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Die Weltenfabrik: Jan Lux und der Zorn der Herrin
Die Weltenfabrik: Jan Lux und der Zorn der Herrin
Die Weltenfabrik: Jan Lux und der Zorn der Herrin
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Die Weltenfabrik: Jan Lux und der Zorn der Herrin

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Die Weltenfabrik schwebt in Gefahr: Ein Erbauer wurde getötet. Vom Täter fehlt jede Spur. Außerdem dringen Fremde in die Mnemothek ein und stehlen die Nadel des Unendlichkeitskompasses: Ein Artefakt, das Schwachstellen in den Barrieren zwischen den Welten aufzeigen kann. Damit können sie nichts Gutes vorhaben.

Während die Schüler Fangs daran arbeiten, der unbekannten Gefahr Herr zu werden, lernt Jan einen neuen Lehrer kennen. Es ist Levirok Päin: Ein Kentaur, halb Mann, halb Pferd; ein Kämpfer von enormem Ausmaß. Doch seit er Heimat und Frau verlor, ist sein Lebenswille gebrochen.
Dennoch ist er der einzige, der Falagorn, den letzten Rakelor vor Jans Ankunft, auf seinen Reisen begleitete.

Wird er seine Geheimnisse weitergeben?
LanguageDeutsch
Release dateOct 2, 2018
ISBN9783752855999
Die Weltenfabrik: Jan Lux und der Zorn der Herrin
Author

Christoph Dolge

Christoph Dolge lebt in Leipzig und widmet sich fantastischer Literatur. Mit der Weltenfabrik hat er ein Buchuniversum geschaffen, in dem alles Vorstellbare - und einiges Unvorstellbare - möglich ist. Seine Helden haben die Möglichkeit, nicht nur eine, sondern eine unendliche Vielzahl fremder Welten zu erkunden und können dabei erfahren, was es heißt, Herr über das eigene Schicksal zu sein.

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    Book preview

    Die Weltenfabrik - Christoph Dolge

    Dieses Buch sei all jenen gewidmet, die sich gegen Zorn, Hass und Zerstörungswut engagieren. Wo auch immer sich die hässliche Fratze der Menschenfeindschaft erhebt, werden mutige Leute gebraucht, die mit Liebe, Mut und Hoffnung dagegenhalten. Ihr macht die Welt jeden Augenblick ein Stück lebenswerter. Haltet durch!

    Inhaltsverzeichnis

    Die Gnade der Befreiung

    Das Ende eines Meisters

    Sehnsucht nach Rückkehr

    Gebrochener Meister

    Weltschmerz

    Gefahr in der Fabrik

    Spiegel und Schild

    Die Meute

    Tauchschule

    Maschinensturm

    Der Wahn der mechanischen Männer

    Spurensuche

    Prügel beziehen

    Auf der Fährte des Zorns

    Der Kerker des Zorns

    Exkursion

    Aufstieg im Berg

    Festung über den Wolken

    Wolkentempel

    Wolkenfall

    Kriegsrat

    Problemlos in Pelagias

    Steuermann, lass die Wacht!

    Die Kammer der Schatten

    Alte Schriften

    Kriegsrat II

    Vorfreude auf den Kampf

    Die Ruhe der Toten

    Besucher aus der Vergangenheit

    Dringende Nachrichten

    Letzte Chance

    Schlachtfeld

    Schlachtfeld II

    Abseits des Schlachtfeldes

    Die Heilung des Zorns

    Rettung in letzter Sekunde (Probekapitel)

    Die Gnade der Befreiung

    Glitzerndes Rubinlicht fraß sich durch Gestein und hinterließ sauber glasierte Wände. Die Hitze verwandelte den spröden Fels zuerst in glühenden Schlamm. Teigartige Lava, die langsam zerrann. Dann ließ sie die glimmende Masse kochend Blasen werfen und verdampfte sie am Ende sogar. So arbeitete sich Tyraen zentimeterweise durch die natürliche Schutzschicht, die ihn von seinem Ziel trennte. Dieses Werk verursachte ihm kaum Anstrengungen: Seine Energiespeicher waren voll aufgeladen und er konnte diese Tätigkeit noch stundenlang durchhalten.

    Viel mehr Sorgen bereitete ihm die Umtriebigkeit der Ureinwohner dieses Ortes: Hatte er zuerst mit einem ausreichend dramatischen Auftritt dafür gesorgt, dass sie sich vor Angst verkrochen, kamen immer wieder neugierige Beobachter, die sich erst verjagen ließen, wenn er seine Arbeit unterbrach und sie mit lauten Geräuschen erschreckte. Einige blieben so lange, dass er Blitze seines tödlichen Lichtes auf sie abschießen musste, die dann dampfende Löcher im Gestein hinterließen und ihnen zeigten, wie gefährlich er war.

    Tyraen hatte nicht die Absicht, ihnen übermäßigen Schaden zuzufügen. Es gab in seinem Plan auch für sie noch eine nützliche Position. Andererseits waren sie in seinen Augen kaum mehr als sabbernde Idioten. Werkzeuge, die man einsetzte, die ebenso ersetzbar waren wie ein zerbrochener Hammer oder ein krummer Nagel. Und wo diese grunzenden Wesen herkamen, gab es noch mehr. Noch viel mehr.

    Als sich wieder eine Schar gesammelt hatte, die ihn dumpf anglotzte, weil sie sich keinen Reim auf seine Tätigkeit machen konnte, schleuderte er ihnen einen besser gezielten Strahl entgegen. Eine der Kreaturen kippte um, lag mit einem qualmenden Loch in der Brust auf dem Rücken und war tot, ehe sie auch nur ein Geräusch ausgestoßen hatte. Die anderen quiekten erschrocken auf und rannten um ihr Leben. Tyraen klickte zufrieden und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.

