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Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind)
Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind)
Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind)
Ebook393 pages5 hours

Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind)

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About this ebook

In Prag soll sich das Schicksal der Gräfin Christine von Lindau erfüllen. Sie befindet sich in der Gewalt ihrer Häscher, die ihr Leben bedrohen. Eilt Henry ihr zur Hilfe, oder hat er endgültig Christine den Rücken gekehrt und überlässt sie ihrem Schicksal?
Derweil wird Luise von Lord Andrews gefangengehalten und wird einmal mehr zum Spielball politischer Intrigen.
Luise, verwirrt von den Einflüsterungen des englischen Lords, sieht in Kaiser Wilhelm II. ihren ärgsten Feind. Bei einem Familientreffen der Hohenzollern auf Schloss Sigmaringen soll er durch einen Giftanschlag sterben. Wird Luise diesen Mord begehen?

Band 3 der Kaiser-Trilogie
LanguageDeutsch
Release dateOct 7, 2018
ISBN9783944879635
Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind)

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    Kaiserfeind (Kaiser Trilogie / Kaiserfeind) - Swetlana Neumann

    angebrochen!

    Waffenstillstand

    1893

    Da liegt er, Edward der Dieb. In meinem Haus, dem Tode näher als dem Leben! Hätte ich ihn dort, im blutigen Schnee, liegen lassen sollen? Es hätte wohl niemanden interessiert. Am nächsten Morgen wäre er nicht mehr da gewesen, fortgeschafft von seinesgleichen und schnell vergessen. Doch ich habe ihn gerettet, habe ihn in mein Haus getragen. Großmutter hatte das Bett schon vorbereitet, bevor ich mich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte. Sie kennt mich wohl besser als ich selbst.

    Edward, ein Konkurrent, wo es zwischen uns doch keine Konkurrenz geben sollte. Ich mag Elisabeth mehr, als ich es dürfte. Wer ist diese Frau? Heißt sie wirklich Luise? Warum ist sie für Lord Andrews nur so wichtig? Und warum kam Edward ihr zu Hilfe? Doch nein … ich sollte mir besser die Frage stellen, warum statt seiner nicht ich ihr zu Hilfe kam! Doch diesen Fehler werde ich auszubügeln verstehen, und Edward wird mir dabei helfen. Ob er will oder nicht.

    Was soll ich nur tun?«, fragte Charlie den bewusstlosen Edward. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte laut, das Feuer, das im Kamin prasselte, verbreitete behagliche Wärme. Es war ein Uhr nachts, eine Zeit, zu der Charlie eigentlich in seinem bequemen Bett schlafen sollte. Aber das tat er nicht, denn Nacht um Nacht saß er an Edwards Bett, der nur selten erwachte. Dann flößte Charlie ihm etwas Suppe ein, damit der Verletzte nicht verhungerte.

    Der Dieb antwortete ihm sogar. Charlie hörte die Worte jedoch in seinem Kopf. Es waren die Worte, die Edward vor ein paar Tagen gesagt und die Charlie zutiefst verunsichert hatten: »Luise gehört zu mir.«

    Er legte den Kopf schräg und beobachtete den Dieb. »Tut sie das?«, fragte er leise. »Warum gehört sie zu dir? Was hast du mit ihr zu schaffen? Was weißt du von ihr?« Fragen über Fragen, auf die er jetzt keine Antworten erhalten würde.

    Der eiligst herbeigerufene Arzt hatte Edward das Leben gerettet. Nur eine Stunde später wäre er vermutlich verblutet gewesen. In einer Notoperation wurde er mühsam wieder zusammengeflickt. Nach der Operation hätte er eigentlich im Hospital bleiben sollen, doch das unterband Charlie. Er vermutete, dass man dem Dieb weiter nach dem Leben trachtete. Deshalb ließ er ihn in sein Haus bringen, wo er ihn beschützen und bewachen konnte.

    Die Tür zum Gästezimmer öffnete sich lautlos, als Misses Dorrington eintrat. Sie ging an Edwards Bett und legte den Kopf schräg, ganz wie Charlie es zuvor auch getan hatte.

    »Er wird es überleben. Sieht doch schon wieder ganz passabel aus, der Schlingel«, urteilte sie mit krächzender Stimme. Sie ging an ihrem Enkel vorbei und ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder, der in dem kleinen Zimmer stand. Mehr als einen Schrank, ein Bett sowie einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen gab es hier nicht. Das Stadthaus der Familie Dorrington war nicht sehr groß. Es diente im Grunde nur der Großmutter als Wohnstatt, auch wenn Charlie sich in letzter Zeit mehr hier aufhielt als auf dem Anwesen seines Vaters, das sich am Rande Londons befand.

