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Ardeen – Band 7: Große und kleine Tyrannen
Ardeen – Band 7: Große und kleine Tyrannen
Ardeen – Band 7: Große und kleine Tyrannen
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Ardeen – Band 7: Große und kleine Tyrannen

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About this ebook

Für alle Beteiligten etwas unerwartet, tauchen gleich am Anfang der Geschichte mehrere jüngere Nachkommen aus der Sippe des Prinzen auf, die sich in Naganor zur Gruppe der kleinen Tyrannen formieren. Zwar haben sie keinen größeren Einfluss auf die Belange der hohen Politik, trotzdem beschäftigen sie Seine Hoheit das eine oder andere Mal ganz gehörig.

In der Welt der Erwachsenen herrscht zurzeit Krieg in Goren, dem Nachbarland Ardeens. Dorthin verschlägt es Gandrikon und Rhyenna, während Prinz Raiden sich aus diesem Konflikt strikt heraushält. Lastet die Verwaltung des Großreiches Ardeen, auch ohne einen weiteren Krieg, schon schwer genug auf seinen Schultern und obendrein muss er sich auch noch mit den Problemen der Bruderschaft herumschlagen. Auch das Schicksal Ravenors drückt schwer auf die Stimmung all seiner Freunde und die Hoffnung schwindet, dass der Held des Volkes jemals wieder aus dem Tiefen Schlaf erwachen wird.

Aber vielleicht vermag hier der kluge Forscherdrache das Blatt doch noch zum Guten zu wenden...
LanguageDeutsch
Release dateOct 4, 2018
ISBN9783941436329
Ardeen – Band 7: Große und kleine Tyrannen

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    Book preview

    Ardeen – Band 7 - Sigrid Kraft

    Jagd

    Anmerkung

    Liebe Leser,

    in diesem Band gibt es mehrere Kapitel, die auch schon in dem Extraband „Ardeens Kindergeschichten" vorkommen, da diese für die Handlung unverzichtbar sind.

    Auf diese Überschneidung weise ich hiermit noch einmal explizit hin. Aus diesem Grund ist Band 7 auch um etliche Seiten länger, als die anderen Ardeen-Bände.

    Viel Spaß beim Lesen,

    Sigrid Kraft

    Die Karte des Nordens

    1. Elfrey

    Die ersten Tage, nachdem Prinz Raiden Ravenor heimgebracht hatte, waren die Magiermeister allesamt noch zuversichtlich, dass der Kommandant der Garde bald wieder erwachen würde. Doch mit jedem Tag, der verstrich, schwand diese Hoffnung immer mehr dahin und bald herrschte eine sehr gedrückte Stimmung. Prinz Raiden gab sich äußerst desinteressiert und hing oft melancholisch seinen Gedanken nach. Dann wieder reagierte er sehr aufbrausend und keiner wagte sich mehr gerne in seine Nähe. Was Prinz Raiden auch nicht sonderlich störte, denn er wollte alleine sein. So stand er wieder einmal neben dem Bett seines Sohnes und musterte dessen ruhige Gesichtszüge.

    Er sieht so gesund aus, als ob er nur schlafen würde.

    Persönlich hatte Meister Raiden die anderen Magier eingewiesen, wie sie Ravenor zu versorgen hatten. Täglich musste er ernährt und gereinigt werden. Darüber hinaus war es wichtig, seine Gliedmaßen etwas zu bewegen, damit die Gelenke beweglich blieben und die Muskeln sich nicht gänzlich zurückbildeten. Insgesamt betrachtet war dies ein großer Aufwand und konnte nur von einem erfahrenen Magier durchgeführt werden. Und darüber dachte Prinz Raiden gerade nach.

    Sicherlich, wenn man seinen Körper paralysieren würde, dann könnte man sich das alles sparen. Aber wenn er paralysiert ist, dann wird er mit Sicherheit nicht mehr erwachen. Ravenor war wirklich ein verdammter Held. Mutig und tapfer, manchmal zu tollkühn. Aber das Volk hat ihn vergöttert und auch mir bedeutet er viel. Er ist mein einzig wahrer Sohn, dieser verdammte Unmagische.

    Dabei drängten sich die Gesichter von Torag und Hartwig in Prinz Raidens Gedanken. Ich kenne sie kaum. Und wie hieß der andere doch gleich noch, der auch in der Garde diente? Lysander. Ja, der hat Lord Boron begleitet und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen, ganz zu schweigen von den vielen anderen, die ich überhaupt nicht kennengelernt habe.

    Erneut sah er zu Ravenor hinüber und der Anblick stimmte ihn traurig. Bitter presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Sie müssen gut für ihn sorgen. Ich möchte nicht, dass er in seinem eigenen Dreck liegt und sein Körper eine schwache, vertrocknete Hülle wird.

    Das zumindest konnte Prinz Raiden für Sir Ravenor tun und es war ihm wichtig. Wenn schon alle anderen die Hoffnung aufgegeben hatten, Prinz Raiden würde bis zuletzt auf das Wunder hoffen.

    Plötzlich klopfte es und Prinz Raiden öffnete magisch die Tür, um Meister Lionas einzulassen. Sie wechselten ein paar Worte und dann überließ Seine Hoheit Ravenor Meister Lionas’ fachkundiger Pflege. Er selbst ging wieder hinunter in sein Arbeitszimmer. Das war mehr die Macht der Gewohnheit, als dass er wirklich in der Stimmung war etwas zu arbeiten.

    Man beschäftigt sich mit so viel unnützem Tand und vergeudet so sinnlos sein Leben. Genau das hatte ihm Ravenors Schicksal drastisch vor Augen geführt. Alle, die mir nahe waren, sind mir genommen worden. Prinz Raiden schwelgte im Selbstmitleid und war dabei fast wütend auf die, die ihn durch ihren Tod verlassen hatten. Danian mit seiner ganzen Familie und nun auch noch Ravenor. Jeder, den er in sein Leben ließ, schien ihn schnöde zu verraten. Ich konnte nie eine richtige Familie haben. Nicht zuletzt wegen Lady Chrystell, die übelste aller Schlangen. Vielleicht hätte ich sonst einen anderen Bezug zu meinen Abkömmlingen, doch so viele Jahre war es mir nicht gestattet. Politisch verwehrt. Und nun ist es zu spät. Irgendwie erinnerte er sich dabei plötzlich an Airyn und er sinnierte:

    Ravenors Bursche ist anscheinend auch einer meiner unmagischen Söhne. Ich wundere mich nur, von wem der abstammt? Waren es wirklich so viele, dass ich mich gar nicht mehr an alle erinnern kann? Oder werde ich langsam alt und vergesslich. Sei’s drum. Ich denke, ich werde ihn in die Zitadelle holen. Soldaten sind ein raues Volk und ohne Ravenors schützende Hand könnte er leicht untergehen. Allerdings ist er unmagisch und ich habe nicht wirklich eine Verwendung für ihn, aber vielleicht kann Meister Torag ihn gebrauchen.

    Der Gedankenfluss wurde von einer telepathischen Anfrage seitens Meister Eriwen unterbrochen, der um eine Unterredung bat, und Meister Raiden willigte missmutig ein.

    Kurz darauf stand der Feuermagier im Raum und grüßte. Seine nächste Frage galt sogleich dem Befinden Ravenors.

    Wie ich diese Frage inzwischen hasse. „Es geht ihm unverändert. Setzt Euch doch bitte und sagt mir, welches Anliegen Euch zu mir führt."

    Meister Eriwen rückte sich einen Stuhl zurecht und wirkte durchaus besorgt, als er eröffnete:

    „Es gibt beunruhigende Neuigkeiten."

    Noch mehr schlechte Nachrichten, ob ich die überhaupt hören möchte? „Berichtet mir."

    Meister Eriwen zögerte noch einen Moment, doch dann sprudelten die Worte regelrecht aus ihm heraus: „In Goren ist ein Drache eingefallen und treibt dort sein Unwesen. Man sagt, es sei Udrat der Rote. Einer der alten Drachen. Mächtig und herrschsüchtig verlangt er die Unterwerfung der Menschen an der Küste. Ansonsten droht er ihnen mit der kompletten Vernichtung. Nein, eigentlich ist er schon einen Schritt weiter gegangen und hat seinen Drohungen bereits Taten folgen lassen."