    Diese Machtdemonstration schien ihren Zweck erfüllt zu haben: Die restlichen Stunden hatte er Ruhe. Kein einziges der warzigen Gesichter ließ sich blicken, während er daran arbeitete, die in der Felswand entstandene Vertiefung Stück für Stück in einen Tunnel zu verwandeln. Vielleicht waren es auch die dichten Rauchschwaden, die sich beim Verdampfen des Gesteins gebildet hatten und selbst seine Lufttauscher vor eine gewaltige Aufgabe stellten, die die Einheimischen davon abhielten, ihn weiter zu beobachten.

    Bevor er den letzten Durchbruch wagte, gönnte er sich eine genau bemessene Zeit, um sich zu sammeln und seine Reserven zu analysieren. Seine Vorbereitung war gründlich gewesen: Die Extraspeicher, die Tyraen aus seiner Heimatwelt mitgebracht hatte, waren zwar entladen, aber seine körpereigenen Vorräte waren noch praktisch voll, sodass er sich der Herausforderung ohne Sorgen stellen konnte. Stück für Stück überprüfte er seine körperlichen Funktionen – wie eine gut geölte Maschine, denn genau das war er, wollte er funktionieren. Kein einziges Zahnrad, keine Energieleitung, Schmierung, keines seiner zahlreichen Gelenke und Glieder durfte in diesem entscheidenden Moment versagen.

    Beruhigt schloss er diese letzte Selbstwartung ab: Wie immer glänzte sein Metall makellos, seine Lichtprojektoren arbeiteten weiterhin einwandfrei. Jede seiner Sinneszellen war perfekt auf die Umgebung eingestellt und lieferte alle notwendigen Daten an sein Denkzentrum.

    Technische Probleme waren ohnehin seine geringste Sorge: Solange er seine Gefühle unter Kontrolle behielt, drohte ihm kaum Gefahr. Diese emotionale Seite hatte er erst im Laufe der Jahrtausende schätzen gelernt. Zuerst war sie ihm wie eine Belastung vorgekommen, ein nicht berechenbares Element des Chaos inmitten all des Stahls, Messings, Chroms und Goldes. Lager aus Saphirglas, Zahnräder aus Titan und das halbtransparente Mineral, aus dem die Linsen seiner Lichtwaffe bestanden – all das ließ sich im Falle eines Defekts neu konstruieren und austauschen. Doch Krankheit des Geistes, emotionale Instabilität, das war etwas, wovor Tyraen sich aufrichtig fürchtete. Und diese Furcht, so beherrschbar sie meistens war, blieb eine konfuse Komponente inmitten all seiner restlichen Perfektion.

    Dennoch versetzte ihn das nahe Ziel in eine rauschhafte Hochstimmung. Seine chromgepanzerten Hände strichen vorsichtig einige Steinsplitter von der Linse seins Lichtpulsars. Dann nahm er erneut seine Feuerposition ein – um keinen Mikrometer wich sie von der Haltung vor der Pause ab – und schnitt anschließend statt durch Gestein durch Stahl. Wie Butter schmolz das Metall unter seinem Beschuss. Wenige Sekunden später war es geschafft.

    Er spürte die Präsenz, die er befreit hatte. Ein körperloses Relikt aus einem anderen Zeitalter. Ein Überbleibsel, wie er selbst.

    »Mein Name ist Tyraen, ich war der General der Herrin. keine Kraft der Universen konnte mich unter ihrem Befehl aufhalten. Wir haben viel zu bereden. Ich weiß, dass du ohne Körper nicht sprechen kannst. Ich weiß, dass du keine Macht über mich besitzt, solange ich dir keine Schwachstelle offenbare, an der du meine Gefühle gegen mich missbrauchen könntest. Lausche mir einen Moment, ich habe dir ein Angebot zu unterbreiten, damit du zu deinem Recht kommst.«

    Das Ende eines Meisters

    Äiphas war einer der Erbauer in der Weltenfabrik. Zu seinen Verantwortlichkeiten gehörte domit das Erschaffen von Universen. Ja, ganz richtig, sein Tagwerk bestand in dem, was unsereins als einmalige Tat eines übermächtigen Schöpfers interpretierte. Er machte es ständig. Immer wieder.

    Wie jeder seiner Art hatte er Lieblingsprojekte, die er im Auge behielt und in die er auch nach der Erschaffung Zeit und Energie investierte, um sie am Leben zu erhalten. Das Ziel der Schöpfung war nie Schönheit – auch wenn jeder Erbauer seinen eigenen Vorlieben gerecht wurde – sondern Stabilität.

    Viele Universen konnten Milliarden von Jahren alt werden, andere waren deutlich kurzlebiger. Und mitunter betrieben die Erbauer auch Experimente, in denen sie die Bedingungen ihrer Kreationen, die zu Verfall oder Dauerhaftigkeit führten, sorgfältig variierten.

    Äiphas hatte gerade ein solches Experiment zu Ende gebracht: Eine vorsichtige Veränderung der Universalkonstanten von Gravitation und Wärmefluss hatte dazu geführt, dass seine jüngste Schöpfung bereits nach wenigen Millisekunden zu existieren aufhörte. Er atmete schwer aus und machte eine geistige Notiz über die Geschehnisse. Er hatte in jedem Augenblick voller Spannung beobachtet, wie sich seine Kreation schlug. Die Urkräfte in ihr wirbelten und trieben auseinander, Licht und Masse hatten miteinander gerungen und waren schließlich zum finalen Stillstand gekommen. Das junge Universum implodierte und löste sich in nichts auf. Selbst die Energie, die er in diese Schöpfung investiert hatte, war restlos verloren.

