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Vagant-Trilogie 2: Arglist
Vagant-Trilogie 2: Arglist
Vagant-Trilogie 2: Arglist
Ebook533 pages6 hours

Vagant-Trilogie 2: Arglist

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About this ebook

Im Süden regt sich der Bruch.

Gammas Schwert – die Arglist – erwacht und macht sich bemerkbar, weil es wieder in den Kampf ziehen will.
Doch der Vagant hat endlich eine Heimat gefunden und sich ein Leben aufgebaut. Deshalb kehrt er ihm den Rücken und ignoriert seine Aufforderung. Frustriert ruft das Schwert lauter, bis jemand anders es erhört. Ihr Name ist Vesper.

Diese futuristische, stark von der Fantasy beeinflusste Welt mit ihren korrupten Rittern, gefallenen Himmelsschiffen und der geheimnisumwitterten Gestalt, die sich von all dem abhebt, ist eine Trilogie, die man einfach gelesen haben muss.
LanguageDeutsch
PublisherCross Cult
Release dateApr 9, 2018
ISBN9783959814980
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    Book preview

    Vagant-Trilogie 2 - Peter Newman

    DANKSAGUNGEN

    KAPITEL

    EINS

    Im Süden regt sich der Bruch.

    Mehr als tausend Jahre lang ist er stetig gewachsen. Zunächst langsam, ein verstecktes Geschwür unter der Haut der Erde; ein Haarriss, der fremdartige Schwaden ausatmet – beunruhigend, aber harmlos. Doch unter der Oberfläche wächst der Druck, bis der Riss zu einer Öffnung wird. Die Öffnung reißt weit auf, wird zu einer aufbrechenden Wunde der Welt.

    Die Höllenbrut strömt hervor, gestaltlose Albträume, die sich den Weg in die Realität freischlachten, die Körper der Gefallenen in Besitz nehmen und sie verändern. Sie reißen die natürliche Ordnung an sich und besudeln sie, verderben Pflanzen, Tiere und sogar die Luft.

    Während die Höllenbrut körperliche Form annimmt, findet sie Identitäten und Namen: Der Größte unter ihnen ist der monströse Usurpator, der sich durch reine Willenskraft zum Herrscher erhebt, Gamma von Den Sieben niederstreckt und ihre Armeen zerschmettert. Der Usurpator ist derjenige, der das Ende der Hoffnung und den Rückzug des menschlichen Einflusses einläutet.

    Aber Gammas lebendiges Schwert wird nicht vernichtet und sein Fortbestehen nagt an den Malen, die auf der Essenz des Usurpators zurückgeblieben sind, lässt sie schwären und schwächt ihn. Der Usurpator entsendet seine Horden, um das Schwert zu suchen, das von der Höllenbrut Arglist genannt wird, doch ihre Bemühungen scheitern. Ein Mann entreißt ihnen das Schwert und nach einiger Zeit stürzt seine Macht den Usurpator, was einen gewissen Frieden einkehren lässt. Kein wahrer Frieden, denn zu viel wurde zerstört, als dass die Welt sich einfach erholen könnte. Dies ist lediglich eine Pause, wie angehaltener Atem. Sie ist nur vorübergehend. Denn im Süden regt sich der Bruch.

    Auf der anderen Seite der Welt steht ein Mann an einem Fenster. Seine bernsteinfarbenen Augen sind auf eine kleine Gestalt draußen gerichtet. Ihr Name ist Vesper. Sie tut nichts Bemerkenswertes und dennoch lächelt der Mann. Allein ihre Existenz ist tröstlich, wärmend wie die Sonnen.

    Für lange Zeit war er allein und verloren gewesen, ein Vagabund. Jetzt hat er ein Zuhause, eine Familie und so viele Ziegen, dass er nicht weiß, was er mit ihnen anfangen soll. Es ist ein gutes Leben.