    „Solange er einen großen Bogen um Ardeen macht", warf Meister Raiden wenig mitfühlend ein, doch Meister Eriwen war ob der Ereignisse zutiefst besorgt und gab zu bedenken:

    „Er wird versuchen, die Herrschaft über Goren mit Gewalt zu erringen und viele werden sterben."

    „Ein Herrscher folgt dem anderen. Das war schon immer so. Und wenn sich zur Abwechslung mal ein Drache auf den Thron schwingt, was ist schon dabei. Die Geschichte ist voll von martialischen Akten, in denen jemand die Herrschaft gewaltsam an sich reißt. Dabei hat sich die Bruderschaft, seit ich ihr angehöre, aus diesen weltlichen Kämpfen herausgehalten, und das ist auch meine Philosophie. Solange sich Udrat nicht nach Ardeen verirrt, sehe ich hier keinen Handlungsbedarf." Meister Raiden kannte Meister Eriwen schon zu lange, als dass ihm dessen Gefühlsregung entgangen wäre. Es passt ihm nicht und er hält mich für kaltherzig.

    Tatsächlich führte Meister Eriwen nun weiter Argumente ins Feld. „Inzwischen kommen schon vereinzelt Flüchtlinge zum Grenzwall. Doch wenn die Unruhen in Goren erst richtig losgehen, dann werden noch viel mehr Menschen nach Ardeen strömen. Mit Eurer Macht und mit dem Rückhalt der Bruderschaft könntet Ihr dem Drachen sicherlich Einhalt gebieten und ihn zurück ins Mittelland treiben, wo er hergekommen ist."

    Sieh an, ich soll das Biest gar nicht gleich töten, sondern nur vertreiben. Seinen Unwillen tat Meister Raiden aufbrausend kund: „Wir hatten schon einmal in der Geschichte einen Krieg mit den Drachen. Gerade Ihr dürftet Euch noch an diese Zeit erinnern. Was sind schon ein paar Unmagische. Wenn sie dem Drachen gut dienen, wird der sie sicherlich dementsprechend behandeln. Diese Wesen sind zivilisierter, als man glauben möchte. Schließlich sind es keine Wyvern." Jetzt verteidige ich auch noch Vedi und seine übergeordnete Spezies, nur um nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden. Und mit schneidender Härte fuhr er fort: „Ich möchte mit unserem Nachbarn keinen Streit und darum werden die Flüchtlinge in Zukunft zurückgeschickt. Teilt meinen Standpunkt den Regenten Gorens, ob nun Drache oder Mensch, mit. Wenn er mit mir in Frieden leben möchte, dann hat er die Grenze – markiert durch den Raidenswall – zu akzeptieren. Mich kümmern lediglich meine Untertanen – nicht die fremder Länder. Wohlgemerkt Länder, die damals keinen Finger gerührt haben, als Ardeen in großer Not war. Und das ist noch gar nicht allzu lange her, wenn ich mich recht entsinne."

    „Aber diese Flüchtlinge sind doch nur unschuldige Opfer …", versuchte Meister Eriwen den Herrn von Naganor umzustimmen. Aber der war für Argumente dieser Art nicht zugänglich.

    „Ihr habt meine Anweisung gehört. Abgesehen davon ist niemand unschuldig. Die Frage ist vielmehr, ob mir diese Menschen etwas bedeuten – und das tun sie nicht. Außerdem bekomme ich stets von allen Seiten zu hören, dass mehr Geld vonnöten ist. Und die Einmischung in anderer Leute Kriegsangelegenheiten bedeutet immer einen hohen Verlust von Geld und Leben. Das Leben meiner Untertanen, denen gegenüber ich eine Verpflichtung habe. Und finanzielle Mittel stelle ich auch nur für Menschen zur Verfügung, die mir etwas bedeuten." So wie für Ravenor. Das Gold musste ich säckeweise nach Averis bringen lassen und die Summe hat ein tiefes Loch in meine Kassen gerissen. Dafür, dass er … immer noch schläft. Prinz Raiden riss sich von diesem Gedanken los und schloss seine Rede mit Zynismus ab: „Jedenfalls nicht für unliebsame Nachbarn, die mir nie etwas Gutes wollten. Vielleicht werden die Beziehungen zu Goren unter der Herrschaft des Drachen sogar besser. Wer weiß?"

    Meister Eriwen erkannte, dass Prinzen Raiden seinen Standpunkt nicht aufgeben würde. Also resignierte er: „Wie Ihr wünscht, mein Prinz. Ich werde mich darum kümmern."

    „Gut. Sonst noch was?"

    Die stahlblauen Augen des Prinzen schienen den Feuermagier zu durchbohren und der senkte eingeschüchtert den Blick zu Boden.

    Bei den Göttern, der ist wieder einmal unerträglich. Vermutlich wegen Ravenor. Sein Schicksal geht uns allen an die Nieren, doch Meister Raiden versinkt in einem Strudel der Destruktivität. Als ob nicht schon genug im Argen wäre, wird er seinem Beinamen wieder einmal mehr als gerecht: Der Schwarze Prinz bringt Tod und Zerstörung und ich trage seine brennende Fackel durchs Land.

    „Nein, mein Prinz. Ihr entschuldigt mich", verabschiedete sich Meister Eriwen und überließ den Herrn von Naganor wieder seinen brütenden Gedanken.

    Hat sich Meister Adors Befürchtung doch bestätigt. Udrat zieht nach Süden. Mir egal, solange er meinen Hoheitsbereich in Ruhe lässt. Ich habe andere Sorgen. Mit jedem Tag, den Ravenor länger schläft, ist sein Erwachen unwahrscheinlicher. Ob er träumt? Ich werde Meister Ador aufsuchen und seinen Rat einholen. Schließlich hat auch er lange zwischen Leben und Tod dahingedämmert.

    Aber Prinz Raiden wusste selbst nur zu gut, was man über den Tiefen Schlaf sagte. Dieses Übel war keine Sache der Magie. Und ihm war nichts darüber bekannt, dass man diesen Zustand mithilfe magischer Methoden oder auch unmagischer Verfahren heilen konnte. Damit verhielt es sich genauso wie mit einem Verrückten. Ihn wieder in die Normalität zurückzuholen, lag in den Händen der Götter. Und dennoch klammerte sich Prinz Raiden an jeden noch so kleinen Funken Hoffnung.

    Einst hieß es auch, das Nimrod könne nicht betreten werden, und dennoch habe ich es geschafft.

    Er stand auf und ging hinüber zu dem mit Büchern vollgefüllten Regal. Suchend glitt sein Blick über die Einbände. Dabei hoffte er, über etwas zu stolpern, was ihm weiterhelfen würde.

    „Dunkle Schatten, ein Buch über schwarze Magie – nein, das ist nicht hilfreich. „Paralysezauber der höheren Ebenen – und das noch viel weniger. Meister Raiden ging einen Titel nach dem anderen durch, doch keines der Bücher wollte ihn in dieser schwierigen Sache weiterbringen. Schließlich zog er einen Wälzer über die Heilkräfte der Kräutermagie hervor. Das Werk hatte schon lange unbeachtet im Regal gestanden und eine dicke Staubschicht hatte sich oben auf die Seiten gelegt. Dann beging er den Fehler, den Dreck unmagisch mit der Hand beseitigen zu wollen. Nun klebte ein Teil des Staubes an seinen Fingern und der Rest hatte sich zu kleinen schwärzlichen Krümeln verdichtet, die bereit waren, zwischen die Seiten zu fallen. Ärgerlich bemühte Seine Hoheit nun Magie und mokierte sich dabei: Eklig. Macht denn hier keiner mehr sauber? Wenn ich mir das so ansehe, dann hat hier offensichtlich noch nie jemand richtig sauber gemacht. Alles faule Ratten. Eryn hat wahrscheinlich früher jedes zweite Buch interessehalber durchgeblättert und dabei den eigentlichen Zweck seines Tuns vergessen, und Ravenor, der wusste ohnehin nie, was Ordnung ist. Von den anderen Pfeifen will ich gar nicht reden. Nur dieser Gandrikon, der war wirklich gut. Ein Jammer, dass die Götter ihn mir geraubt haben. Und dabei erinnerte er sich an Ravenors Erzählung und die kleine goldene Kette, die er einst Elfi geschenkt hatte. Das Schicksal seiner Nichte lag nach wie vor im Dunkeln und insgeheim fürchtete sich Prinz Raiden davor, ein weiteres schlimmes Schicksal aufzudecken. Doch da war auch jene bohrende Neugierde, die ihn beständig drängte, die Wahrheit herauszufinden.