    »Du hast dich nicht mit Ruhm bekleckert, Charlie!« Seine Großmutter riss ihn aus seinen Gedanken. »Warum hast du Elisabeth nicht geholfen?« Charlie sah sie ärgerlich an. »Wieso bist du überhaupt hier und schläfst nicht?«, fuhr er sie an. »Du solltest dich nicht in meine Angelegenheiten einmischen«, wies er sie zurecht. Der Konter der Alten folgte auf dem Fuße.

    »Charlie Jean Dorrington, du wirst nicht in diesem Ton mit mir reden«, echauffierte sich die betagte Hausherrin mit energischer, kraftvoller Stimme. Jetzt war nichts mehr von der alten, schwachen Frau zu hören oder zu sehen, die sich kaum selbst auf den Beinen halten konnte.

    Beschwichtigend hob Charlie die Hände. Er wusste, wenn er seiner Großmutter nicht gehorchte, würde sie ihn aus dem Haus werfen.

    »Verzeih mir bitte, es ist spät, und ich bin längst übermüdet.«

    »Dann solltest du ausruhen. Ich werde mich derweil um unseren Gast kümmern«, beschloss seine Großmutter. Charlie war schlau genug, jetzt keine Einwände zu erheben, auch wenn er Edward nicht als Gast ansah, sondern vielmehr als einen Eindringling.

    Er stand auf und verließ das Gästezimmer mit hängenden Schultern. Würde er überhaupt in den Schlaf finden, nachdem so viel geschehen war? Er hatte das Gefühl, als ob Tausende kleine Männchen in seinem Kopf wären, die alle munter durcheinanderredeten. Jedes Einzelne von ihnen buhlte dabei um seine ganze Aufmerksamkeit. Wie sollte er da schlafen können? Nacht für Nacht kamen diese Stimmen, die ihn quälten.

    Langsam betrat er sein Schlafzimmer, zog sich aus und legte sich zu Bett. Wieder dachte er an Elisabeth, sah ihren hilfesuchenden Blick.

    »Ich hätte sie retten sollen«, sagte er zu sich selbst und war bereits im nächsten Moment vollkommen erschöpft eingeschlafen.

    »Er ist da drin«, zischte Emma Richard an. Sie ging in dem kleinen Zimmer in der Commercial Street auf und ab wie ein Tier im Käfig, während sie wütend an ihren schwarzen Zöpfen zerrte. Richards eisblaue Augen beobachteten sie, doch gleich darauf sprang sein Blick zu Michael.

    »Edward geht es den Umständen entsprechend gewiss gut.« Mit diesen Worten wollte Michael sie beruhigen. »Du hast selbst gesagt, dass ein Arzt gerufen wurde. Da unser Freund immer noch in dem Haus ist, scheint er bisher auch nicht gestorben zu sein.« Emma wirbelte zu Michael herum.

    »Edward scheint dir völlig egal zu sein! Seit Tagen ist er nun schon bei dem Dorrington! Wir hätten ihn aus dem Hospital holen sollen, als er noch unbewacht war«, beschwerte sie sich und sah zu Richard. »Sag doch auch mal was! Wir müssen da rein und Edward rausholen!«

    Richard seufzte schwer. Er war müde, denn auch er schlief seit Tagen nicht gut, weil die Sorgen um seinen Freund ihn wachhielten.

    »Wir sollten besonnen vorgehen und nicht voranpreschen«, schlug er Emma vor. »Geh schlafen, du bist nämlich nicht besonders gut zu ertragen, wenn du übermüdet bist. Michael und ich werden das Haus der alten Dorrington genauer ausspähen und Edward suchen. Danach kommen wir wieder her und werden uns gemeinsam überlegen, was wir machen können.«

    Noch bevor Richard ausgesprochen hatte, schüttelte Emma energisch den Kopf. Doch als sie den Mund für ihren Widerspruch öffnete, stand Michael auf, packte sie am Arm und zerrte sie zum Bett.

    »Leg dich hin und schlaf! Wir gehen und sehen nach Edward.« Sein Blick sprach Bände. Er duldete nicht das geringste Widerwort. Emma schloss ihren Mund, legte sich aufs Bett und deckte sich zu.