    Dennoch scheint in letzter Zeit ein Schatten direkt um die Ecke zu lauern – ein Hinweis auf bevorstehende Unruhe. Sein Zuhause steht außerhalb der Strahlenden Stadt, einen Schritt entfernt von Menschen, Politik und den Erwartungen anderer. Neuigkeiten müssen sich bis an seine Haustür durchkämpfen. Dies ist kein Zufall.

    Hinter ihm beginnt das Schwert zu zittern. Es schaukelt vor und zurück, gefaltete Schwingen tippen gegen die Wand, doch das Auge bleibt geschlossen. Seit Jahren hat es tief und friedvoll geschlafen, ein stummer Gefährte.

    Er dreht sich zu ihm um und das Lächeln entgleitet seinem Gesicht. Gedankenverloren kratzt er an alten Narben auf seinem Oberschenkel, seinem Gesicht, an der Seite seines Kopfs. Jahre hat es gedauert, bis sie abgeheilt waren. Jahre voller sanfter Bemühungen, ein neues Leben aufzubauen und einen sicheren Ort für diejenigen zu schaffen, die er liebt.

    Seine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf Vesper, die träge mit den Ziegen schwatzt. Langsam macht er sich wieder an die Arbeit, doch das Klopfen des Schwerts geht weiter. Es ist wie ein Dorn in seinem Stiefel, ein Sticheln, das nie ganz aus seinem Bewusstsein verschwindet. Lippen bilden einen Strich. Fäuste ballen sich an seinen Seiten.

    Er bringt das Schwert in sein Zimmer und schließt die Tür.

    Es reicht nicht.

    Er wickelt das Schwert ein, baut ihm ein dickes Stoffbett und dämpft die Geräusche, die es von sich gibt.

    Es reicht nicht.

    Obwohl das Schwert nicht länger gegen die Wand klopft, äußert sich sein Unbehagen durch halb ausgestoßene Töne, winzige Töne, die sich am Rand seiner Seele fangen.

    Er findet sich an der Tür wieder und starrt vor sich hin. Eine Hand setzt dazu an, sie zu öffnen, um nach dem schlafenden Schwert zu greifen. Es wäre eine Kleinigkeit, es aufzuheben, wieder aufzuwecken und …

    »Was machst du?«

    Er erschrickt, dreht sich um und sieht Vesper, die mit strahlendem Gesicht hinter ihm steht. Mit ihr ist jeder Tag ein Wunder. Wie groß sie geworden ist! Wie sehr sie ihrer Mutter ähnelt.

    Sie legt den Kopf schief und versucht an ihm vorbeizusehen. »Was machst du?«

    Er bringt ein schiefes Lächeln zustande und zuckt mit den Schultern.

    »Geht es dir gut?«

    Er nickt.

    »Was ist da drin? Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Kann ich nachsehen? Ist es ein Tier? Es klang unglücklich. Kann ich es sehen?«

    Er wischt die Fragen mit einer Handbewegung beiseite und legt seine Hand sanft auf ihre Schulter, um sie von dem Zimmer wegzuschieben.

    Später, als das Mädchen anderweitig abgelenkt ist, kehrt er mit stärkeren Materialien und einer Kiste zu dem Zimmer zurück.

    Aber es reicht nicht.

    Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die erste Welle der Höllenbrut entstanden ist, doch der Bruch hat nicht nachgelassen. Ein gleichmäßiges Rinnsal bizarrer Kreaturen ist aus ihm herausgetröpfelt. Manchmal sind sie allein, manchmal zu zweit, gelegentlich eine Schwemme – aber der Strom wächst stetig. Zentimeter um Zentimeter, wird ein wenig größer, zuckt, dehnt sich aus.

    Seit elf dieser Jahre sieht Samael zu.