    Ich sollte diese Geschichte nachprüfen. Die Kette gehörte zweifellos Elfi und dennoch kam mir dieser Gandrikon nicht wie ein übler Verbrecher vor. Meine Menschenkenntnis ist meistens ganz gut – andererseits kann auch ich mich irren. Und letztendlich hat Ravenor ihn damals hingerichtet, weil er einen Mann getötet hat … aus welchen Gründen auch immer. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder Untergebene einfach seinen Vorgesetzten töten würde, nur weil ihm dessen Anweisungen nicht gefallen. Die reinste Anarchie wäre das.

    Den dicken, verdreckten Wälzer hatte er inzwischen achtlos auf den Tisch gelegt und dann hatte er wie von selbst in seine Tasche gegriffen, um die kleine Kette hervorzuholen.

    Ich könnte mir die Vergangenheit ansehen, vielleicht lebt Elfi ja noch. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass sich mir nur ein weiteres hässliches Schicksal offenbart und das bräuchte ich im Augenblick absolut gar nicht. Aus dieser Furcht heraus entschied er sich, das Geheimnis der Kette weiter ruhen zu lassen und verstaute sie in eine kleine Schatulle, die wie gemacht dafür erschien. Bisher war dieses hübsche Kästchen nur als nutzlose Dekoration herumgestanden und erfüllte jetzt so wenigstens einen nützlichen Zweck. Dann setzte er sich hin und nahm den Wälzer zur Hand. Als er ihn aufschlug, zeigte es sich, dass die Reinigungsbestrebungen Seiner Hoheit etwas nachlässig gewesen waren und erneut staubte es aus den Seiten. Darum klopfte er das Buch ab und wehte den Dreck über den Rand der Tischplatte. Putzen ist keine Arbeit für mich. So etwas sollte eigentlich ein Bursche tun. Und nicht ohne Neid musste er daran denken, dass Ravenor eine ganze Handvoll eifriger Burschen gehabt hatte und er nicht einmal über einen gebot. Woran Prinz Raiden nicht ganz unschuldig war, denn er hatte seine letzte Ordonnanz wieder einmal mit Schimpf und Schande davongejagt, und in dem Chaos, nachdem der Kommandant Sir Ravenor in den Tiefen Schlaf gefallen war, hatte man schlichtweg übersehen, Seiner Hoheit einen entsprechenden Ersatz zu schicken. Und Prinz Raiden selbst war einfach zu beschäftigt gewesen, um sich auch noch darum zu kümmern. Doch nun schien die Zeit gekommen, diesen Missstand zu beseitigen und der Gedanke an Ravenors Burschen rief Meister Raiden wieder jenen ins Gedächtnis, der Ravenor wie aus dem Gesicht geschnitten war …

    Ich war so überzeugt davon, dass er sein Sohn ist – so ähnlich, wie sich die beiden sehen. Doch es ist wie verhext, dieser Junge scheint tatsächlich wieder einmal meiner Saat entsprungen zu sein. Ich befürchte bald, wenn ich eine Frau auch nur ansehe, bekommt sie schon Nachwuchs. Unmagischen Nachwuchs – und das haufenweise. Die einzige Ausnahme dabei ist Rhyenna. Allerdings ist ihre magische Begabung nicht so überragend stark und dazu ist sie auch noch eine Frau. Naja, zumindest besser als gar nichts. Und Ravenor? Schenkt man den Geschichten Glauben, dann hat er mit unzähligen Frauen geschlafen und dennoch scheint er bisher keinen einzigen Nachkommen gezeugt zu haben. Irgendwie seltsam. Und wieder sah er das Bild des schlafenden Ravenor vor sich und das drückte erneut schwer auf sein Gemüt.

    Eryn war schlechter Laune und das hatte gleich mehrere Gründe. Sein Tag war bisher so richtig daneben gewesen. Es begann schon in der Früh damit, dass er an der Reihe war, sich um Ravenor zu kümmern. Es war nicht die Arbeit, woran er sich störte, sondern der Anblick des Freundes brachte schlagartig die schrecklichen Erinnerungen an jenen unglückseligen Tag zurück, an dem Ravenor so schwer verwundet worden war.

    Niemand hätte an so etwas auch nur gedacht. Wir waren im Schutze der Magie nur auf der Jagd nach ein paar dämlichen Echsen. Ravenor hat schon viel schlimmeren Gegnern getrotzt und ist geradezu tollkühn gegen unberechenbare Monster angerannt, ohne eine schwere Verwundung davonzutragen. Doch dort in der Wüste hat ihn sein Glück verlassen. Es war nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit und um ein Haar wäre er gestorben.

    Dann folgte das bange Hoffen und zunächst schien sich unter den fachkundigen Händen der Heiler von Averis alles wieder zum Guten zu wenden. Bis zu jenem Tage, an dem sie die Erweckung versuchten, gefolgt von der bitteren Erkenntnis, dass Ravenor in den Tiefen Schlaf gefallen war. Natürlich hatte Eryn sich über das Phänomen des Tiefen Schlafes sofort kundig gemacht, doch die Literatur machte einem nicht allzu viele Hoffnungen und es herrschte große Einigkeit darüber, dass kein Mittel bekannt war, mit dem man den Schlafenden erwecken konnte. Allgemein hieß es: „Nur der Schlafende selbst kann aus diesem Zustand wieder herausfinden und erwachen. Dabei nimmt die Wahrscheinlichkeit dafür mit jedem Tag, der verstreicht, weiter ab."

    Ravenor ist nicht tot, aber so ist er auch nicht lebendig, und es schmerzte Eryn, seinen langjährigen Freund so hilflos daliegen zu sehen. Dabei hatte er Ravenor schon lange ihre kleinen Streitereien der letzten Monate verziehen. Diese Momente waren zur Bedeutungslosigkeit verblasst. Und nun musste Ravenor mit Brei gefüttert werden und nur die Magie ließ ihn die Nahrung überhaupt verdauen. Anschließend bewegte Eryn die Gliedmaßen, damit Ravenors Muskeln nicht noch mehr verkümmerten. Einen Teil davon hatte Ravenor in den letzten Wochen bereits eingebüßt. Und schließlich war da noch die wenig rühmliche Aufgabe, den einst so strahlenden Helden zu säubern und seine Exkremente wegzumachen. Allerdings ließ sich das mittels Magie noch um einiges besser erledigen, als mit den bloßen Händen. So hatte Eryns Tag begonnen und auf dem Weg hinunter lief er dann zufällig Meister Raiden über den Weg und musste sich wegen rein gar nichts zusammenstauchen lassen. Solche nichtigen Gründe fand Meister Raiden immer, wenn ihm danach war und in dieser üblen Laune befand sich Seine Hoheit seit Ravenors Unfall ständig. Bis zu einem gewissen Punkt konnte Eryn Meister Raidens Gemütsverfassung sogar verstehen. Der Verlust Ravenors schien ihn viel stärker zu treffen, als man dies jemals vermutet hätte. Und jene Unfähigkeit, die derzeitige Situation ändern zu können, verwandelte Meister Raiden in einen äußerst reizbaren Zeitgenossen. Dabei suchte sich die prinzliche Aggressivität wahllos Ziele, auf die ein Teil der aufgestauten Emotionen abgelassen werden konnte. Darum versuchte jeder vernünftige Mensch, einen großen Bogen um den Herrn von Naganor zu machen. Doch dieser Vorsatz erwies sich als immer schwieriger, je höher man in der Befehlskette stand. Und so kam Eryn des Öfteren zu diesem zweifelhaften Vergnügen. Da wurde er als Nichtskönner und Nurin beschimpft, und dann doch wieder mit äußerst wichtigen Aufgaben bedacht, die angeblich keinen Aufschub duldeten. Spätestens jedoch am darauffolgenden Tag wurden dieselben Aufgaben als nicht weiter relevant wieder abgetan. Selbstredend empfand Eryn diese Behandlung als äußerst ungerecht.