    Richard und Michael verließen das kleine Zimmer. Gleich darauf standen sie auf der Straße. Als Michael die Tür geschlossen hatte, sah er seinen Freund an.

    »Was meinst du, lebt Edward noch?«

    »Ja! Edward bringt so schnell nichts um. Wir müssen nur herausfinden, was der Dorrington von ihm will und warum er einen Arzt für ihn geholt hat«, antwortete Richard mit Überzeugung in der Stimme.

    »Vielleicht hat Dorrington ja ein gutes Herz?«, mutmaßte Michael und setzte sich in Bewegung. Richard folgte ihm. Es war noch dunkel. Aufgrund des Schneefalls war jetzt kaum ein Mensch auf der Straße unterwegs. Das geschäftige Treiben hatte einen Dämpfer erhalten, deshalb verließen nur die Leute ihr Haus, die dringende Geschäfte hinaustrieben.

    »Nicht ein Mensch, der in diesem Stadtviertel wohnt, hat ein gutes Herz«, widersprach Richard. Der Schnee unter seinen Schuhen knirschte bei jedem Schritt, die Kälte kroch bereits durch seine dünne Jacke. Es hatte zwar aufgehört zu schneien, doch die bissige Kälte war geblieben. So sehr Luise den Winter und vor allem den Schnee mochte, so sehr hasste Richard beides.

    »Die alte Misses Dorrington aber schon«, erklärte Michael und berief sich auf Luises Berichte.

    »Die scheint auch verrückt zu sein«, hielt Richard dagegen. »Doch nun komm, ich will bald wieder aus der Kälte raus!« Er beschleunigte seine Schritte, Michael folgte ihm stumm. Eine Weile verging, während das geschäftige Treiben Londons langsam einsetzte. Aus einem Geschäft für Herrenmode stahl Richard für Michael und sich je einen Mantel, damit sie mit ihrer verschlissenen Kleidung in diesem gehobenen Viertel nicht auffielen. Immerhin waren hier auch etliche Bobbies unterwegs, die nach »arbeitsscheuem Gesindel« Ausschau hielten. Tatsächlich waren die beiden schon oft so genannt worden.

    Endlich erreichten sie das Stadthaus der Dorringtons. Vom blutigen Schnee, in dem Edward gelegen hatte, war nichts mehr zu sehen.

    Edward war nicht allein zu Luise gegangen. Seine Freunde waren ihm gefolgt, nur nicht sofort. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass er Probleme bekommen würde. Doch als sie das Haus der Dorringtons erreichten, lag Edward bereits im blutigen Schnee und rührte sich nicht mehr. Luise war ebenfalls bewusstlos und wurde von einem Schwarzmantel in eine Kutsche gebracht. Als Richard zu Edward flitzen wollte, hielt Michael ihn zurück. Die Schüsse hatten die Bewohner der Straße aufgeschreckt, Türen wurden aufgerissen. Charlie Dorrington hatte sich mit ein paar Männern unterhalten, die Edward schließlich aufhoben und in Dorringtons Stadthaus brachten.

    Nun standen die beiden Freunde wieder vor demselben Haus. Sie näherten sich ihm langsam und versuchten, durch die Fenster im Parterre zu spähen. Doch dicke Vorhänge schützten die Bewohner vor allzu neugierigen Blicken. Vielleicht hatte Emma recht und sie hätten Edward aus dem Hospital holen sollen? Doch Richard wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.

    »Wir sollten zum Angriff übergehen«, befand Richard. Bevor Michael fragen konnte, was er damit meinte, stieg sein Freund die wenigen Stufen zur Haustür hinauf und klopfte energisch an. Nichts geschah. Er klopfte erneut, laut und fordernd, sodass sogar die vorbeieilenden Passanten sich neugierig umdrehten.

    »Richard, wir sollten besser von hier verschwinden und eine andere Möglichkeit suchen.« Michael zerrte an Richards Mantel und beobachtete dabei die Passanten. Plötzlich kam ein Bobbie um die Ecke, der genau auf sie zusteuerte. Er ging gemächlichen Schrittes, also hatte er die beiden noch nicht entdeckt. Das sollte auch so bleiben.

    »Richard«, zischte Michael erneut, »komm endlich …!«

    Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. Charlie starrte die beiden ärgerlich an. Bevor er jedoch einen Ton sagen konnte, drängte Richard ihn rückwärts ins Haus. Michael musste den beiden notgedrungen folgen und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

    »Was erlauben Sie sich?«, ereiferte sich Charlie und wollte sich aus Richards Griff befreien. Doch der junge Mann hatte Dorringtons rechten Arm auf den Rücken gebogen, wo er ihn eisern festhielt.