    Äiphas stand in einer Kabine, die so hoch war, dass er oben nicht anstieß und deren Durchmesser es ihm gerade so erlaubte, sich um die eigene Achse zu drehen. Um ihn herum erstreckte sich eine schwarze Fläche, auf die eben noch die Geschehnisse im Produkt seines Experiments projiziert wurden. Es gab eine Vorrichtung, die das Speichern und Abspielen der Beobachtungen ermöglichte. Dabei konnte Äiphas den Ablauf der Aufzeichnungen beschleunigen oder zu verlangsamen. Dies war günstig, wenn man kurzlebige Welten wie das aktuelle Projekt oder langlebige Welten wie seinen Liebling Wyaan beobachten wollte. Manche Veränderungen verliefen so langsam, dass man sie nur in zehntausendfacher Beschleunigung wahrnahm und manche Vorgänge waren so blitzartig, dass man von Nanosekunde zu Nanosekunde voranschreiten musste, damit man sie begriff.

    Eigentlich sollten Wesen von der Macht und Weisheit eines Erbauers gar nicht zu so simplen und fehleranfälligen Wahrnehmungen wie Emotionen in der Lage sein. Doch Äiphas gestattete sich einen Anflug von Frustration. Es war beileibe nicht das erste Experiment dieser Art, dass er unternommen hatte – und wie er wusste, spielten auch seine Kollegen eifrig mit den Grundfesten der Existenz. Leider hatte er eine Pechsträhne. Seine Energie und Kreativität waren unerschöpflich. Allein, was sollte ihm dies nützen, wenn er doch dazu verdammt war, nicht einmal Asche zu produzieren, die länger als einen Wimpernschlag existierte.

    Mit der Macht eines Gedankens schob er die Aufzeichnung des Fehlschlags von der Projektionsfläche und wendete sich seinem Augapfel zu, seinem Schatz. Kronjuwel hatte er sie einmal genannt, als er sie voller Stolz einem anderen Erbauer vorgestellt hatte: Die Welt Wyaan.

    Dort hatte alles seine Ordnung, dort hatte alles Bestand. Es handelte sich um ein eher kleines Projekt, das schon etliche Milliarden Jahre überstanden hatte. Wyaan bestand nur aus einem Sonnensystem mit einer bewohnbaren Welt. Und, so scherzte Äiphas gelegentlich, denn selbst die Sphäre des Humors erschloss sich den Erbauern, mit ausgefallen gutem Wetter.

    Er ließ seinen Blick über das emsige Treiben der Völker schweifen, denen eine stabile Ordnung gegeben war, in der sie schon seit Äonen ruhten. Nichts würde dieses Gefüge erschüttern können. Dennoch gab es immer wieder subtile Veränderungen im Gespinst der Mächte, die die Geschicke der Wyaaner lenkten. Als würde ein unsichtbarer Steuermann das Schiff der Welt durch den Sturm der Zeit lenken, trotzte die Schöpfung Höhen und Tiefen, stellte die Segel in oder gegen den Wind, schwamm durch oder auf den Wogen und blieb immer auf Kurs.

    Der Erbauer hatte so viel Vertrauen in diese Welt, dass er einige begabte Bewohner Wyaans zu sich gerufen hatte, um sie als Agenten in seine Dienste zu nehmen. Sie hatten schon so manches Unglück verhindert und viele wertvolle Erfahrungen in der Mnemothek, der Bibliothek der Erinnerungen, gespendet.

    Bei der Ansicht eines Museums für bildende Künste, einer Ausstellung der virtuosesten und kreativsten Werke ganz Wyaans, verweilte Äiphas und versank für mehrere Minuten in der Darstellung. Obwohl er keinen Hinweis darauf gefunden hatte, dass es so etwas wie Götter innerhalb dieses speziellen Universums gab, bewiesen seine Bewohner dahingehend doch eine blühende Fantasie. Vor allem inspirierte sie die Vorstellung höherer Wesen zu beeindruckenden Kunstwerken wie Statuen, Sandbildern, Installationen aus flüssigem Glas oder schwebenden, sich ständig verändernden, Lichtpulsen.

    Schließlich gab er sich einen Ruck und riss sich von den Werken seiner Geschöpfe los.

    Die Projektionsfläche verschwamm zu flüssig waberndem Grau. Der Raum verfügte über keinen Ein- und Ausgang im konventionellen Sinne. Der Weltenarchitekt konzentrierte sich einen Moment und ließ dann seine körperliche Hülle hinter sich. Der annähernd humanoide Leib fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Für einen Augenblick bildete schimmerndes Quecksilber eine Pfütze auf dem Boden, wurde dann von diesem aufgesogen.

    Nun bewegte sich Äiphas durch die Substanz der Weltenfabrik selbst, war eins mit ihr und trennte sich kurz darauf an anderer Stelle wieder körperlich ab. Dabei handelte es sich um einen Abschnitt, der geflutet worden war, um den dort heimischen Wesen die Lebensbedingungen zu bieten, die sie auch auf ihrer Heimatwelt antrafen. Diese Region der Fabrik erstreckte sich über mehrere Ebenen, in denen Wasserdruck, Lichtintensität und Temperatur sich jeweils unterschieden. Nach kurzer Orientierung wählte Äiphas eine Passage, die einem oberflächennahen Meer entsprach.