    Uns hat Ravenors Schicksal auch alle mitgenommen, doch das Leben geht trotzdem weiter. Aber er sorgt noch für zusätzliches Chaos und macht es somit für alle dreimal schwerer. Niemand braucht dieses zerstörerische Verhalten jetzt. Wäre er ein anderer, dann würde man ihm ganz gehörig den Kopf waschen. Aber leider ist er der Regent dieses Landes und sein Wort ist Gesetz, auch wenn es zurzeit nicht besonders viel Sinn macht. Wenn er uns wenigstens in Ruhe lassen würde, aber er überlässt uns keine einzige Entscheidung und redet einem bei allem rein. Bei den Göttern, hoffentlich legt sich dieser Zustand bald wieder, denn mir reicht es langsam. Und trotz längerem Überlegen fiel Eryn nur eine vernünftige Entscheidung ein, die Prinz Raiden in den letzten Wochen getroffen hatte. Im Einvernehmen der beiden hohen Turmherren, Meister Raiden und Meister Oderon, war ein Magier aus Averis nach Naganor gekommen. Meister Estrian, ein ausgezeichneter Heiler, war vor zwei Tagen eingetroffen, doch Eryn hatte bisher lediglich ein paar belanglose Begrüßungsworte mit ihm wechseln können. Trotzdem war sein erster Eindruck von Meister Estrian ganz positiv und er war sich sicher, dass dieser Magier eine Bereicherung ihrer intellektuellen Gemeinschaft darstellte.

    Inzwischen hatte Eryn den geschützten Bereich der Zitadelle verlassen und weil er sich über Prinz Raidens ungerechtes Verhalten immer noch ärgerte, beschloss er erst einmal etwas Abstand zu gewinnen. So wirkte er ein Tor und suchte Vedi auf. Natürlich wollte er bei diesem Besuch auch seinen Sohn Gannok sehen, doch der Drache behauptete, die kleinen Ameisen, wie er sie nannte, hätten eine Krankheit und müssten Bettruhe halten. Vehement vertrat er die Ansicht, eine Störung wäre der Heilung abträglich. Und da Vedi stets sehr besorgt um seine schutzbefohlenen Forschungsobjekte war, ließ er sich auch nicht vom Gegenteil überzeugen. Woraufhin Eryn bald in noch schlechterer Stimmung den Palast wieder verließ, nur um dann in seiner Akademie mit einer neuen unliebsamen Überraschung konfrontiert zu werden. Rhyenna hatte auf ihn gewartet und wollte ihn sprechen. Seit der verzwickten Sache damals war ihre Beziehung kühl und distanziert. Zumeist gingen sie sich aus dem Weg und jeder erledigte seine Arbeit für sich. Doch manchmal ging das eben nicht, denn die Akademie hatte inzwischen schon mehrfach Zustrom erfahren und zählte nun an die hundert Schüler. Das war eine ganze Menge, wenn man den großen Mangel an Personal beachtete. Meister Retor konnte nicht besonders gut mit Kindern umgehen und war besser in der Garnison aufgehoben. Dafür hatte Eryn zwei Hilfslehrer aus der Magierkompanie eingetauscht. Eigentlich waren das nur einfache Soldaten und beherrschten die Magie ihrer Adern nur bis zur zweiten Stufe. Doch sie kamen mit den Kindern gut zurecht und für die Grundlagen in der Magie war dieses Wissen durchaus ausreichend. Die Hauptarbeit jedoch machte Rhyenna, und vor allem die kleineren Kinder sahen in ihr so etwas wie eine Ersatzmutter. Und nun war Rhyenna zu ihm gekommen und suchte allen Ernstes um eine Auszeit von zwei Monaten an. Eryn wurde daraufhin richtig wütend und hatte das Anliegen rigoros abgelehnt. Rhyenna aber schluckte das nicht kommentarlos und wurde dann ebenfalls laut, bis er ihr sehr deutlich zu verstehen gab, dass nur Prinz Raiden persönlich ihn von seinem Standpunkt abbringen könne. Ganz in dem Wissen, dass Prinz Raiden dies mit Sicherheit nicht tun würde. Vor allem nicht in der gedrückten Stimmung, in der sich der Herr von Naganor gerade befand. Insgeheim dachte Eryn sogar daran, Rhyenna für ihr aufmüpfiges Verhalten an den Pfahl zu schicken. Aber da sie eine Frau war, verwarf er diese Überlegung sogleich wieder und durchbohrte sie nur mit wütenden Blicken, als sie ebenso wütend den Raum verließ. Dabei fiel ihm auf, dass sie ganz schön zugenommen hatte.

    Sie ist auch nicht mehr die schlanke Schönheit, die sie einmal war, stellte er mit einer gehässigen Genugtuung fest. Rhyenna hatte seinen Stolz damals ganz erheblich verletzt, auch wenn sie im Kern der Angelegenheit nicht ganz unrecht gehabt hatte. Aber keiner wird gerne abgewiesen und darüber hinaus war Eryn auch noch ziemlich nachtragend.

    Weil sein Tag bisher so schlecht gelaufen war, ärgerte Eryn sich immer noch über Rhyennas Verhalten, obwohl sie schon vor einer halben Stunde gegangen war. Und seine Gedanken kreisten um ihre vermessene Forderung: Soll ich mich jetzt etwa selbst hinstellen und die Kinder ins Bett bringen? Was denkt sich Rhyenna eigentlich dabei? Da wird gleich von Monaten gesprochen. Ein paar Tage reichen ihr für ein bisschen Erholung wohl nicht aus. Das hätte ich mir mal erlauben sollen. Meister Raiden, würdet Ihr mir eine Auszeit von nur zwei Monaten gewähren. Ich bin überarbeitet und mir wird alles zu viel, spottete er, um sich dann noch weiter hineinzusteigern. Wie denkt sie sich das eigentlich? Hat sie kein Verantwortungsbewusstsein? Hier fehlt es hinten und vorne an Personal und mir fehlen obendrein die Mittel. Tja, Eryn, baue eine Akademie auf, aber kosten darf es nichts. Seine Geizigkeit brauche ich im Moment auch nicht um eine höhere Zuwendung zu bitten. Und dann gibt er diese immense Summe für Ravenor aus. Schon als Eryn daran dachte, kam er sich schäbig vor.

    Jede Summe ist gerechtfertigt, um Ravenors Leben zu retten. Aber dieses Zugeständnis löste keines seiner Probleme und so beschloss er: Ich muss mit Kerven reden. Ich brauche mehr Männer, Kindermädchen, Lehrer … was auch immer.

    Er scannte nach Kerven und entdeckte ihn drüben in der Garnison im illustren Kreis von Meister Lionas, Meister Retor und dem Neuen, Meister Estrian. So viele hochkarätige Magier in einem Zimmer, das bedeutete entweder eine streng geheime und wichtige Beratung, oder … eine gesellige Zusammenkunft. Und weil Eryns Tag bisher so unbefriedigend verlaufen war, beschloss er, sich der Runde anzuschließen. Als Meister des goldenen Kreises brachte ihn ein Schritt in den Vorraum und mit zwei weiteren stand er dann im Türrahmen und grüßte: „Abend, die Herren."

    Meister Lionas bat ihn sogleich herein, während Meister Kerven bemerkte:

    „Wir sollten uns besser absichern, damit wir nicht so unerwartet überrascht werden."

    „Du kennst keinen Schutzzauber, der mich aufhalten würde", entgegnete Eryn pampiger, als er gewollt hatte, doch Kerven trug es ihm nicht nach – zumal diese Aussage der Wahrheit entsprach.

    Der neue Magier war auch anwesend und Meister Lionas stellte sie einander vor:

    „Kennt ihr euch schon? Meister Estrian, das ist Meister Eryn, der Leiter der Akademie und Meister Raidens Schüler."

    Wohl eher Meister Raidens Arbeitsesel. Eryn nickte Meister Estrian freundlich zu:

    „Wir haben uns schon gesehen, allerdings nur kurz."