    Er steht auf einem rostenden Hügel. Einst war dieser eine Schlange aus mechanisiertem Metall; jetzt ist er ein Denkmal für längst vergessene Dinge. Unter Samaels Füßen liefert sich heimisches Moos einen Kampf mit von Verderbnis befallenen Strängen. Schwammige Bodenbeläge, gelb und braun, breiten sich zielstrebig aus. Samael bemerkt es nicht. Seine Aufmerksamkeit ist auf den Bruch gerichtet. Er war zunächst einem Impuls gefolgt, als er hierherkam. Stimmen, die er fast nicht hören konnte und die tief in seiner Essenz vergraben waren, hatten ihn angezogen. Er mag seine Impulse, genau wie er seine Angewohnheiten mag. Sie geben ihm eine Richtung.

    Zwölf Jahre ist seine zweite Geburt her, als man ihn seinem Leben auf dem Meer entrissen hatte. Nur sein Haar ist unverändert. Samaels Haut unter seiner Rüstung ist elfenbeinfarben, versteinert zu einer Karikatur rissigen Marmors. Sein Haar ist im Gegensatz zum Rest von ihm voller Leben. Er trägt es zusammengebunden – ein Pferdeschwanz, der aus einem Schlitz oben in seinem Helm herausfließt. Er weiß, dass sein Schöpfer diese Eitelkeit missbilligen würde. Der Gedanke lässt ihn schaudern und lächeln.

    Natürlich wurde sein Schöpfer, der Kommandant, von der Arglist gemeinsam mit den anderen Rittern von Jade und Asche vernichtet, aber das hält Samael nicht davon ab, an ihn zu denken. Oder Billigung zu suchen. Er wünscht, es wäre anders.

    Die Rüstung, die er trägt, ist eine Mischung aus willkürlich zusammengesuchten Platten, die er auf dem Schlachtfeld ausgegraben und dann notdürftig in Form gehämmert hat. Das Ergebnis ist hässlich und sitzt schlecht. Es fühlt sich richtig an. Eine zweite Haut, die er für sich angefertigt hat. Sie zu tragen, ist zur Gewohnheit geworden. Immerhin würde der Schöpfer das sicherlich billigen. Er hofft es, kann aber nicht sicher sein. Seit dem plötzlichen Ende des Kommandanten ist er mit Freiheit und zu vielen Fragen zurückgeblieben.

    Eine frische Welle Essenz blubbert aus dem Bruch. Früher konnte man den Abgrund von diesem Hügel aus nicht sehen und zwischen dem Aussichtspunkt und dem großen Riss hat ein Dorf gestanden. Das Dorf ist jetzt verschwunden, verschluckt von der Erde, hinabgesogen in andere, unbekannte Reiche tief jenseits des Bruchs.

    Samael weiß nicht, woher er das weiß, aber er weiß es. Er erinnert sich an Gebäude, an Gesichter, deren Hoffnung verblasst, als er an ihnen vorbeigeht und sie zum Sterben zurücklässt. Dieses Aufflackern einer Erinnerung, die seine und doch nicht seine ist, verschwindet so schnell, wie es gekommen ist, und hinterlässt einen Kessel voller unverarbeiteter Gefühle.

    Widerwillig kehren seine Gedanken in die Gegenwart zurück.

    Hier halten die Dämonen ihren Einzug. Er kann nicht ändern, was ihm angetan wurde, er kann die Höllenbrut weiter im Norden nicht davon abhalten, die Welt heimzusuchen … doch hier kann er etwas bewirken. Hier kann er sich immerhin gegen die Flut stemmen.

    Wolken ungeborener Essenz formen sich am Rand des Bruchs. Begleitet werden sie von einer Unmenge huschender, hungriger Schorfe, den niedersten der Höllenbrut. Die Schorfe schwärmen aus und jagen im Schmutz nach Nahrung. Die ungeborenen Geister suchen nach einem Weg in die Welt und benötigen Wirtskörper, wenn sie bleiben wollen.

    Samael lächelt und weiß, dass sie zum Scheitern verurteilt sind.