    Er schob sich aus der stählernen Wand und passte dabei seine Körperform den Gegebenheiten an: Er wählte eine stromlinienförmige Gestalt mit langen Flossenarmen und schlankem langgezogenen Kopf. Seine irisierende Haut kühlte sich auf die Umgebungstemperatur ab und schillerte schließlich wie von Fischschuppen bedeckt. Eine sanfte Strömung wirbelte durch den Raum, verteilte sauerstoffreiches Wasser und reinigte gleichzeitig die Umgebung von Nahrungsresten, Ausscheidungen und anderem Schmutz.

    Der Erbauer wollte an die Schlafbuchten der Awetroaner herantreten, um einen von ihnen zu wecken und sich mit ihm auszutauschen, doch dazu sollte es nie kommen. Bei seiner Ankunft schnappte eine Falle zu, die nur auf ihn gewartet hatte. Es gab eine mächtige Entladung von Energie, der die Umgebung in einen Wirbel von Blasen aus Wasserdampf hüllte. Ein kurzer Kampf entbrannte, während die Bewohner der Kammer aufschraken und schlaftrunken umher blickten. Sie ignorierten Äiphas einen Moment lang. Der Angreifer war bereits geflohen.

    Der Erbauer bewegte sich nicht mehr. Niemand hatte beobachtet, was geschehen war, doch während die Awetroaner erwachten, lag er bereits im Sterben. Schwarzes Blut sickerte, dünnflüssigem Öl gleich, aus einer Wunde, die von seinem Hals bis zum Bauch reichte. Nie hatte einer der Bewohner der Fabrik gehört, dass so etwas überhaupt möglich war. Nie hatten die Erbauer mit ihrer eigenen Sterblichkeit gerechnet.

    Nun aber war es geschehen.

    Äiphas war tot.

    Sehnsucht nach Rückkehr

    »S ag mal …«, begann Jan.

    »Oh nein, bitte nicht.«, flehte Nadir.

    »Na, irgendwann muss ich es doch fragen und heute warst du schon wieder mit ihr im Garten. Allein.«

    »Als wäre man im Garten allein!«

    »Wie ist es denn nun?«

    »Ich habe keine Ahnung. Also doch, ich weiß, dass ich gern mit ihr im Garten bin, aber…«

    »Aber was?«, erkundigte sich Jan.

    Nadir schnaubte genervt. »Aber ich kann dir nicht sagen, ob ich jetzt mit ihr zusammen bin oder nicht.«

    »Ich hatte immer gedacht, einer von uns verliebt sich irgendwann in Clara. Oder Clara in einen von uns.«

    Die beiden Freunde waren dabei, die Ausrüstung abzulegen, die sie für das Kampftraining benötigten. Seit der Auseinandersetzung mit dem Schatten der Herrin wollten sie kein Risiko mehr eingehen und auch für rauere Umgangsformen gerüstet sein.

    Nadir hatte Fang dieses Anliegen unterbreitet und dabei offene Türen bestürmt. Ihr Lehrmeister – ein Drache nicht größer als eine Damenhandtasche, obwohl man diesen Vergleich nicht in seiner Hörweite ziehen sollte – war davon überzeugt, dass es nicht schaden würde, sich seiner Haut erwehren zu können.

    »Hör mal«, begann Nadir, »selbst wenn ich wirklich mit Moéma zusammenkomme, ist noch nicht gesagt, dass Clara gar keinen von uns bekommt. Einer wäre ja immerhin noch übrig – oder hast du auch schon jemandem im Auge?«

    Jan reagierte bestürzt. Anders als sein Freund hatte er sich über so etwas noch nie große Gedanken gemacht. Er hatte das Gefühl, problemlos noch ein oder zwei Jahre warten zu können, ehe er irgendetwas mit einem Mädchen anfing.

    »Nein, wie kommst du darauf?«

    »Nur so, keine Sorge, ich will überhaupt nichts andeuten.«

    »Außerdem bekommen wir Clara ja kaum noch zu Gesicht. Sie hängt ständig bei dieser Sarrigan und ihrer neuen Lehrerin – wie hieß die gleich nochmal?«

    Nadir legte die Stirn in Falten, dann antwortete er: »Ich glaube, das war Hannah irgendwas.«

    »Ah richtig. Hannah Rahl. Klingt irgendwie gar nicht so seltsam wie die meisten anderen Namen hier. Hast du sie schon einmal gesehen?«

    Nadir schüttelte den Kopf. »Nein – und Moéma wollte mir auch nicht sagen, wie sie aussah. Als wäre es ein Geheimnis.«

    »Meinst du, sie ist ein Mensch – so wie wir?«

    »Das kann kaum sein. Wenn ich Fang richtig verstanden habe, sind wir die ersten Agenten, die von der Erde berufen wurden. Außerdem unterrichtet Frau Rahl sie in Magie, dafür wirst du kaum einen menschlichen Lehrer finden.«

    »Frau Rahl?« Jan lachte kurz, dann schien er sich verschluckt zu haben und hörte abrupt auf. »Sie sagen echt Frau Rahl?«

    »Findest du das komisch? Ich meine – klar, die meisten Leute hier können sich vor seltsamen Zischlauten in ihrem Namen nicht retten, aber es kann doch auch ganz normale Namen geben.«

    »Erinnerst du dich noch daran, was Fang gesagt hat? In der Weltenfabrik ist das normal, was jeder an Normalität von zu Hause mitbringt.«

    »Jaja, Meister Rakelor. Zu dem Thema weißt du sicher am meisten von allen hier zu berichten.«

    »Blöder Kerl!«, spielte Jan den Empörten. »Komm lieber mit duschen.«

    Die Duschen an der Trainingshalle waren eine der wenigen vertraut wirkenden Einrichtungen der Fabrik. Fang hatte sie einrichten lassen und dabei jene Diener bemüht, die die Turnhalle schon mehrfach umgestaltet hatten. Immer über Nacht, stets makellos, nie hatte Jan einen von ihnen gesehen. Insgeheim stellte er sie sich als eine Art Heinzelmännchen vor.