    »Wo ist Edward?«, wollte Richard wissen. Michael baute sich drohend vor Charlie auf. Er wiederholte die Frage seines Freundes, nachdem der Hausherr nicht sofort reagiert hatte.

    »Guten Abend, meine Herren, bitte kommen Sie hier entlang«, erklang plötzlich eine Stimme aus dem dunklen Flur. Michael sah sich verwundert um. Eine alte Frau, die sich schwer auf einen Gehstock stützte, kam in sein Blickfeld. »Unser Gast wurde selbstredend im Gästezimmer einquartiert«, fuhr sie fort, als niemand reagierte.

    »Großmutter, ruf die Polizei!«, verlangte Charlie mit schriller Stimme. Dass er zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage angegriffen wurde, noch dazu in seinem eigenen Haus, ließ ihn fast panisch werden.

    »Das ist gewiss nicht notwendig, Charlie«, war Misses Dorrington sicher, die in den dunklen Flur deutete.

    »Die Herren befinden sich nur in großer Sorge um ihren Freund. Bitte dort entlang! Das Gästezimmer befindet sich am Ende des Korridors.« Die alte Dame lächelte, was die Panik in Charlie abebben ließ. Er wusste nicht warum, doch offenbar hatte seine Großmutter keine Angst vor den beiden Eindringlingen. Richard ließ Charlie los und ging an ihm vorbei.

    »Ich danke Ihnen«, sagte er zu der alten Dame, die ihm gnädig zunickte.

    »Sie sind Richard und Michael, nehme ich an?« Damit gab sie Wissen preis, das sie Luise zu verdanken hatte. Die beiden Männer waren sichtlich überrascht, dass die Hausherrin ihre Namen kannte. »Edward geht es den Umständen entsprechend gut. Er ist gerade wach«, fuhr die indessen fort. »Sie sollten ihn jedoch nicht allzu sehr aufregen. Später können Sie gern eine Tasse Tee mit mir einnehmen, wenn Sie es wünschen. Doch nun muss ich zum Bridge. Die Herren entschuldigen mich bitte!« Sie öffnete die Tür zum Salon, in dem sie schnell verschwand. Bevor sie die Tür schließen konnte, gelang es Richard, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Zu seinem Erstaunen konnte er darin keine weiteren Damen sehen. Doch gleich darauf hörte er eine durch die Tür gedämpfte Stimme. Es war, als würde Misses Dorrington sich im Salon mit jemandem unterhalten.

    »Verrückt!«, murmelte er und folgte Michael ins Gästezimmer. Charlie blieb allein im Flur zurück. Was sollte er von dieser Situation halten? Er wurde in seinem eigenen Haus angegriffen, und seine Großmutter lud die beiden zu einer Tasse Tee ein!? Wenn sein Vater davon erfuhr, würde er Großmutter gewiss von hier wegholen und in ein Sanatorium bringen lassen.

    »Und vielleicht ist das noch nicht einmal die schlechteste Idee«, überlegte er laut, bevor er den beiden Herren folgte.

    Als er das Gästezimmer betrat, saßen seine ungewollten Gäste bereits an Edwards Bett. Der hatte seine Augen geöffnet. Viel mehr deutete aber nicht darauf hin, dass er am Leben war. Seine dick bandagierte Brust hob und senkte sich kaum, seine Augen lagen tief in den dunklen Höhlen. Die schwarzen Augenringe sowie die kalkweiße, teils sogar graue Haut ließen ihn wie einen Untoten wirken.

    »Verschwindet sofort aus meinem Haus!« Während Charlie ein letztes Mal versuchte, den Hausherrn an den Tag zu legen, ignorierten ihn die beiden Gäste seiner Großmutter. Es war so still, wie es eigentlich nicht sein konnte, wenn vier Personen sich in einem kleinen Raum befinden. Das Feuer im Kamin war fast vollständig heruntergebrannt, ja, sogar die Uhr auf dem Kaminsims war stehengeblieben, als hielte sie den Atem an.

    Edward sah Charlie an, der noch immer in der Tür stand. Den Türknauf hielt er mit festem Griff, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Richard war aufgestanden. Er hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Er würde seinen Freund um jeden Preis beschützen.