    Die wenigen verbliebenen Leichen hat er schon vor Jahren beseitigt – diejenigen, die nicht bereits als Wirte beansprucht worden waren – und hat so alle Neuankömmlinge der Höllenbrut dazu verdammt, an den Grenzen des Bruchs herumzuspuken und sich allmählich aufzulösen; entsetzliche Ideen, die nie ihren Ausdruck fanden.

    Er hat diesen Anblick bereits unzählige Male genossen, doch er verschafft ihm nach wie vor Befriedigung.

    Dieses Mal ist allerdings etwas anders. Eine zweite Welle ungeborener Wolken bestätigt das. Seine Halbbrutaugen erkennen Muster in ihrer Essenz. Sie sind verzweifelt, ja, das kommt häufig vor, doch das Aroma der Angst in ihren rauchartigen Wirbeln ist neu. Es ist nicht die feindselige Welt, in der sie angekommen sind, die sie am meisten ängstigt. Es ist etwas anderes. Etwas hinter ihnen.

    Sie fliehen.

    Ein Grollen durchdringt die Erde und pflanzt sich nach außen fort, bis es den Metallhügel erschüttert. Samael reißt die Arme hoch, um das Gleichgewicht zu halten, und reitet auf der Druckwelle, bis sie vorbei ist. Ein weiteres Grollen folgt kurz darauf und das Geräusch verdunkelt den Himmel. Der Bruch speit Essenz aus, dick und schwarz und lila.

    Samael wird vom Hügel geworfen und landet schwer im Schmutz. Das Halbblut zieht sich – unbelastet von körperlichem Schmerz – schnell auf die Füße. Der Boden bebt immer noch ununterbrochen, während der Bruch würgt und versucht, sich von seiner Bürde zu befreien. Die Erde zittert, gibt nach und die Wirklichkeit zieht sich ein Stück nach Norden zurück.

    Das Ding, das herauskommt, erstreckt sich über Dimensionen, die selbst Samael nicht überblicken kann. Es ist sowohl groß als auch klein, begrenzt und grenzenlos. Doch mehr noch – es hat einen Zweck. Es existiert – ohne Wirt, ohne Geburt.

    Das Verlangen ist gekommen.

    Samael muss nicht ein zweites Mal hinsehen, der erste Blick hat gereicht, um ihm einen dauerhaften Platz in seinem Bewusstsein zu sichern. Er verfällt in eine weitere alte Gewohnheit und flieht.

    Weit im Norden, jenseits des Meeres, in einem Land von nachlassendem Grün, liegt die Strahlende Stadt. Ein unsichtbares Kraftfeld – abgestimmt auf die verderbte Höllenbrut und bereit, diese zu verbrennen – definiert seine Grenze. Innerhalb dieses Felds spähen Fenster aus grasigen Hügeln und liefern Hinweise auf Tunnel, Kapseln und versteckte Infrastruktur. Silberne Säulen ragen zum Himmel auf. An ihren Seiten und auf ihren Dächern wurden Gärten angelegt. In den Kreisen aus Hügeln und Turmspitzen gibt es einen großen, offenen Bereich. In seiner Mitte steht eine polierte, glänzende Treppe. Sie führt fünfzehn Meter gerade nach oben und endet im Nichts. Weitere sechs Meter über der obersten Stufe schwebt ein riesiger Metallwürfel, der von unsichtbaren Ketten gehalten wird und sich langsam dreht.

    Der Würfel ist vollgestopft mit Geheimnissen, mit seinen eigenen Hierarchien und Problemen, die weit über die Welt darunter hinausreichen.

    In seinem Herzen befindet sich das Allerheiligste Der Sieben.

    Sogar hier, an diesem Zufluchtsort, weit entfernt von allen Ausgeburten der Hölle, spürt man das Erdbeben. Sogar hier, hinter den Mauern aus Leugnen und Macht, Platin und Energie, scheucht die Bewegung der Erde und der Essenz sie auf.

    Alpha von Den Sieben ist der Erste, der erwacht. Seine Augen öffnen sich – unvergleichliche Kugeln, aus denen die Weisheit seines Schöpfers und tausend Jahre Erfahrung sprühen. Ihr Blick gleitet suchend über die fünf anderen Alkoven; jeder ist ein Zuhause, eine Gruft für die Unsterblichen darin.