    Während Jan genüsslich das dampfende Nass über seine Schultern rieseln ließ, bemerkte er beiläufig: »Dein Bein sieht immer noch gruselig aus. Du kannst echt froh sein, dass du nicht mehr humpelst.«

    Nadir, der sich gerade ausführlich die Haare auswusch, spuckte einen Schwall Wasser aus und raunzte: »Moéma gefällt es. Und du, mit deinen blauen Locken, solltest mal nicht so frech sein. Gruselig, also wirklich.«

    Jans ehemals blondes Haar hatte eine tiefblaue Tönung angenommen. Lukas, ein Klassenkamerad, der es ständig darauf anlegte, Streit zu provozieren und ihn zu jeder sich bietenden Gelegenheit malträtierte, hatte ihm eine Dose Farbe über den Kopf gekippt. Alle Versuche, sie wieder auszuwaschen, waren gescheitert. Schlimmer noch: Obwohl dieser Vorfall fast drei Monate zurücklag, war kein bisschen blond an seinen Haaransätzen zu sehen. Was da aus seinem Kopf wuchs, war blau und blieb blau.

    Fang hatte sich die Bescherung eine Weile angesehen und dann vorgeschlagen, es mit Magie zu versuchen, aber Jan nahm die Veränderung mittlerweile gelassen. Clara hatte ihm einmal gesagt, dass ihm das Blau gut stand und seitdem war er nur noch halb so wütend auf Lukas. Mittlerweile trug er seine Indigo-Locken wie eine Auszeichnung, voller Trotz und ohne Scham.

    Zu Nadirs Bein gab eine andere Geschichte: Im Kampf gegen den Schatten hatte der sich in eine riesige schwarze Version ihres Meisters Fang verwandelt und ihnen übel zugesetzt. Die Schlacht war vorbei, nachdem er den auf Plane Skates umherfliegenden Nadir mit seinen Zähnen am Bein gepackt und zu Boden geschleudert hatte.

    Trotz einer Behandlung durch Spezialisten auf der Erde hatte Nadir eine bleibende Erinnerung zurückbehalten: Zwei Doppelreihen dunkler Narben zeugten von den Drachenzähnen, die sich in seine Wade gebohrt hatten. Erst seit einem Monat war es ihm wieder möglich, sein Bein voll zu belasten. Die Zeit, in der er es hatte schonen müssen, musste ihm, der als liebstes Hobby Parcours lief und der seine übernatürliche Akrobatik als Seneschall nur zu gern demonstrierte, wie Folter vorgekommen sein.

    Jan drehte das Wasser ab und schnappte sich ein Handtuch. »Moment mal, Moéma gefällt sie? Was ist denn das für ein abgedroschenes Klischee? Ihr habt eure Narben verglichen?«

    Sein Freund, der sich gerade die Haare trocknete, lief erdbeerrot an. »Nicht alle, Mensch. Aber sie hat ja auch diese Schmucklinien und –punkte auf Gesicht und Kopf. Und irgendwie kamen wir dann auch auf mein Bein und …«, den Rest des Satzes ließ Nadir in der Luft hängen.

    »Schon gut, tut mir leid. Ihr zwei dürft vergleichen, was ihr wollt.«

    »Und wir brauchen dafür ganz bestimmt nicht deine Erlaubnis!«

    Jan schnaufte. »Ach komm, du weißt genau, dass ich das nicht so gemeint habe.«

    »Klar.«, grinste ihn sein Freund an.

    Nadirs Haut war eine ganze Ecke dunkler als Jans, aber das war auch kein Wunder, denn seine Eltern stammten aus der Türkei. Leider hatte er sie aufgrund eines tödlichen Autounfalls in seiner frühen Kindheit nie wirklich kennengelernt. Jan dagegen war schon immer Deutscher, entstammt einer ehemals adeligen Familie, legte jedoch großen Wert darauf, dass seine Vorfahren diese Stellung nicht mehr innehatten. Seit seine Mutter bei der Heirat den Namen ihres Mannes angenommen hatte, zeugte nicht einmal mehr das »von Bravenstein« davon, dass sie sich früher vom Rest der Bevölkerung unterschieden. Na gut, da war noch die Sache mit der Burg, aber schließlich war sie ziemlich klein und im Winter auch ganz schön kalt. Und überhaupt – er wohnte gar nicht mehr dort, sondern in einer ziemlich kleinen Kammer in der Fabrik, gemeinsam mit Nadir.

    Auf dem Weg zurück zu ihrer Unterkunft begegnete ihnen Clara.

    »Ha, wir haben von dir gesprochen!«

    Das Mädchen drehte sich zu ihnen und winkte ein wenig an ihnen vorbei. Leider war der Verlust ihres Augenlichts nicht rückgängig zu machen. Aber sie hatte sich gut damit eingerichtet: Da das Weltenwechseln, das Bythizieren, für sie weiterhin eine unermessliche Gefahr darstellte, blieb sie von der Agentenausbildung ausgeschlossen und wurde stattdessen von der Mnemothekarin Sarrigan unter ihre Fittiche genommen.