    Nun mischte sich Retor in das Gespräch mit ein: „Dann bist du ja genau im richtigen Moment gekommen. Wir haben uns nämlich hier zusammengefunden, um Meister Estrians Einstand zu feiern. Komm, such dir einen Platz. Dann schwebte er einen Becher vor Eryn auf den Tisch und fragte, was er trinken wolle: „Wir haben Wein, rot und weiß, oder möchtest du lieber einen Tee?

    Heute würde ich sogar einen Grog von meinem Urgroßvater trinken: „Wein wäre gut. Einen Roten bitte." Nachdem sich Eryn in die Versammlung eingefügt hatte, wanderte das Hauptaugenmerk der Runde wieder zu Meister Estrian. Der neue Magier war von auffallend fahler Hautfarbe und hatte dazu auch noch weißblonde Haare. Seine Augen wiesen eine Färbung auf, wie Eryn sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ein ganz heller Grauton mit einem Hauch von Blau darin.

    Der hat sicherlich kein reines Menschenblut, dachte Eryn und beteiligte sich höflich am Gespräch: „Wie kommt es eigentlich, dass Ihr Eure Dienste Naganor angeboten habt?" … Freiwillig.

    Meister Estrians Stimme war sanft und wohlklingend. „Ach bitte. Seid nicht so förmlich. Ich bin Estrian. Wir können uns duzen."

    Er sieht jünger aus als ich. Normalerweise war Eryn in diesen Dingen entspannter, doch heute war ihm schon zu viel über die Leber gelaufen und gerade wollte er Estrian in seine Schranken verweisen, als Meister Lionas bemerkte: „Meister Estrian, ich finde es sehr großzügig, dass du als Magier der siebten Stufe so offen geblieben bist. Viele in diesen Rängen glauben, sie wären etwas Besseres."

    Uhg, er ist ganze drei Stufen über mir. Eryn schluckte seine harsche Entgegnung sogleich hinunter und brachte dann etwas gezwungen hervor: „Es würde mich freuen. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fragte Eryn erneut: „Und was verschlägt dich nun nach Naganor? Nicht der beste Platz, den man sich aussuchen kann, wie ich heute wieder einmal feststellen musste.

    „Der Zufall, deutete Meister Estrian kryptisch an, wurde dann aber doch etwas genauer: „Meister Oderon sieht es gerne, wenn seine Schüler ihr Wissen bei anderen Turmherren vertiefen. Und ich selbst habe ebenfalls den Wunsch geäußert. Versteht das jetzt bitte nicht falsch, aber manchmal ist es besser, ohne den Herrn von Averis zu praktizieren. Er neigt dazu, alles selbst machen zu wollen und seine übertriebene Vorsicht ist manchmal erdrückend.

    Ach, sieh an. Da leidet wohl jeder unter seinem Dienstherrn – auf die eine oder andere Art.

    „Und wie ist Meister Raiden so?", fragte Meister Estrian und sah in die Runde, die sich zunächst in

    betretenes Schweigen hüllte und selbst Meister Lionas schien nach den richtigen Worten zu suchen, als Eryn die Sache unbeschönigt auf den Punkt brachte: „Zurzeit? Unausstehlich. Aber er hat auch manchmal seine guten Tage."

    „Jedoch nicht mehr, seit er Ravenor heimgebracht hat", fügte Retor im Hintergrund noch hinzu.

    Und weil Eryn sich über Meister Estrians Entscheidung wunderte, bohrte er neugierig nach:

    „Ich dachte, du hättest Meister Raiden schon kennengelernt, bevor du hierhergekommen bist? Angenommen du kämst mit ihm nun gar nicht klar, was dann?" Diese hohen Meister sind schließlich alle nicht einfach. Tellenor, Savyen, Ador. Wohingegen man von Meister Oderon keine derartigen Schauergeschichten hört. Ich habe manchmal ernsthaft daran gedacht, nach Averis zu gehen. Aber das kann ich vergessen, solange Meister Raiden etwas dazu zu sagen hat.

    Estrian verzog keine Miene und schien auch nicht weiter beunruhigt zu sein. „Tatsächlich habe ich den Herrn von Naganor in Averis nur kurz kennengelernt. Wir unterhielten uns über den Patienten und ich war von seinem tiefen Wissen beeindruckt. Und dann, letzte Woche, sprach mich Meister Oderon direkt darauf an, ob ich mir vorstellen könne, Averis ein paar Jahre zu verlassen und anderswo zu praktizieren. Als er mir dann eröffnete, dass Meister Raiden ganz gezielt nach mir gefragt hätte, da war ich zugegebenermaßen sehr geschmeichelt. Und außerdem legte mir mein Mentor diesen Ortswechsel ebenfalls ans Herz. Einerseits unterstützt Meister Oderon seine Schüler vorbehaltlos, wenn es darum geht, das Wissen zu erweitern, aber ich glaube auch, dass er sich gewissermaßen etwas schuldig fühlt, weil er dem Sohn Meister Raidens nicht helfen konnte. Deshalb wollte er dem Herrn von Naganor wahrscheinlich auch entgegenkommen. Und ich sagte mir: Warum eigentlich nicht? So bin ich dann hier gelandet. Wer wird mich eigentlich in meine Aufgaben einweisen? Bisher habe ich mich nur häuslich eingerichtet und mir die Gegend angesehen."

    Eine gute Frage. Er ist rangmäßig höhergestellt als wir alle.

    Was Meister Lionas viel weniger zu stören schien als Eryn. „Was ist denn dein Spezialgebiet?"

    Bedächtig schwebte die Weinflasche zu Estrians Glas, um es zu füllen. „In der Heilkunde ist mein Wissen sehr umfangreich. Darum bin ich auch nach der Grundausbildung in Averis gelandet. Aber mein absolutes Spezialgebiet ist die Zahnmagie. Ich forsche in dieser Richtung schon seit mehreren Jahren."

    Hmm, Zahnmagie?! Wahrscheinlich hat Meister Raiden ihn wegen Ravenor hergeholt. Sicherlich hofft er auf einen vielversprechenden Ansatz und Meister Estrian scheint magisch sehr bewandert zu sein.

    Während Eryn sich so seine Gedanken machte, redete Meister Estrian unbedarft weiter: „Naganor ist eine interessante Abwechslung, aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann wäre ich am liebsten nach Aleroth zu Meister Talasin gegangen. Ihm werden bezüglich der Zahnmagie die größten Kenntnisse nachgesagt. Sogleich zeigte sich in den Gesichtern um ihn herum eine Mischung aus Unwillen und Erschrecken und Meister Estrian merkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, noch bevor ihn Meister Lionas aufklärte: „Den Namen Talasin erwähne lieber nicht im Schatten Naganors. Abgesehen von seiner unrühmlichen Rolle, die er bei der Überwachung seiner Magierkollegen gespielt hat, ist er auch Meister Raiden mächtig auf die Füße getreten. Und das vergisst der Herr von Naganor Talasin nicht so schnell.

    „Aufgrund von Talasins Vergangenheit stand auch Meister Oderon meinem Ansinnen ablehnend gegenüber. Meister Talasin hat sich nirgends Freunde gemacht, was jedoch sein Wissen in der Kunst nicht schmälert. Aber da ich nun hier bin, ist dies ohnehin irrelevant. Die anderen hatten nicht vor, auf diesem Punkt weiter herumzureiten und Meister Lionas lenkte die Richtung des Gesprächs sogleich auf eine fachliche Sichtweise: „Zahnmagie ist hier eher ein untergeordnetes Kapitel. Wir können von dir sicherlich einiges dazulernen. Ich befürchte nämlich, unsere Methoden diesbezüglich sind ziemlich veraltet. Geringe Defekte werden repariert, ansonsten heißt es: Zahn raus und damit hat sich die Angelegenheit dann auch erledigt. Ich habe mich immer gefragt, wie man die Zähne nachwachsen lässt? Kannst du so eine Magie wirken?

    Mit einem selbstzufriedenen Lächeln bestätigte Estrian die Frage. „Ja, aber die Prozedur ist nicht einfach und zugegebenermaßen auch sehr schmerzhaft für den Patienten, weil man während der Verknüpfung der Nerven diese nicht betäuben darf. Sonst ist dieses Ersetzen nicht von Dauer. Darum ziehen es selbst viele Reiche und Mächtige vor, lieber eine Lücke im Gebiss zu haben, als diese heftigen Schmerzen zu ertragen. Das ist eines der wissenschaftlichen Probleme, an dem ich gerade arbeite. Doch die Forschung musste oft vor anderen, dringenderen Arbeiten zurückstecken. Ein Umstand, den ich immer sehr bedauert habe."