    Gewalt lag in der Luft. Es war, als würde nur ein Fünkchen fehlen, damit es doch noch zur Explosion kam. Bevor das Unheil passieren konnte, meldete sich Edward zu Wort.

    »Danke«, brachte er mühsam hervor. Es war einem Flüstern gleich, das gar nicht recht über seine Lippen kommen wollte. Er war selbst überrascht, wie schwach und krächzend seine Stimme klang. Ihm war, als wäre er schon seit Wochen an sein Krankenlager gefesselt. Wie viel Zeit war eigentlich vergangen, seit …

    Plötzlich fiel ihm der Grund wieder ein, aus dem er mehr tot als lebendig in einem fremden Bett lag. »Luise!«, stieß er mit rauer Kehle hervor. Er wollte sich hochstemmen, um Luise zu folgen, und ihr zu helfen. Hatten die Schwarzmäntel sie tatsächlich entführt, oder war Charlie dagegen eingeschritten?

    Richard wandte sich seinem Freund zu und drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder in die Kissen. Edward konnte sich dagegen nicht wehren, doch nun sah er fragend zu Charlie. Der ließ endlich den Türknauf los, doch er wich seinem Blick aus. Er wollte gehen, wollte sich nicht einer Anklage stellen, die er bereits selbst gegen sich gerichtet hatte.

    »Warte«, krächzte Edward. »Was ist passiert? Wo ist Luise?« Michael machte einen Schritt zu Charlie, als wenn er ihn daran hindern wollte, den Raum zu verlassen. Der Hausherr atmete tief durch. Einen weiteren Angriff auf seine Person würde er keinesfalls dulden. Er kam jetzt vollständig in den Raum herein und schloss die Tür hinter sich. Er lehnte sich gegen das Türblatt, die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, damit niemand sah, dass sie zitterten.

    Dann begann er zu erzählen. Er erzählte von der Minute an, in der er den Tumult auf der Straße vor seinem Haus mitbekommen hatte. Er ließ nicht das Geringste aus und erzählte bis zu dem Punkt, an dem Luise entführt worden war.

    »Warum hast du ihr nicht geholfen?«, wollte Edward leise wissen. »Hast Angst um dein Leben gehabt.« Er beantwortete seine Frage gleich selbst, und Charlie widersprach nicht. Edward hatte recht. Als der Dieb niedergeschossen worden war, hatte die Panik in Charlie die Oberhand gewonnen. Dazu kam die offene Drohung des Entführers, seinen Vater in Misskredit zu bringen. Es stimmte, dass wohl nur noch eine einzige Verfehlung genügen würde, damit das Ansehen seines Hauses derart ins Bodenlose sank, dass der Buckingham Palace ganz einfach gezwungen wäre, einen neuen Zeremonienmeister zu suchen. Das wiederum hätte für Charlies Vater den Niedergang seines Hauses und den endgültigen Ruin bedeutet.

    »Ich werde Elisabeth retten«, antwortete Charlie mit fester Stimme. Richard schnaubte, während Michael ungläubig den Kopf schüttelte. Nur Edward reagierte anders, als alle erwartet hatten.

    »Wie willst du das anstellen?«, wollte er wissen. »Wir wissen noch nicht einmal, wo sie ist und …« Er schluckte schwer, denn er wollte den Satz nicht beenden, um nur ja kein Unheil heraufzubeschwören.

    »Sie lebt bestimmt«, war Charlie sich sicher. »Ich habe bereits jemanden losgeschickt, nach ihr zu suchen.« Er stieß sich von der Tür ab und ging zum Fenster, um mit einem Ruck die Vorhänge zur Seite zu ziehen, die den Raum bisher in ein diffuses Zwielicht getaucht hatten. Bis vor fünf Minuten hatte er noch keinen Plan gehabt, ja, er war nicht einmal sicher gewesen, ob er überhaupt den Mut haben würde, sich gegen die Drohung zu wehren und die Frau zu retten, die er liebte. Als er nun diese Worte aussprach, waren sie eher an sich selbst als an andere gerichtet und mit jeder Silbe, die er aussprach, wuchs die Entschlossenheit in ihm.

    »Woher willst du das wissen?«, fragte Richard. »Es waren Schwarzmäntel, die Mary auf dem Gewissen haben. Warum sollten die ausgerechnet Luise am Leben lassen?« »Weil sie sich sehr viel Mühe damit gegeben haben, Elisabeth wohlbehalten einzufangen«, antwortete Charlie leise. Er sah auf die Straße hinaus, doch von seinem Kundschafter war noch nichts zu sehen.