    »Hallo ihr zwei.« Clara klang erschöpft. »Ich hoffe, es war nur Gutes, was ihr da gesprochen habt.«

    »Na sicher!«, beeilte sich Nadir, zu antworten.

    »Ich falle gleich um. Ich durchsuche die Mnemothek nach Informationen zur Herrin und ihrem Schatten, aber es sieht so aus, als hätten die Erbauer nach ihrer Revolution alle Aufzeichungen zerstört. Es gibt einige Erinnerungsperlen aus dieser Zeit, aber viele davon sind beschädigt und im Verzeichnis tauchen sogar Einträge auf, die gar nicht mehr existieren.«

    »Da fällt mir ein, dass wir noch immer einiges zu Graming und der Schlacht in den Bronchien des Riesen speichern müssen.«, mahnte Jan.

    Nadir stöhnte. »Bloß nicht. Ich hasse diese Lesestühle. Ja, ich verstehe, dass wir keinen coolen Krakenfreund bekommen wie du, Clara, aber irgendeine andere Lösung wäre nett.«

    »Jetzt, wo du mich daran erinnerst: Sarrigan hat mir vorgeführt, wie die Awetroaner in den Tanks die Perlen lesen. Diejenigen von ihnen, die für diese Aufgabe ausgewählt werden, bekommen ein Implantat, dass die Funktion eines Lesegeists übernimmt.«

    Nadirs Augen verschmälerten sich zu berechnenden Schlitzen. »Implantate? Du meinst, da bekommt man bei einer Operation irgendein Gerät in den Arm gesetzt?«

    Clara lächelt. »Wieso in den Arm? Die Erinnerung muss doch zu deinem Gehirn! Das Gerät sitzt im Kopf, hier an der Schläfe.« Dabei tippte sie sich mit dem Finger seitlich an die Stirn. »Und dann führt ein Draht nach vorn zum Mund. Du weißt ja, die Awetroaner haben keine Hände wie wir, sondern erledigen alle Aufgaben, die erfordern, dass sie etwas greifen, mit den Lippen.«

    In der Tat, Jan und Nadir hatten in einer der Lektionen Fangs auch eine Vorstellung der wichtigsten und zahlenmäßig am stärksten in der Weltenfabrik vertretenen Spezies erhalten. Unter diesen waren auch die Awetroaner, ein Volk von Meereslebewesen, das perfekt an diese Umgebung angepasst war. Sie verfügten weder über Arme noch Beine, sondern hatten nur ein kräftiges Flossenpaar an der Brust und ein weiteres, flügelartig weitgespanntes, am Rücken. Ihre Köpfe erinnerten an eine Mischung aus Seehund und Delfin, mit kräftigen Lippen, die diffizile Manipulationen ihrer Umwelt vornehmen konnten.

    Bei der Vorstellung, sich irgendein Gerät in den Schädel implantieren zu lassen, verging Jan die Lust, nach einem Ausweg aus dem unbequemen Lesestuhl zu suchen. »Also für mich ist das nichts. Außerdem bin ich hungrig, da will ich nicht über so etwas nachdenken müssen. Kommst du mit, Clara?«

    Natürlich ließ ihre Freundin sich nicht zweimal fragen.

    Clara war keine Schönheit im klassischen Sinne, auch wenn Jan sie ziemlich hübsch fand. Ihre ehemals lockigen roten Haare hatte sie abgeschnitten. Sie trug eine Frisur, der ihren Kopf nur knapp umrahmte und ihr ein frecheres Äußeres verschaffte. Gemeinsam mit den Sommersprossen, die während der Wochen in der Fabrik immer stärker hervorgetreten waren, passten sie erstaunlich gut zu den weiten grauen Hosen und Hemden, die sie trug. Sie bestand darauf, sich in der Zeit ihrer Recherchen möglichst bequem zu kleiden.

    Die drei Freunde schlenderten durch die Säulenwaldhalle, in der sich hunderte Wesen in zeltartigen Verschlägen tummelten, in die Kantine und besorgten sich etwas zu Essen und zu Trinken. Um sie herum waren die Tische größtenteils leer, offenbar schlief oder arbeitete die Mehrzahl der sonst üblichen Esser noch.

    Nadir stocherte wenig beeindruckt in der grüngrauen Pampe herum, die der Kantinenwirt ihm ausgeteilt hatte. Jan dagegen hatte Hunger und interessierte sich nicht für Konsistenz oder sonstiges Aussehen seiner Mahlzeit. Er stopfte Löffel für Löffel in sich hinein. Der Geschmack erinnerte an Brokkoli, mit einem Hauch von Nüssen und viel Curry.

