischen Weltsicht gehalten wird. Und es sagt sehr viel darüber aus, wie allgemeine Grund- und Menschenrechte tatsächlich in den jeweiligen globalen Gesellschaften verankert sind. Frasers Eintreten für eine neue solidarische Graswurzelbewegung ist unbedingt beizupflichten. Dieses Eintreten darf vorangegangene Versäumnisse aber nicht unterschlagen oder gar jenen anlasten, die am wenigsten Anteil daran haben.

    Was hat das alles mit Muslimen zu? Es ist für sich bereits aussagekräftig, dass eine solche Einführung in die Thematik überrascht. Während weltweite Gesellschaftsanalysen penibel ausdifferenzierten soziopolitischen Deutungskategorien folgen, stößt man überall dort, wo Muslime eine signifikante gesellschaftliche Gruppe darstellen, auf nur eine Analysekategorie, und das ist ihre Religion. Es ist bezeichnend, wenn in einer aktuellen und viel rezipierten Publikation zur »Internationalen Debatte über die geistige Situation der Zeit«² von den USA bis nach Indien über ein Dutzend Beobachter die innergesellschaftlichen und globalen Spannungen zwischen konkurrierenden Wirtschafts- und Regierungsordnungen scharfsinnig reflektieren, jedoch keine einzige Position aus einem Land mit signifikanter muslimischer Bevölkerung anzutreffen ist. Die zeitgenössische soziopolitische Analyse macht einen großen Bogen um diese Erdteile, um nur umso nachdrücklicher festzustellen, welche zentrale Rolle die Religion in diesen Ländern spiele. Hätte es denn keine sinnvolle soziopolitische Perspektive auf Gesellschaften mit muslimischen Mehrheiten gegeben, die nicht den unbestrittenen Einfluss des Symbolsystems des Islams in diesen Ländern unterschlägt, aber zumindest dennoch in einem vernünftigen Verhältnis zwischen politischen Machtstrategien, ökonomischen Antriebskräften und Verteilungskämpfen und gesellschaftlichen Werteorientierungen zu differenzieren weiß? Wäre ein solcher Zugang zu so gänzlich anderen Einschätzungen gekommen, als wie sie für Gesellschaften in den USA, Italien oder Indien formuliert sind?

    Das Versäumnis ist jedoch nicht einseitig. Man muss es klar festhalten: Die Anzahl muslimischer Intellektueller, die sich auf Augenhöhe zu globalen Herausforderungen konstruktiv und intersubjektiv zugänglich zu artikulieren vermögen, ist gering. Und dennoch scheinen in diesem Kontext im Hinblick auf den Islam zwei Phänomene als unverhältnismäßig und daher prägnant. Zum einen betrifft es die Fetischisierung der Deutungskategorie Religion, spezifischer: Islam, in allen Wahrnehmungen und Bewertungen von Haltungen und Handlungen von Menschen, die in mehrheitlich muslimischen Ländern leben oder aus diesen Ländern kommen. Andere Bewertungsmaßstäbe wie soziale Zugehörigkeit, politische Orientierung, Bildung oder biografisch bedingte Wertedispositionen werden als Deutungskategorien im Vorhinein weitestgehend ausgeschlossen. Innerhalb einer solchen Perspektive zum Ergebnis zu kommen, der Islam dominiere das Denken und Handeln jener Gesellschaften, bis hin zur Feststellung einer totalen oder faschistischen Religion, ist folgerichtig, wenn man keinen anderen Maßstab zur Wahrnehmung nahöstlicher Gesellschaften zulässt, mit Blick auf ihre Sachmäßigkeit allerdings äußerst zweifelhaft. Auf der anderen Seite spiegelt sich diese europäische Fetischisierung des Islams als absolute Ordnungsgröße muslimischer Gesellschaften in einer orientalischen Fetischisierung des Islams wider, die den Islam nur allzu gerne und gerade genau als einzige absolute Ordnungsgröße muslimischer Gesellschaften sehen würde und ihrerseits in einer essenzialistischen Reinheitsideologie jegliche Ansätze der historischen Genese oder kulturellen Verflechtung leugnet. Wird in beiden Perspektiven die Wirkungskraft des Islams hier nicht grotesk überschätzt? Schlägt das Überangebot von Werteorientierungen in offenen Gesellschaften nicht in eine Überstilisierung der normativen Bindungskraft des Islams um, die anschließend entweder als Bedrohung oder als alternatives Lebensmodell gewertet wird? Und bedient die Überstilisierung des Islams bei Menschen nahöstlicher Herkunft nicht die aktuelle Sehnsucht, nach Jahrhunderten der zivilisatorischen Unbedeutsamkeit endlich wieder auf Zuwendung, wenn auch ablehnende, zu stoßen? Es geht hier nicht darum, zu unter­minieren, dass der Islam in seinem Lehrverständnis ein dominantes Symbol­system aufweist und dieses religiös wie kulturell veranschlagt; die islamische Welt bliebe die islamische Welt auch ohne wechselseitige Spiegelungen zu anderen Zivilisationsräumen. Es geht hier um eine Justierung der aktuellen Wahrnehmungen, die unter dem Bedürfnis nach Abgrenzung und konstruierter Differenz geschehen.