    »Luise«, korrigierte Edward. »Ihr Name ist Luise.« Charlie nickte. Er erinnerte sich genau an die Nacht und auch daran, welcher Name gefallen war.

    »Wer ist Luise von Lindau?«, wollte er wissen. Der Name zupfte an einer Erinnerung, doch er konnte sie einfach nicht greifen.

    »Von Lindau?«, wiederholte Richard ratlos und sah von Charlie zu Edward. »Was ist das denn für ein komischer Name?«

    Edward schwieg. Aber er erkannte an Charlies Blick, dass der gewillt war nicht nachzugeben. Mit der Zunge fuhr er sich über die trockenen Lippen, um Zeit zu gewinnen. Charlie verstand, ging zum Tisch und nahm die Wasserkaraffe in die Hand. Er füllte ein Kristallglas, das er dem Kranken an die Lippen hielt.

    Der trank langsam, Schluck für Schluck, bis das Glas geleert war. Alsdann ließ er sich zurück in die Kissen sinken, atmete tief durch und begann, zu erzählen, was er von Luise von Lindau wusste.

    Anschließend waren nicht nur seine Freunde sprachlos, sondern auch Charlie. Elisabeth war eine deutsche Adelige, die von ihren eigenen Landsleuten gejagt wurde!

    »Auf jeden Fall hat sie etwas mit dem deutschen Kaiserhaus zu tun«, beendete Edward seine Erläuterungen. Seine Stimme war kaum noch zu verstehen. Das Gesagte hatte ihn körperlich und seelisch geschwächt. Die schwere Verletzung forderte ihren Tribut, das Fieber stieg jetzt mit neu entfachter Wut. Er spürte, wie seine Haut heiß und heißer wurde. Wie sollte er in diesem Zustand Luise zu Hilfe eilen?

    »Woher wollen Sie das wissen?«, bohrte Charlie nach.

    »Ich habe so meine Quellen«, antwortete der Dieb geheimnisvoll. Mehr wollte er über Luise nicht verraten. Sie hatte ihm ihre Herkunft im Vertrauen offenbart. Niemand musste wissen, wer ihre Eltern wirklich waren, solange das nicht unumgänglich war. Er hatte ihr damals nicht geglaubt, doch die Ereignisse der letzten Nacht hatten ihn eines Besseren belehrt.

    »Dieser Small, der Luise entführt hat, gehört zu Lord Andrews«, fuhr Charlie flüsternd fort und schloss die Augen. »Der Lord ist ein machtgieriger Mann, der über Leichen geht. Bei ihm wird Luise vermutlich sein.«

    »Aber warum lässt er Luise entführen?«, hakte Charlie nach und wollte Edward an die Schulter greifen. Doch der Kranke antwortete nicht mehr, nur seine Brust hob und senkte sich noch schwach. Er war eingeschlafen.

    »Das werden wir herausfinden«, antwortete Richard, der Charlie davon abhielt, seinen Freund zu stören. »Du hast davon gesprochen, dass du jemanden ausgeschickt hast, Luise zu suchen. Wer ist das?« Charlie wollte zuerst nicht darauf antworten, denn er ärgerte sich, dass die Diebe nicht die gesellschaftlichen Konventionen beachteten und ihn mit einer vertraulichen Anrede ansprachen. Doch er besann sich, denn jetzt war nicht der Zeitpunkt für eine Diskussion über den Stand der Einzelnen in der Gesellschaft.

    Charlie sah noch einmal zum schlafenden Edward. Von ihm würde er heute wohl keine Antwort mehr erhalten. Er drehte sich um und ging die wenigen Schritte zum Fenster. Als er auf die Straße blickte, erspähte er in der Tat seinen Gehilfen. Der lief gerade am Fenster vorbei und steuerte die Hauseingangstür an.

    »Er ist da«, sagte er, während er das Gästezimmer bereits verließ. Richard und Michael folgten ihm sofort. Sie durchquerten den Flur und blieben dicht hinter Charlie stehen, als der die Eingangstür erreichte. Als er die Tür öffnete, stand davor jedoch kein Mann! Richard war größer als Charlie, daher konnte er gut über dessen Schulter schauen. Nein, weit und breit kein Mann, kein Gehilfe! »Komm rein«, sagte Charlie und ging einen Schritt zur Seite. Richard zweifelte schon am Verstand ihres unfreiwilligen Gastgebers. Und das tat er erst recht, als er sah, mit wem der Hausherr sprach!