    Clara, ähnlich begeistert wie Nadir, legte ihr Besteck beiseite und schien ihren blauhaarigen Freund mit blinden Augen zu mustern. Dann fragte sie: »Sag mal, hat sich deine Rakelor-Begabungen wieder gemeldet? Gibt es neue Visionen?«

    Jan schüttelte den Kopf. »Nein. Immer nur das alte Zeug. Hauptsächlich sehe ich mich in der Weltenfabrik umhergeistern oder fremde Welten bereisen. Eine der Welten aus den Visionen habe ich ja in der Mnemothek wiedergefunden.«

    Clara nickte. »Das war…wie hieß sie? Phiantar?«

    »Richtig. Dort sieht es so ähnlich aus wie hier. Weniger schmutzig, aber überall Kabel, Rohre, ganz viel verarbeitetes Metall. Deswegen habe ich es zu Anfang auch mit der Fabrik verwechselt. Aber weder meine Visionen noch die Einträge in der Mnemothek haben mir zeigen können, wer dort lebt. Als hätte sich jemand an den Erinnerungen zu schaffen gemacht. Oder als wäre die Welt leer.«

    »Seltsam.«, erwiderte Clara. »Wann immer ich versuche, dem Schatten der Herrin oder ihr selbst auf die Schliche zu kommen, entdecke ich ähnliche Lücken. Die Erbauer waren wirklich gründlich dabei, sie aus den Aufzeichnungen zu tilgen.«

    Nadir schob seinen Teller endgültig beiseite, wohl in der Absicht, sich anderswo etwas Besseres zu besorgen. In den letzten Monaten schmeckte ihnen allen das Angebot der Kantine immer weniger. Sie waren dazu übergegangen, häufiger mit frischen Waren vom Basar zu kochen. Mitunter erlaubte ihnen Fang sogar, zu bythizieren, um ihren Speiseplan ein wenig zu variieren. Insbesondere von Zhanhar, der immer in Verwandlung begriffenen Gartenwelt, hatten sie einige schmackhafte Gemüse- und Obstsorten importiert.

    »Und du siehst immer noch diese Schlachtszenen?«, erkundigte sich Nadir.

    »Ja, leider schon. Aber es ergibt überhaupt keinen Sinn. Fang konnte sich auch keinen Reim darauf machen. Keiner, den ich kenne, ist an den Kämpfen beteiligt. Aber sie müssen sich doch auf mich oder Personen, die mir nahe stehen, auswirken – jedenfalls war das bisher immer der Fall.«

    Clara kämpfte sich unterdessen tapfer durch ihr Mahl und schluckte mit hörbarer Anstrengung, um dann zu fragen: »Was ist, wenn dies eine neue Stufe für deine Begabung darstellt? Du siehst Dinge, auf die dich deine Rakelor-Sinne aufmerksam machen wollen, obwohl sie weder dich noch einen von uns betreffen?«

    »Das ist möglich, daran habe ich auch schon gedacht. Es ist verdammt anstrengend, niemanden zu haben, der wirklich Ahnung von dem Thema hat. Der letzte Rakelor hat die Fabrik vor über fünfzehn Jahren verlassen.«

    »Das ist der Fluch der Besonderheit. Ich habe dir ja schon gesagt: Ein Rakelor ist wie eine Jokerkarte. Es kommt oft vor, dass man keine auf der Hand hat. Aber wenn du eine hast, dann sind die Möglichkeiten beinahe unbegrenzt.«

    Jan kratzte die Reste seines Tellers ab und warf Nadirs Portion einen begehrlichen Blick zu. Sein Freund verdrehte die Augen und schob ihm seinen Teller zu. »Ich begreife nicht, wie du das essen kannst.«

    »Siehst du doch! Ich habe Hunger!«

    Während die drei noch beieinandersaßen und überlegten, was sie mit ihrer gering bemessenen Freizeit anstellen könnten, gesellte sich ein weiterer Bewohner der Fabrik zu ihnen. Es handelte sich um einen geflügelten Apparat, der mit lautem Summton zu ihnen schwirrte, eine Runde um ihre Köpfe drehte und dann auf dem Tisch landete. In seinem Rücken drehte sich ein Aufziehschlüssel, der fast darüber hinwegtäuschte, dass es sich bei diesem Boten um ein echtes Lebewesen handelte. Tschirr, so sein Name, war ein Konstrukt der Tak-Tak, die seine intelligente Apparatspezies als Diener einsetzten. Fang hatte an dieser Idee Gefallen gefunden und auch ein solches Wesen in seine Dienste genommen. Er mochte nicht so schlau sein wie einer seiner Konstrukteure, aber als Überbringer von Nachrichten in entlegene Teile der Fabrik machte er seine Arbeit hervorragend.

    Die metallenen Beinchen des Fliegers kratzten über das Holzfurnier, als er die Menschen aus leuchtenden Facettenaugen musterte. Dann verkündete er seine Botschaft: »Meister Fang bittet dich, Jan Lux, ihn im Umbrarium zu treffen. Du bekommst einen neuen Lehrer und weitere Lektionen, die dich in deiner Funktion als Rakelor voranbringen sollen. Clara, bitte sei so nett und melde dich bei Sarrigan, damit ihr euch um einen Speicherauftrag kümmert. Ich glaube, es geht um die Erde.«

    Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Tschirr Anlauf, sprang todesmutig über die Kante des Tisches und nutzte den Schwung, um weiterzufliegen. Wenige Sekunden später war er schon nicht mehr zu sehen. Die Freunde sahen einander verwirrt an.

    »Das ist ja gruselig.«, fand Nadir als erster die Sprache wieder. »Fast, als hätte Fang gehört, dass ihr euch über den Rakelorkram unterhalten habt. Hey, Jan, zieh nicht so ein Gesicht – endlich bekommst du einen Lehrer, der wirklich etwas von dem versteht, was du da so treibst.«

    »Ein Auftrag, bei dem es um die Erde geht?«, fragte Clara in die entstehende Pause. »Was kann das bedeuten?«

    Nadir zuckte unwissend mit den Schultern, doch Jan hatte eine ungute Ahnung: »Hoffentlich droht nicht wieder irgendeine Gefahr. Naja, bestenfalls darfst du endlich ein bisschen von dem Wissen, das du mitgebracht hast, in einer Perle speichern.«

    Sie legte den Kopf schief: »Ich würde ja gern einfach nur nach Hause gehen. Aber ich kann euch auch nicht allein lassen. Und dann ist da noch immer dieses Problem ...«

    In den vergangenen Tagen hatte Clara immer häufiger mit dem Gedanken zu kämpfen gehabt, dass sie gern zur Erde zurückkehren würde. Natürlich blieb ihr das weiterhin verwehrt, aber ihre Sehnsucht nach Heimat, Eltern und der bisher gewohnten Umgebung konnte sie vor ihren Freunden nicht verheimlichen.