    Das zweite Phänomen, das es sinnvoll erscheinen lässt, diese Einführung in einen übergeordneten soziopolitischen Kontext zu stellen, besteht in einem äußerst unheilvollen Umstand, den die sogenannte Islamdebatte in unterschiedlichen Graden in europäischen Gesellschaften eingenommen hat. Denn sie scheint zu einem Prisma zahlreicher Aushandlungsprozesse postsäkularer Gesellschaften geworden zu sein, die weit über den vermeintlichen Themengegenstand hinausgehen. Es sind Spannungen zwischen dem grundsätzlichen Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit, von kultureller Homogenität und Öffnung, zwischen sozialer Solidarität und dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, dem Verhältnis von globalem Markt und internationaler Migration oder der Relation von Demokratie und Liberalismus. Gerade die versessene Bezugnahme alternativer politischer Bewegungen in europäischen Ländern macht deutlich, wie sehr die Islamdebatte zu einer in mehrfacher Hinsicht symbolisch aufgeladenen Plattform grundsätzlicher postsäkularer Fragestellungen geraten ist, die weit über den Betreff Muslime hinausreicht. Die Gründe dafür sind spekulativ, aber eventuell lassen sie sich in folgenden Merkmalen erhärten: Muslime sind äußerlich überwiegend (und allzu oft auch vermeintlich) erkennbar, migrations- und integrationspolitisch relevant, haben offenbar ein anderes Verständnis von gelebter Religiosität, und im Weiteren des Verhältnisses von Religiosität und Öffentlichkeit, und scheinen unnachgiebig und lautstark Forderungen zu stellen. In großen Teilen speziell der deutschen, allgemeiner der europäischen Öffentlichkeiten, wird unmittelbar zu verstehen gegeben: Muslime nerven (im Übrigen genauso, wie es Muslime nervt, sich permanent in ihrer Religion erklären zu müssen). Und auch hier sind die Ursachen dieser Eindrücke nicht einseitig zu schlussfolgern. Gelingt es Muslimen in offenen Gesellschaften nicht, vermehrt aufzuzeigen, dass sie in der Lage sind, ihre vielschichtigen Identitäten nach Innen differenziert zu reflektieren, diese im Hinblick auf lokale Sprache und Symbolik hin zu adaptieren und ihre Wahrnehmungen und Bewertungen in gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit und intersubjektiv zugänglicher Art und Weise zu artikulieren, werden sie unabhängig ­ihres faktischen Integrationsgrades als unzugänglich und eventuell als gesellschaftliche Belastung betrachtet. Fehlt auf der anderen Seite die Bereitschaft, muslimische Identitäten in unterschiedlichen Facetten zu erkennen, die sie haben, als Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer und -geber, als politisch heterogene Gruppe, in unterschiedlichen Sozialisationen und biografischen Umständen und selbstverständlich auch in unterschiedlichen religiösen Ausprägungen und Interpretationen, verharrt ihre Wahrnehmung prinzipiell suggestiv, tendenziös und unsachgemäß.

    »Aufbruch statt Abbruch. Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft« sieht sich diesem Leitgedanken verpflichtet und spiegelt ihn in den Beiträgen der Autorinnen und Autoren weitestgehend wider. Es ist der maßgebliche Versuch, muslimische Stimmen aktiv in die aktuelle Wertedebatte, so wie sie gerade erst wieder im Frühjahr 2018 in Deutschland prominent befeuert wird, einzubringen und damit dem konventionellen Mantra der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts währenden Krisen- und Reformliteratur zum Islam zu entfliehen. Unmittelbar daraus erkennbar werden eine breite Varianz an Zugängen, Perspektiven und Positionen, aber bewusst auch streitbare und provokante Aussagen und Einstellungen. Der Band eröffnet Perspektiven organisierter und nichtorganisierter Muslime, wertprogressiver wie werttraditioneller Grundhaltungen sowie unterschiedlicher biografischer Hintergrün­de und unterschiedlichen Alters. Weitere Positionen werden von politisch in unterschiedlichen Parteien engagierten Muslimen eingebracht, wobei hier ausdrücklich zu bedauern ist, dass eine sozialdemokratisch nahe Position trotz größter An­strengung nicht realisiert werden konnte. Eine zweite Ebene der Perspektiven bilden wissenschaftlich unterlegte, stilistisch jedoch als Diskussionspositionen festgehaltene Beiträge aus den Bereichen der Soziologie, der Medien- und Politikwissenschaften, der Religionspädagogik sowie allgemeiner der Islamischen Theologie.