    Ein Turm ist wie der andere. Diese Erkenntnis versöhnte Eryn wieder ein bisschen mit der Ungerechtigkeit der Welt, da er merkte, dass es anderen Magiern genauso erging wie ihm.

    „Nun, wenn dir die Zeit dafür bleibt, dann wirst du in der Garde eine Menge Männer für deine Forschungen finden", überlegte Meister Lionas und Kerven ergänzte diesen Gedankengang:

    „Genau, anstatt sie an den Pfahl zu schicken, müssen sie sich bei dir melden, damit du ihre fehlenden Zähne ersetzt. Das hätte sogar einen doppelten Nutzen. Schmerzen als Bestrafung und anschließend wieder ein ordentliches Gebiss, hahaha." Die anderen Magier am Tisch fanden diese Bemerkung ebenfalls witzig, doch Eryn entging es nicht, wie unsensibel diese Äußerung Meister Estrian vorkam. Daran wirst du dich mit der Zeit gewöhnen müssen, wenn du hier arbeitest. Allzu mitfühlend ist hier keiner.

    Sie kommt. Meister Raiden hatte gewusst, dass dies über kurz oder lang passieren würde. War es nicht das Natürlichste der Welt, dass eine Mutter ihren Sohn sehen wollte? Was sollte er sagen? Ein unangenehmes Gefühl machte sich breit, um nicht zu sagen, dass es Furcht war.

    Ich will sie nicht sehen. Und doch hatte er der Wache befohlen, sie hereinzubitten.

    Aber wie könnte ich es ihr verwehren. Er ist ihr Sohn genauso wie der meine. Als Myrne in der Tür stand, erschrak Prinz Raiden bei ihrem Anblick. Wie sehr sie gealtert ist. Die vielen Falten, und die Jahre haben ihre Schultern leicht gebeugt. In ihrem langen weißen Haar ist keine einzige braune Strähne mehr auszumachen. Seit Jahren waren die beiden kein Paar mehr und dennoch bestand da immer noch ein Band zwischen ihnen. Vielleicht musste ich sie verlassen, um nicht sehen zu müssen, wie sie alt wird. Es war besser so, rechtfertigte Prinz Raiden seine damalige Entscheidung wohl zum tausendsten Mal:

    „Komm herein, Myrne." Dabei überraschte es ihn selbst, wie ruhig seine Stimme klang.

    Ravenors Mutter trat ein paar Schritte nach vorne, dann neigte sie den Kopf: „Mein Prinz."

    Schon seit Langem hatte er sie aus seinem Leben ausgeschlossen und so war es nur billig, dass sie ihn grüßte, wie jeder seiner anderen Untertanen auch. Doch dann hob sie den Blick und ihre Augen hielten den seinen stand. Schlimmer noch, sie schienen bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können – auch ohne Magie. Um sicher zu gehen, hätte er ihre Gedanken lesen können, doch er fürchtete sich vor den Anklagen darin. Zuerst Argon und jetzt Ravenor. Verdammt, es ist nicht meine Schuld. Und er ist auch nicht tot. Er schläft nur. Er schläft nur etwas und … bald wacht er wieder auf.

    Dann brach sie das drückende Schweigen: „Ich möchte ihn sehen."

    „Er ruht in einem Zimmer, oben im Turm. Man wird dich zu ihm bringen. Wie kalt und herzlos das klang, doch in Raidens Innerstem tobten die Gefühle wie ein Orkan. Mühsam versuchte er die unnahbare Würde eines Souveräns aufrechtzuerhalten. Sie nickte nur stumm und er war froh, dass der Soldat, den er gerufen hatte, gerade den Raum betrat. Er bedachte den Mann mit einer knappen Anweisung und wandte sich dann an die Frau, die er einst so geliebt hatte: „Der Soldat wird dich zu ihm bringen und dann wieder nach draußen. Ich selbst werde nicht mehr hier sein. Die Amtsgeschäfte rufen mich heute noch nach Arvon. Diese Lüge war so offensichtlich und er wusste, dass Myrne ihn sofort durchschaut hatte. Dennoch ließ sie sich nichts anmerken und verbeugte sich etwas steif, bevor sie sich mit fester Stimme verabschiedete: „Mein Prinz."

    Sie hatten kein Wort mehr als nötig gewechselt, dennoch war Raiden unglaublich aufgewühlt.

    Sein Tod hätte nicht schlimmer sein können. Nun liegt er dort als Mahnmal für alle Zeit. Und sie weiß es. Sie hat immer gewusst, was ich fühle und denke. Darum war sie die gefährlichste von allen.

    Nun schämte sich Raiden für seine so durchschaubare Ausrede, um Myrne nachher nicht noch einmal in die Augen sehen zu müssen. Ich halte das hier nicht mehr aus. Ich muss hier weg.

    Doch jetzt einfach so wegzurennen, war nicht seine Art. Er brauchte einen Grund. Einen wahren Grund. Nicht so sehr für die anderen, als vielmehr eine Ausrede vor sich selbst. Da fiel sein Blick auf das Schmuckkästchen mit dem Armband und beherzt griff er danach, wie ein Ertrinkender nach dem rettenden Seil.

    Es kann nicht noch schlimmer werden. Bevor er durch das Tor nach Arvon ging, holte er sich noch ein paar wichtige Zutaten aus seinem Labor. Erst als er im Palast herauskam, atmete er erleichtert auf und seine Anspannung ließ etwas nach. Ich brauche einfach etwas Abstand. Nur ein paar Tage weg von Naganor – bis ich wieder klar denken kann. Ravenor ist ein großer Verlust, doch er kann nicht ewig seinen Schatten über meine Seele werfen. Ja, Abstand wird mir guttun.

    Aber seinen Turm derweil ohne kundige Führung zu lassen, widerstrebte ihm, und so beorderte er als Nächstes Meister Eriwen telepathisch dorthin, bis er selbst geruhen würde, nach Naganor zurückzukehren. Dann suchte er in der Hauptstadt Meister Werge auf und erkundigte sich, was es denn Neues gäbe. Ein weiteres Alibi, um sein Gewissen zu beruhigen. Wie immer schien die Welt für Meister Werge nur aus Zahlen zu bestehen und er traktierte Prinz Raiden unermüdlich mit seinen unzähligen Aufstellungen. Manche waren ganz interessant, doch nach drei geschlagenen Stunden hatte der Prinz genug davon und zog sich in seine Gemächer zurück. Diese Zimmer wurden im Palast stets für ihn bezugsfertig bereitgehalten.

    Die Nacht bescherte ihm gleich mehrere Albträume und er stand früh auf, da ihm die Lust am Schlafen gänzlich vergangen war. Die kleine Schatulle stand auf dem Tisch, dort, wo er sie zusammen mit den anderen Dingen hingestellt hatte, und schien ihn anklagend anzusehen.

    Ja, schon gut. Heute bist du dran. Ich tue das wegen Danian. Er würde es wollen. Nicht, weil ich noch eine Tote mehr aus meiner Familie begraben möchte.

    Auch im Keller des Palastes gab es ein Labor, welches sich Meister Raiden in den letzten Jahren sogar hatte ausbauen lassen. Allerdings benutzte er es kaum. Nur jetzt kam es ihm gelegen und nach einem ausgiebigen Frühstück verzog er sich dort hinunter. Dabei erteilte er strikte Anweisungen, dass ihn keiner stören möge, bevor er dann begann das Ritual vorzubereiten. Wie gerne hätte er sich all die freudigen Erinnerungen von früher angesehen, doch er wollte nicht riskieren, dass die Kraft der Kette versagte, bevor er an die entscheidenden Informationen gelangt war. Also sprang er zurück zu Danians Todestag. Jener unsäglichen Mordnacht, in deren Folge Ardeen fast in den Abgrund gerissen worden war. Er sah, wie Ysil im schrecklichen Wissen, dass die Mörder hinter ihr waren, versuchte, Elfi zu retten. Und noch einmal hörte er es mit Elfis Ohren:

    „Egmond Orten hat Vater getötet. Du musst leben. Versteck dich gut und traue keinem. Gib dich als Magd aus. Und nun nimm den geheimen Fluchttunnel im Schrank. Mami liebt dich. Bitte …"

    Dann wurde sie in den Schrank gestoßen und die Tür schloss sich von außen. Elfi rief ängstlich nach ihrer Mutter und deren Stimme drang etwas gedämpft durch die Schranktür. Sie beschwor Elfi erneut eindringlich: „Du musst jetzt gehen. Bitte Elfi, du musst gehen! Sonst ist alles vergebens."