    Köpfe drehen sich langsam, um seinen Blick zu erwidern. Steinsplitter fallen von den Gesichtern, die zögernd zum Vorschein kommen.

    Es werden keine Worte gesprochen, keine Lieder gesungen – noch nicht. Ihre Kraft ist vorhanden und wartet darauf, gerufen zu werden, doch es fehlt der Wille, sie zu rufen.

    Alpha spürt die Frage, die in den Augen seiner Brüder und Schwestern steht. Ein neues Problem hat sich gezeigt. Sie wollen seine Reaktion darauf sehen. Er bewegt die Finger, befreit sie aus ihrem steinernen Gefängnis und sieht zu seinem Schwert. Es ist vergraben, ein kaum erkennbarer Klumpen, der von grauem Stein umhüllt ist. Den Schwertern seiner Geschwister geht es auch nicht besser; sie sind bedeckt von Tränen aus Stein, die in den Jahren der Trauer geweint wurden.

    Es ist an der Zeit, sie wieder zu wecken.

    Alpha hebt die Hand und die anderen atmen alle gleichzeitig ein. Fünf Hände spannen sich an, bereit, in Aktion zu treten.

    Eine unsichtbare Kraft zwingt Alpha, zum dritten Alkoven zu sehen – dem leeren. Einst wohnte dort seine Schwester Gamma. Jetzt ist dort nichts.

    Sie ist für sie verloren.

    Verloren.

    Das, von dem sie dachten, es sei unabänderlich, wurde in die Knie gezwungen, zerstört von der Macht des Usurpators. Falls sie in den Krieg ziehen, wird diese neue Bedrohung dann noch einen von ihnen fordern? Allein der Gedanke ist unerträglich.

    Alpha hält seine Hand reglos, senkt den Kopf.

    Fünf andere Hände entspannen sich und sechs Geister ziehen sich zurück. Sie kehren in die Dunkelheit und süßes Vergessen zurück.

    Einige Kilometer entfernt, versteckt in der Finsternis, umhüllt von Stoff, umhüllt von Holz, umhüllt von Staub, öffnet sich ein Auge.

    Ein Vogel segelt träge über den Himmel. Ein Wurm baumelt aus seinem Schnabel und zappelt verzweifelt und hoffnungslos. Mit einem Flügelschlag steigt der Vogel auf, reitet auf den Strömungen und umkreist eine große Säule. Auf ihrer Spitze ruht ein glänzendes Himmelsschiff. Versteckt zwischen seinen Geschütztürmen sind einige Nester.

    Die Nester sollten nicht dort sein. Die Arbeiter hätten sie wegschrubben müssen, aber es hat keine Inspektionen gegeben … weder in diesem Jahr noch in den vier Jahren zuvor. Niemand kann von unten die Oberseite des Himmelsschiffs sehen, also säubern die Arbeiter sie nicht. Eine Nachlässigkeit, die unbemerkt bleibt. Es gibt noch andere. Winzige Makel in dem langsam verfallenden Imperium des Geflügelten Auges.

    Schrille Stimmen durchdringen die Luft und betteln nach Nahrung. Der Vogel ignoriert sie und bewegt sich auf seine Brut zu. Er lässt den Wurm auf ein Trio aus klaffenden Schnäbeln fallen, bevor er abtaucht und sich von den Strömungen zu neuen Abenteuern tragen lässt.

    Weit unten und einige Kilometer entfernt, beobachtet ein Mädchen den Vogel durch ein altes, abgenutztes Fernrohr. Ihr Name ist Vesper und es juckt sie in den Füßen, zu der Säule zu laufen und diese zu erklimmen. Doch die Säule, genau wie alles andere um die Strahlende Stadt, ist verboten. Es sind lediglich Bilder, die nur vage verstanden werden und nicht realer sind als die Geschichten ihres Onkels Harm.