    Zeus trottete über den Teppich, auf dem er eine Spur aus Schneematsch hinterließ. Er lief an den Männern vorbei, bevor er etwa auf der Hälfte des Flurs stehenblieb. Nachdem er einen nach dem anderen kritisch beäugt hatte, setzte der Hund sich hin und putzte seine Pfoten, als wüsste er, dass die Hausherrin keinen Dreck duldete.

    »Hast du sie gefunden?«, wollte Charlie wissen, nachdem er die Tür geschlossen hatte, um den eisigen Wind auszusperren. Damit war die Dunkelheit wieder in den Flur zurückgekehrt, die nur von einem schwächlichen Kronleuchter ein wenig minimiert wurde.

    Der ist schon genauso verrückt wie seine Großmutter, dachte Richard. Allerdings begann er, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln, als der Border Terrier tatsächlich antwortete. Er bellte, stand auf und lief wieder zur Tür. Mit der rechten Pfote kratzte er daran, als wollte er verdeutlichen, dass er ihnen den Weg zeigen wollte.

    Das muss an diesem Haus liegen, mutmaßte Richard. Wenn ich hier nicht bald rauskomme, unterhalte ich mich auch noch mit einem Tier oder mit unsichtbaren Menschen. Sein Blick glitt zur Salontür, hinter der sich Misses Dorrington gerade wieder lautstark unterhielt.

    Charlie nahm seinen Mantel und seinen Bowler von der Garderobe und zog sich an.

    »Kommen Sie! Lassen Sie uns gemeinsam nach Elisabeth suchen!«, forderte er die beiden auf.

    »Luise«, korrigierte Richard. »Also gut, wir werden Luise gemeinsam befreien und anschließend Edward mitnehmen.«

    »Wenn Ihr Freund in diesem Zustand bewegt wird, bricht seine Wunde auf, und er stirbt. Wollen Sie das etwa?«, wollte Charlie wissen, während er die Tür öffnete. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern verließ das Haus. Draußen hielt er eine freie Kutsche an. Jetzt war keine Zeit, erst noch seine eigene einspannen zu lassen. Richard und Michael stiegen nach ihm in das Gefährt.

    »Folgen Sie diesem Hund!«, befahl er dem Kutscher, der ihn verständnislos anstarrte.

    »Haste etwa ’n Problem damit?«, wollte Richard wütend wissen. Er verließ die Kutsche und stieg zum Kutscher auf den Bock. »Nun mach schon!«

    Der Kutscher ließ die Zügel knallen und der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung. Die mit Eisen beschlagenen Räder rumpelten laut über das Kopfsteinpflaster. Richard hatte Mühe, den Hund im Auge zu behalten. Der war sehr schnell unterwegs und wich dem Verkehr auf der Straße leichtfüßig aus. Ganz so einfach war das mit der schweren Kutsche nicht. Zeus achtete jedoch darauf, dass sie ihm folgen konnten. Mitunter saß er seelenruhig auf der Straße und wartete. Dabei war er völlig unbeeindruckt von Pferdehufen, Kutschenrädern und Fußgängern, die an ihm vorbeieilten.

    Schließlich erreichten Sie ein Anwesen, das schon von Außen nichts Gutes verhieß. Vor dem großen schmiedeisernen Tor saß Zeus, der ihnen entgegensah. Sie waren angekommen. Charlie hatte recht mit seiner Vermutung, denn die Kutsche hielt vor Highton Hall. Michael wollte aussteigen, um sich das Anwesen näher anzuschauen, in dem Luise gefangen gehalten wurde. Doch Charlie hielt ihn zurück und gab dem Kutscher zu verstehen, wieder zurückzufahren. Richard verließ den Kutschbock und kam wieder zu ihnen in die Kabine.

    »Sie ist tatsächlich bei Lord Andrews«, sagte Charlie und beobachtete seine neuen Mitstreiter. Noch vor einem Tag hätte er es sich nicht träumen lassen, dass er mit zwei Dieben in einer fahrenden Kutsche einen Plan ausarbeiten würde, um einen der mächtigsten Lords und der einflussreichsten Männer des britischen Parlaments zu überfallen.