    »Ich würde all das hier mittlerweile nur zu gern für ein Rückfahrticket eintauschen. Sogar Qera würde ich ohne nachzudenken eintauschen. Auch wenn ich dafür blind bliebe. Verflucht, hast du keine Sehnsucht nach der Burg, Jan? Und du? Nadir? Deine Geschwister ...«

    Ratlos blickten sich die beiden Jungen an, während Clara ein paar stumme Tränen über die Wange rannen. Jan fühlte sich angesichts fremden Kummers immer derartig unwohl, dass er am liebsten seine Haut abgestreift und schreiend davon gelaufen wäre. Diese Hilflosigkeit lähmte ihn auch diesmal, obwohl hier seine beste Freundin vor ihm saß und schluchzte.

    Nadir dagegen hatte einen Draht zu den Gefühlen anderer, um den Jan ihn stets beneidet hatte. Warum auch immer, für ihn war nichts dabei, für seine Freunde auch dann da zu sein, wenn es ihnen schlecht ging. Und während er sich auf den Stuhl neben Clara setzte, schämte sich Jan seiner Untätigkeit.

    »Na klar habe ich Sehnsucht nach zu Hause. Das haben wir alle. Moéma hat mir von ihrem Dorf erzählt – dort sind alle eine einzige große Familie. Stell dir vor, du hast nicht nur deine eigenen Eltern, sondern einen Riesenhaufen Onkel und Tanten, Schwestern und Brüder in Hülle und Fülle, denn sie unterscheiden nicht zwischen Geschwistern und Cousins. Die Luft der Heimat atmen, das Gras unter den Füßen, die Erde zwischen den Fingern zu spüren, das wünsche ich mir wie nichts anderes. Andererseits haben wir den Schwur. Wir wollten Knechte sein für die Erde – und das hörte nicht in dem Moment auf, als Jan den Schatten besiegte.«

    »Ich wünschte, das wäre alles viel einfacher.«, erwiderte Clara, die langsam die Fassung wiedergewann. Dann aber erzählte sie weiter: »Was passiert eigentlich, wenn wir wirklich einmal auf der Erde auftauchen würden? Könnt ihr euch noch daran erinnern, was Fang erzählte, als er ankündigte, dass ihr in die Fabrik kommt? Er hat gesagt, dass eure Familien suchen würden, dass sie trauerten und Abschied von euch nähmen. Das war bei meinen Eltern doch sicher genauso. Meine Großmutter! Die muss doch vor Schmerz vergangen sein. Und dann stehe ich plötzlich vor ihnen und bin wieder zurück? Was soll ich denn denen erzählen? Hallo, da bin ich wieder, ich war übrigens in der Weltenfabrik und habe Johannes Luchs – ja, der aus meiner Klasse – geholfen, die Erde und das ganze Universum zu retten? Da lande ich doch im Irrenhaus!«

    Die letzten Worte hatte sie halb lachend, halb weinend gesprochen. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber zumindest lächelte sie wieder und wischte sich die Tränen ab. Nadir erbot sich, sie zu Sarrigan zu begleiten, während Jan dem Ruf des Drachen nachging.

    Gebrochener Meister

    Fang hatte auf einem lederbezogenen Sessel Platz genommen, den Jan extra für ihn in das Umbrarium geschleppt hatte. Dieser Ort war einer der Lieblingsplätze des Drachen. Verschiedenfarbiges Licht wurde auf eine pergamentene Blase projiziert, vor der ein verborgener Mechanismus Figuren bewegte. Fang nutzte das Umbrarium manchmal, um Stücke für ein Schattentheater zu inszenieren. Meist aber begnügte er sich damit, durch Farbe und Form unterschiedliche Stimmungen zu erzeugen. Es gab nur wenige Bewohner der Fabrik, die sich intensiver mit diesem Ort beschäftigten.

    Als er seine Schüler zum ersten Mal hier empfangen hatte, erklärte er: »Dies ist meine liebste Kunstform. Ich mag es, mit Licht und Schatten zu malen, Bildergeschichten zu erzählen und dabei Musik zu lauschen. Wenn ihr Interesse habt, kann ich euch auch gern das Kompositionsstudio vorführen.«

    Bislang war es noch nie dazu gekommen. Ein straffer Trainingsplan und die Launenhaftigkeit des Drachen hatten dafür gesorgt, dass noch keinem seiner Schüler dieses Privileg zuteilwurde.

    Augenblicklich strahlte sanftgrünes Licht durch einen schattenhaften Wald. Dies war eine der entspannteren Installationen des Umbrariums. Jan hatte bereits Kopfschmerz erzeugende Stroboskopvorstellungen und gruselige Schwarzlichtprojektionen erlebt. Am schlimmsten aber hatte ihn eine tiefblaue Einstellung getroffen, die den Eindruck erzeugte, man befände sich am Grund eines Ozeans. Nach nur wenigen Minuten war Jan von solch beklemmendem Druck erfüllt, dass er entsetzt hinausstürmte. Fang schien wenig Gespür dafür

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