    Bacem Dziri/Amir Dziri Osnabrück/Freiburg i.Ü. 2018

    1.


    Über Partikularität und Universalität von Werten

    Religiöse Pluralität: Vielfalt braucht Dialog

    Yasemin El-Menouar

    1. Einleitung

    Der Islam gehört zu Deutschland. Das ist keine Frage, sondern eine Tatsache. Weltreligionen haben ihren Platz in der modernen Gesellschaft. Aufgeklärt und beim Glauben tolerant zu sein, das ist kein Widerspruch, sondern geht zusammen. Zumal das Grundgesetz die Religionsfreiheit und die religiöse Neutralität des Staats garantiert. Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, dass zwischen der Wahrnehmung des Islams in der Mehrheitsgesellschaft und der von den Muslimen in Deutschland tatsächlich gelebten Religion eine große Lücke klafft ­(Kapitel 2 und 3). Die Folgen dieser Wahrnehmungsverzerrung äußern sich in zahlreichen Islamdebatten, die um eine »Integrationskrise« kreisen, die sich in weiten Teilen nicht aus empirischen Daten erhärten lässt. Dazu zählt beispielsweise der Streit um Kopftuch, Burka und Burkini (Kapitel 4).

    Von diesen Befunden ausgehend wird in diesem Beitrag argumentiert, dass die auf der religiös-politischen Ebene angesiedelten Debatten, die von der eher archaischen Denk­figur vom Wir und die Anderen beherrscht werden, den Um­gang mit der kulturell und religiös-pluralistischen Wirklichkeit mo­derner Demokratien mehr behindern als fördern (Kapitel 5).

    Deshalb wird in diesem Beitrag dafür plädiert, dem ­partikulären Wir, das einer Sprache und dem Denken der Homogenität verhaftet ist, ein allgemeineres, dynamisches Wir entgegenzustellen, das kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede anerkennt. Eine solche dynamische Anerkennungskultur braucht den Austausch und die Auseinandersetzung, aus denen heraus das Miteinander gestaltet wird. Längst gehört der Islam zur europäischen Vielfalt; nun geht es darum, Muslimen auch entsprechendes Gehör im laufenden Prozess des Aushandelns von Gemeinsamkeiten zu verschaffen. So entstehen neue »große Erzählungen«, die in der Lage sind, einen neuen Gemeinsinn zu begründen, der den unterschiedlich kleinen und großen Zugehörigkeiten eine Basis für das Zusammenleben bietet (Kapitel 6).

    Voraussetzung dafür ist, dass an die Stelle des aufgeregten Nebeneinanders der Monologe in den Islamdebatten ein kontinuierlicher Dialog tritt – und zwar auf innerreligiöser, interreligiöser und gesamtgesellschaftlicher Ebene (Kapitel 7). In diesem Zusammenhang werden abschließend die Vorschläge der Bouchard-Taylor-Kommission daraufhin befragt, welche Impulse sie für das Miteinander in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft liefern (Kapitel 8).

    2. Verzerrte Islamwahrnehmung

    Eine Mehrzahl der nichtmuslimischen Deutschen sieht den Islam heute als Gefahr. Mehr als jeder Zweite stuft die Religion als Bedrohung ein. In Deutschland war die Ablehnung des Islams schon 2012 größer als etwa in Großbritannien oder Frankreich. 53 Prozent der nichtmuslimischen Befragten im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung hielten damals den Islam für »sehr bedrohlich« oder »bedrohlich«. Zwei Jahre später waren es bereits 57 Prozent. Die Ablehnung des Islams nimmt in Deutschland also zu.¹

    Noch deutlicher ist der islamskeptische Trend bei der Frage spürbar, ob der Islam in die westliche Welt passe. 61 Prozent der 2014 befragten nichtmuslimischen Deutschen meinten »eher nicht« oder »gar nicht« – eine Steigerung von neun ­Prozentpunkten im Vergleich zur Befragung für den Religionsmonitor 2012. Lediglich ein Viertel der deutschen Bevölkerung nahm den Islam 2014 noch als Bereicherung wahr.