    »Wir sollten uns das Anwesen genau anschauen, Lord Andrews beschatten und herausfinden, wie viel Personal und wie viele Schwarzmäntel im Haus sind«, überlegte Richard laut. Er übernahm die Führungsrolle, wie es immer der Fall war, wenn Edward nicht da war. Charlie wollte dagegen aufbegehren, denn er wollte keinem Mann unterstellt sein, der als Dieb verrufen war. Doch schließlich besann er sich und nickte. Unter ihnen musste Waffenstillstand herrschen, sonst würden sie Elisabeth nicht retten und er seine Schuld nicht begleichen können.

    Luise, ermahnte er sich in Gedanken. Sie heißt Luise!

    Die ganze Fahrt über entwickelten sie nach und nach einen Plan, mit dessen Hilfe sie in das Haus gelangen und Luise finden wollten. Dabei mussten sie auf eine ganz bestimmte Frau setzen, die ihnen helfen sollte. Charlie sagte dem Kutscher, dass ihr Ziel nun die Commercial Street war.

    »Sind Sie sicher, Mister?«, wollte der Kutscher wissen. Immerhin gehörte diese Straße zum verrufenen East End, wohin kein Herr von Rang und Namen freiwillig ging.

    »Fahren Sie!«, befahl Charlie mit energischer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Der Kutscher gehorchte und lenkte die Kutsche in Richtung East End.

    Die sauberen, reich verzierten Häuser wichen und machten traurig wirkenden Häuserfronten Platz. Der weiße Schnee, der die mit Unrat übersäten Straßen gnädig überdeckt hatte, schmolz bereits und hinterließ eine graue Pampe. Männer und Frauen huschten in gebückter Haltung vorbei. Ihre mageren Leiber hatten sie notdürftig in alte Mäntel gehüllt. Alles in Charlie schrie danach, sofort wieder umzukehren. Die schwarzen Fenster in den Häusern blickten genauso leer auf die Straße wie die Augen der Passanten. Hier lebte Luise? Was musste sie verbrochen haben, um als Adelige in East End Unterschlupf suchen zu müssen?

    »Halt!«, rief Richard plötzlich. Sie waren an seinem Zuhause angekommen. Der Kutscher zügelte sein Pferd, die Kutsche blieb stehen.

    Michael und Richard stiegen vor einem halb verfallenen Haus aus. Zielstrebig öffnete Michael die Tür, hinter der sie beide verschwanden, während Charlie noch mit dem Kutscher sprach.

    »Warten Sie bitte hier«, verlangte er, doch der Kutscher schüttelte den Kopf und hielt ihm auffordernd seine Hand hin.

    »Bezahlen Sie mich, Mister, und dann bin ich weg. Ich will hier nicht länger als unbedingt notwendig bleiben.« Charlie sah sich um. Er konnte die Angst des Kutschers sehr gut verstehen. Sie erregten bereits viel zu viel ungewollte Aufmerksamkeit. Eine feine Kutsche war in East End nur selten zu sehen. Charlie selbst war gekleidet wie jeder andere wohlhabende Bürger Londons. Allein sein Mantel zeugte von einem gewissen Reichtum. Deshalb gab er dem Kutscher den geforderten Lohn. Der Mann würde auf gar keinen Fall hier warten, lieber würde er wohl den Verlust der paar Münzen in Kauf nehmen. Kaum hatte der Kutscher sein Geld erhalten, als er auch schon die Zügel knallen ließ und sein Pferd fast panisch antrieb, um ja schnell von diesem Ort wegzukommen.

    Charlie schlug den Kragen seines Mantels hoch, als ob er sich so gegen den hier herrschenden Gestank und die misstrauischen Blicke schützen könnte. Er folgte den beiden anderen. Als er die Tür öffnete, rechnete er damit, dass ihm auch hier ein furchtbarer Gestank entgegenschlagen würde. Doch er hatte sich getäuscht. Hier war es nicht der Gestank nach Urin, Alkohol und Ruß, der ihn innehalten ließ, sondern eine laute, hohe, ja, schrille Frauenstimme.

    »Das werde ich nicht tun!«, zeterte eine Frau mit schwarzen Haaren, die sie zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Sie hatte sich mit vor der Brust verschränkten Armen drohend vor den beiden Männern aufgebaut. Zusätzlich schüttelte sie energisch den Kopf, um ihre Haltung damit zu unterstreichen. Das musste Emma sein.

    »Wir helfen einander, Emma«, beharrte Richard, wobei er beschwörend seine Arme hob.

    Ein eisiger Lufthauch ließ das schwache Feuer im Kamin flackern. Die drei im Raum drehten sich zu Charlie um, der noch den Türknauf umklammert hielt. Ihm war

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