    Aber immer noch verharrte Elfi, zusammengekauert und vor Angst unfähig, sich zu bewegen. Komm schon. Lauf! Dann hörte man einen lauten Schlag von draußen und endlich fiel die Starre von Elfrey ab. Mit zitternden Händen öffnete sie die Holzvertäfelung und verschwand in dem dunklen Loch dahinter, während Federn die Vertäfelung wieder an ihrem Platz zogen. Der kurze Gang endete an einem Tunnelstein und der brachte Elfrey umgehend vor die Tore der Stadt. Dort befand sich eine kleine Station, in der Meldereiter ihre Pferde wechseln konnten. Diese Stallung betreute ein alter Veteran, der schon unter König Tarn gedient hatte und der Danians absolutes Vertrauen genoss. Der Mann war damals schon ziemlich alt und sah nur mehr sehr schlecht, doch er konnte Geheimnisse für sich bewahren. Und vor allem würde keiner vermuten, dass dieser alte Mann überhaupt Geheimnisse hatte. Außer ihm wusste nur die königliche Familie von dem Fluchttunnel. Auch Elfi musste schon einmal hier gewesen sein, denn sie kannte sich in dem Gebäude aus. Raiden hörte, wie ihr Herz immer noch wild in ihrer Brust klopfte und wie sie weinte. Doch trotz der Tränen, die ihren Blick trübten, handelte sie überlegt. Gut, Liebes. Du machst das genau richtig.

    Sie ging zu dem groben Schrank, den man im fahlen Licht des Mondes als schwarzen Schatten ausmachen konnte. Darin lag einfache Kleidung bereit und sie zog mehrere Stücke heraus. Eine Männerhose und einen viel zu großen Mantel. Schließlich hatte sie bei dem schlechten Licht doch noch etwas gefunden, was ihr passen könnte. Sie schlüpfte in eine kürzere Hose. Nahm sich ein Hemd, eine Jacke und einen Mantel. Irgendwo im unteren Fach lagen Stiefel. Sie tastete nach den kleineren mit dem Fellbesatz und fand sie auf Anhieb. Sie kennt sich aus. Hoffentlich findet Egmond ihre Fährte nicht. Dann korrigierte Raiden sich selbst, denn er kannte ja noch weitere Teile der Geschichte. Nein, hat er mit Sicherheit nicht, denn sie ist ja noch auf diesen verdammten Gelderonabschaum getroffen. Nun erlebte er aus Elfreys Sicht, wie sie zunächst nach dem alten Mann suchte, doch der war nirgends aufzufinden.

    Wahrscheinlich ist er in die Kneipe gegangen.

    Sie lief hinunter in den Stall und entzündete dort eine kleine Lampe. Dabei stieß sie eine Mistgabel um, die scheppernd zu Boden fiel. Die Pferde wurden unruhig, da sie aus ihrem Schlaf aufgeschreckt wurden und Elfi verharrte reglos, bis sich die Pferde wieder beruhigt hatten. Die Lampe hängte sie an einen Haken gleich am ersten Stall und öffnete die Box. Das Pferd hatte sich nicht hingelegt, sondern stand da und sah ihr mit schläfrigen Augen entgegen. Leise sprach sie auf das Tier ein, damit es ruhig blieb und die anderen nicht wieder aufschreckte. Dann streifte sie ihm die Trense über die Ohren und hob mühsam den Sattel auf den Rücken des Tieres. Beides hatte sie gleich draußen neben der Box gefunden. Sie griff sich eine dicke Pferdedecke und band sie mit einem Seil notdürftig zusammen, um sie besser mitnehmen zu können. Anschließend führte sie das Tier nach draußen und schwang sich in den Sattel. So schnell sie sich bei dem fahlen Licht getraute, ritt sie nun die Straße entlang, die von Arvon wegführte. Als sie nach einer Weile einen Blick über die Schulter zurückwarf, verschwanden die Lichter der Stadt bereits hinter dem Hügel.

    Wie lange wird sie unterwegs gewesen sein, bevor sie auf die Halunken gestoßen ist?

    Nun galt es aufzupassen. Wohin war Elfi letztendlich geritten? Raiden kannte die Straße, der sie nun folgte. Er sprang in der Zeit vorwärts. Zunächst in kleinen Schritten, um nichts zu übersehen. Doch er musste sich auch beeilen, denn wie lange ihm die Kette noch ihre Geheimnisse offenbaren würde, war schwer zu sagen. Als der neue Tag zu dämmern begann, wurde es mit der Orientierung leichter – zumindest für Meister Raiden. Elfrey jedoch schien bald nicht mehr zu wissen, wo sie war. An der nächsten Wegkreuzung schlug sie prompt den falschen Weg ein und ritt in Richtung Nordost, anstelle sich nach Westen zu wenden.

    Ysil wollte sie nach Naganor schicken, damit sie in Sicherheit ist. Doch Elfi war bisher noch nie sehr weit vom Palast in Arvon entfernt gewesen. Sie kennt sich auf dem Land überhaupt nicht aus. Elfi, das ist der falsche Weg.

    Aber anstatt ihren Irrtum zu erkennen, schwenkte sie nur noch mehr nach Osten ab. Es musste bereits gegen Mittag sein, als sie über eine Wiese ritt und an einem Apfelbaum vorbeikam. Sie pflückte sich so viele der Früchte, wie sie in ihren Taschen verstauen konnte. Da tauchte plötzlich ein Mann auf dem nahen vorbeiführenden Weg auf und rief sie an. Offensichtlich war er ein Bauer aus der Gegend. Doch Elfrey bekam es mit der Angst zu tun. Woher sollte sie auch wissen, wem sie jetzt noch vertrauen konnte und wem nicht. Schnell schwang sie sich in den Sattel und trieb das Tier zum Galopp an. Sie wandte sich querfeldein, denn offensichtlich hatte sie beschlossen, die Straßen von nun an zu meiden. Ihr Weg führte nun über abgelegene Wiesen und lichte Wälder, weshalb auch Meister Raiden bald nicht mehr wusste, wo sie sich gerade befand. Doch ein Kristall zeichnete vorsichtshalber die Bilder aus der Vergangenheit auf und Prinz Raiden würde später genügend Zeit haben, um Elfis Weg in der Wirklichkeit nachvollziehen zu können.

    Prinz Raidens Befürchtung wuchs, dass die Bilder versiegen würden, bevor er an die Stelle kam, wo Elfi die Kette verloren hatte und er vergrößerte die Zeitsprünge, um möglichst viele Eindrücke zu erhalten. In diesem Szenario hatte seine Nichte eine Rast eingelegt und tränkte das Pferd. Anschließend ließ sie es grasen, bevor sie das Tier an einem Baum festband und sich selbst für ein paar Stunden zum Schlafen hinlegte. Als sie wieder erwachte, da war das Pferd samt Halfter verschwunden. Offensichtlich hatte es sich befreien können und war dann einfach davongelaufen. Die Panik, dass sie nun ganz alleine war, übermannte Elfi, und sie begann in ihrer Verzweiflung zu weinen. Meister Raiden hörte ihr Schluchzen und da er die Bilder durch ihre Augen sah, wurden diese durch die Tränen verschwommen. Suchend lief sie nun hin und her und das Glück war ihr gewogen. Der Strick, der immer noch vom Halfter baumelte, hatte sich in einem Geäst verfangen und das Pferd war somit nicht allzu weit gekommen. Nachdem Elfi das Tier wieder eingefangen hatte, beruhigte sie sich wieder etwas. Sie führte es zum Lagerplatz zurück und sattelte es dort, dann brach sie auf.

    Die Landschaft ließ keine markanten Punkte erkennen, sondern zeigte die typische sanfte Hügelform, wie sie in ganz Ardeen vorherrschte.