    Laut den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage, die das Monatsmagazin Cicero im Juni 2017 in Auftrag gegeben hatte, nimmt die Islamskepsis immer noch weiter zu. Nicht einmal jeder sechste Deutsche (17,9 Prozent) ist demnach derzeit der Meinung, dass der Islam zu Deutschland gehört. Zwei Drittel der Befragten (64,2 Prozent) lehnen diese Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff und der Bundeskanzlerin Angela Merkel mittlerweile ab.²

    Dabei meinten 85 Prozent der Anders- und Nichtgläubigen im Religionsmonitor, sie stünden anderen Religionen sehr tolerant gegenüber. Das scheint aber nicht für den Islam zu gelten. Die Islamwahrnehmung läuft der behaupteten eigenen Akzeptanzfähigkeit zumindest diametral zuwider. Davon zeugt nicht zuletzt das regelmäßige Wiederaufflammen einer inzwischen längst religiös akzentuierten Leitkulturdebatte. Zuletzt ist es der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière gewesen, der Ende April 2017 »Zehn Thesen« präsentierte, auf die sich angeblich alle in Deutschland einigen können.³ Tatsächlich definiert der Begriff der Leitkultur je­doch eher, wer dazu gehört und wer nicht. Zwischen aufgeklärter Gesellschaft und Islam wird so eine symbolische Grenze gezogen.

    Muslimische Religiosität findet sich heute im Fokus verschiedener Diskurse wieder, die den Islam problematisieren. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft nimmt den Islam in erster Linie nicht als Religion wahr, sondern vor allem als eine demokratiefeindliche und extremistische Ideologie.⁴ Durch essenzialistische Argumentationen und kulturalistische Fehlschlüsse ist das vielschichtige Spektrum muslimischer Strömungen und Lebenswelten schon lange aus dem Blickfeld geraten. Dadurch ist es kaum mehr möglich, zwischen Islam und Extremismus, zwischen gut integrierten, frommen Muslimen und Fanatikern zu unterscheiden. Stattdessen wird ein homogener, unveränderlicher Islam imaginiert, der in dieser reduzierten Form zur Projektionsfläche für Ängste und letztlich zum Feindbild taugt.

    3. Die Realität muslimischer Lebenswelten

    Misst man die Wahrnehmung muslimischer Religiosität, wie von Anders- und Nichtreligiösen angenommen, an der selbst ausgesagten religiösen Lebenspraxis von Muslimen, entpuppt sich eine solche Fremdwahrnehmung des Islams allerdings schnell als Trugbild. Denn tatsächlich steht die Mehrheit der etwa 4,5 Millionen Muslime dem Land und ­seiner nichtmuslimischen Bevölkerung offen gegenüber.⁵ Für sie ist Deutschland längst Heimat. Und ihre Religion ist ihnen vor allem eins: eine wichtige Ressource, aus der sie die Kraft für ihren Alltag schöpfen. Umgekehrt bereichern Muslime mit ihrer gelebten Religiosität die Diversität in Deutschland. So ist etwa das Fastenbrechen während des Ramadans mittlerweile ein Teil der deutschen Alltagswirklichkeit.

    Forschungsergebnisse aus dem Religionsmonitor belegen das eindrucksvoll.⁶ So halten 80 Prozent der muslimischen Befragten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Unter den hochreligiösen Muslimen sagen das sogar 90 Prozent. Neun von zehn Befragten haben in ihrer Freizeit Kontakt zu Nichtmuslimen. Jeder Zweite hat sogar mindestens genauso viele Kontakte mit Nichtmuslimen wie mit Muslimen. Offenkundig haben sich Muslime an den Mainstream in Deutschland mehr angenähert, als es die Leitkulturdebatten vermuten lassen.

    Die Geschlechterrollenstudie im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von 2013⁷ hat zudem gezeigt, dass sich muslimisch fromm und politisch liberal keineswegs ausschließen müssen. 83 Prozent der befragten Muslime sehen in der Gleichberechtigung der Geschlechter einen fest verankerten Wert. 44 Prozent der muslimischen Frauen wünschen sich eine Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Und 60 Prozent der Muslime befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Von den hochreligiösen Befragten mit eher festen Glaubensgrundsätzen sind es immerhin noch 40 Prozent. Diese Zahlen belegen, dass Religion und Religiosität nicht liberalitätshemmend interpretiert werden können.

    Die Kluft zwischen der eigenen Alltagsrealität und dem verzerrten Stimmungsbild in der Öffentlichkeit erfahren viele Muslime in Deutschland als Ausgrenzung. Sie leiden unter

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