    Das kann überall sein. Komm schon. Ich brauche eine Wegkreuzung, einen Rundumblick von einer Anhöhe, ein Bauwerk – kurzum irgendetwas, wodurch ich ihre genaue Position bestimmen kann.

    Aber immer öfter hielt Elfi den Blick müde auf den Hals des Pferdes gerichtet und sie sah nur mehr selten auf. Fast schien es, als bestimme das Tier inzwischen die Richtung, in die es vorwärts ging, und weniger die Reiterin, die das Pferd nur antrieb, damit es nicht stehen blieb.

    Sie ist erschöpft. Ist auch kein Wunder. Sie ist jung und Strapazen dieser Art nicht gewöhnt. Dazu hat sie nichts gegessen außer ein paar Äpfeln. Elfi, wie gerne würde ich dir jetzt helfen. Hätte mich der verfluchte Elderon nicht in Aleroth festgehalten, dann wäre all dies niemals passiert.

    Nach einem sanften Aufstieg erreichte Elfi die Kuppe eines Hügels und vor ihren Augen erstreckten sich Wiesen und Felder. In einiger Entfernung konnte man eine Stadt ausmachen, deren Wahrzeichen Meister Raiden gut bekannt waren. Urus. Sie ist südlich von Urus.

    Das Pferd war stehen geblieben und Elfi sah direkt hinüber zur Stadt. Dort konnte man vor den Mauern viele Zelte ausmachen. Sind das unsere Truppen oder Männer Gelderons?,überlegte Meister Raiden und dasselbe schien sich Elfi auch gerade zu fragen. Als ob er sie beeinflussen könne, dachte Meister Raiden mitfiebernd: Reite näher heran, dann wird sich zeigen, mit wem wir es hier zu tun haben. Doch Elfrey entschied sich anders. Sie wendete ihr Reittier und trieb es in westlicher Richtung davon. Zumindest ist sie nun auf dem richtigen Weg. Diese Erkenntnis ließ in Prinz Raiden kurz einen Hoffnungsschimmer aufkeimen. Aber dann drängte er diesen wieder beiseite, wusste er doch nur zu gut, dass sie nie in Naganor angekommen war.

    Elfrey stieß auf eine breitere, befestigte Straße und trieb ihr Pferd sogleich zu einer schnelleren Gangart an, um sofort wieder im Schutz der Bäume eines Waldes unterzutauchen.

    Sie meidet die Siedlungen. Dabei ist sie schon ziemlich erschöpft und ihr Pferd kaum weniger.

    Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange und Elfi gönnte sich und dem Tier eine Ruhepause. Diesmal band sie das Pferd besser fest als in der Nacht zuvor. Ihr Lager hatte sie am Ufer eines kleinen Baches gewählt. Dessen klares Wasser stillte den Durst und es gab reichlich saftiges Gras für das Pferd. Doch für sich selbst fand Elfi nur ein paar Beeren als Mahlzeit. Was wusste eine Königstochter schon vom Fischfang und welche Kräuter, Wurzeln und Beeren essbar waren. Nur die Brombeeren kannte sie, die es auch im Garten des Palastes gab. Meister Raiden litt mit seiner Nichte, doch er war dazu verdammt, nichts weiter als ein Zuschauer der vergangenen Ereignisse zu sein. Und langsam wurde er sehr unruhig. Wie viel Zeit bleibt mir noch, bevor die Magie versiegt?

    Meister Raiden beschloss, nun umgehend nach dem Zeitpunkt zu suchen, an dem Elfi die Kette verloren hatte. Tageweise sprang er voran. Einen Tag, zwei Tage, und plötzlich war das Bild eingefroren. Und auch die Wahrnehmung hatte sich verändert. Das war immer so, wenn man nicht mehr durch die Augen einer Person blickte, sondern die Umgebung nur noch durch den Gegenstand selbst wahrnahm. Die Kette lag offensichtlich irgendwo auf dem Waldboden, denn sie zeigte kein besonders umfangreiches Bild. Lediglich ein paar Blätter, die Rinde eines Baumes und ein Stück Stoff. Aber es gab Geräusche und Meister Raiden lauschte angestrengt. Da war ganz in der Nähe Elfis leises Weinen und etwas weiter weg die gröhlenden Stimmen mehrerer Männer.

    „Hoch lebe Sir Gandrikon. Der hat es der Ardeenschlampe so richtig besorgt."

    „Ja, und nun sollten wir ihr zeigen, dass es noch mehr Schwänze in Gelderon gibt. Jeder einzelne von uns ist besser als diese Waschlappen aus Ardeen!"

    „Wie schnell wir sie aus Urus vertrieben haben und als Nächstes ziehen wir gegen Arvon. Wenn ihre Hauptstadt fällt, dann ist Ardeen ein für alle Mal Geschichte."

    Diese lockeren Reden brachten Meister Raidens Blut zum Kochen, trotzdem hörte er weiter zu und nun erkannte er Gandrikons Stimme, wie er versuchte, die Männer zur Vernunft zu bringen:

    „Ihr werdet sie in Ruhe lassen." Doch die junge Stimme klang viel zu unsicher und zögerlich und prompt begehrten die Männer auf.

    „Was ist schon dabei, wenn wir sie auch durchvögeln?"

    Nun wurde Gandrikons Stimme schärfer: „Das ist ein Befehl. Reißen Sie sich zusammen, Soldat, und vergessen Sie nicht, mit wem Sie sprechen. Die Kleine gehört mir. Mir ganz alleine."

    „Jawohl, Sir Gandrikon", kam es unwillig zurück. Dann herrschte kurz ein drückendes Schweigen.

    Viel halten sie nicht von ihm. Ich muss mehr von der Gegend sehen, damit ich den Ort wiederfinden kann. Vor oder zurück? Ich will mir nicht ansehen, wie sie Elfi Gewalt antun. Also vor, bis Gandrikon die Kette an sich nimmt.

    Eine halbe Stunde vorwärts lag die Kette immer noch an Ort und Stelle und gerade murrte einer der Männer leise in der Nähe: „Hätte nicht gedacht, dass der Kleine die Eier dafür hat. Der ist doch noch grün hinter den Ohren. Man hörte auch ein unmissverständliches Plätschern, während ein anderer antwortete: „Aber uns hätte er den Spaß wirklich gönnen können. Plustert sich auf wie ein Pfau. Ich hätte nicht übel Lust, es trotzdem zu tun. Eine schöne kleine Möse …

    „Vergiss es lieber. Der kleine Wichtigtuer ist trotz allem ein Offizier und er hat uns einen Befehl gegeben. In Kriegszeiten fackelt man nicht lange, wenn er uns drankriegt."

    „Und wenn er in dem tiefen Wald hier verlustig geht?" Das Plätschern hörte auf, dafür begann Elfi leise vor sich hin zu wimmern. Dann hörte man wieder die Stimme des ersten Mannes:

    „Das habe ich nicht gehört und du denkst besser auch nicht länger darüber nach, wenn dir dein Leben lieb ist."

    Als Antwort darauf hörte man ein missbilligendes Brummen, dann ertönte der Klang sich entfernender Schritte.

    Raiden, was hörst du dir diesen verdammten Mist überhaupt an? Suche besser Informationen. Und er gab einen weiteren Tag dazu und landete in vollständiger Dunkelheit.

    Hä? Natürlich. Gandrikon wird das Armband in eine Tasche gesteckt haben. Ich Trottel, ein Mann trägt so etwas doch nicht am Handgelenk. Um durch die Augen eines Menschen sehen zu können, musste jener den besagten Gegenstand offen und möglichst auf der blanken Haut tragen. War der Gegenstand verdeckt, so war es auch die Sicht. Lag Stoff dazwischen, so nahm der Gegenstand die Essenz des Trägers viel langsamer in sich auf.

    Also schnell zurück. Diesmal platzte Meister Raiden genau in die Szene, die er sich am liebsten erspart hätte. Elfi schrie, aufgeheizte Männerstimmen grölten und das noch sehr jugendliche Gesicht Gandrikons befand sich groß und überaus nah vor ihm, dabei flüsterte der junge Mann:

    „Bitte, ich will dir nicht wehtun."

    Was denkst du, was du da gerade tust!, dachte Meister Raiden wütend und sprang eine Stunde

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