    Sie verstaut das Fernrohr in einer Tasche und sieht sich nach Inspiration um. Sie erhält keine und ihr Blick versucht, den Vogel wiederzufinden. Neidisch starrt sie, bis die geschwungene Linie zu einem schwarzen Punkt wird. Bald ist auch dieser verschwunden. Ohne ihn erscheint der Himmel leer und uninteressant.

    Weil sie jung und behütet ist und weil sie anders ist, spielt Vesper. Sie breitet die Arme aus und rennt, dabei schlägt sie mit ihnen wie ein Vogel mit seinen Flügeln. Enthusiasmus kann die Physik allerdings nicht überwinden, also bleibt sie am Boden, was die Ziegen, die die Felder bevölkern, amüsiert.

    Keuchend erreicht sie die Grenze ihrer Welt. Es gibt kein Energiefeld, das ihr verwehrt weiterzulaufen, sondern nur einen einfachen Zaun und die endlosen Warnungen ihrer Familie.

    Vesper macht einen Schritt darauf zu. Sie muss nicht fliegen, um dieses Hindernis zu überwinden. Ein kurzer Blick über ihre Schulter unterbindet den Plan, bevor er sich formen kann. Ihr Vater steht vor dem Haus. Der Blick bernsteinfarbener Augen sucht nach ihr. Vesper täuscht Unschuld vor, hebt die Hand und winkt. Die Hand ihres Vaters ruft sie zurück nach Hause.

    Sie liebt ihren Vater und ihren Onkel mehr, als Worte auszudrücken vermögen, aber manchmal wünschte sie, sie wären nicht hier. Nicht für immer. Nur für eine Stunde oder einen Nachmittag. Während sie den Hügel hinauftrottet, stellt sie sich vor, welche Herrlichkeiten so ein Nachmittag bringen könnte.

    Bevor sie zu Hause ankommt, verlangt ärgerliches Meckern nach ihrer Aufmerksamkeit.

    »War ja klar«, murmelt Vesper und rennt los.

    Die Ziegenböcke folgen ihr ein paar Schritte und bleiben dann stehen. Sie wissen sehr wohl, wo sie hingehören.

    Oben auf dem Hügel, neben ihrem Haus, steht noch eines, das etwas kleiner ist. Darin liegen Gaben auf dem Boden verstreut; einige sind kaum noch zu erkennende Überreste, andere nur halb durchgekaut. Ein Würfel aus Mutigel wurde dünn wie ein durchsichtiger Pfannkuchen auf dem Boden ausgebreitet. Eine Decke bedeckt ihn zur Hälfte. Die Ziege steht unsicher darauf. Ihr Bauch ist durch ihren Nachwuchs aufgebläht. Dunkle Augen betrachten Vesper ausdruckslos, als diese eintrifft. Die Ziege ist inzwischen alt – zu alt für diesen Unsinn – und doch geschieht es immer wieder. Die Ziege ist nicht sicher, wer für diese jüngste einer langen Abfolge von Trächtigkeiten zu bestrafen ist, und beißt jeden, der dumm genug ist, ihr zu nahe zu kommen.

    Vesper hat das auf die harte Weise gelernt. Sie bleibt auf der Schwelle stehen und reibt sich geistesabwesend die alte Narbe auf ihrer Hand. »Sieh mich nicht so an. Es ist nicht meine Schuld.«

    Die Geburt verläuft schnell und schonungslos – ein paar Augenblicke Schweiß und Kampf. Ein Neugeborenes gleitet ins Leben, reglos, als ob es tot wäre. Es trägt seinen Fruchtblasenanzug wie einen Schleier.

    Die Ziege betrachtet das Bündel missbilligend und wartet. Bei früheren Trächtigkeiten hat sie sich um ihre Jungen gekümmert, aber auch sie hat gelernt.

    »Na los!«, drängt Vesper.

    Die Ziege ignoriert sie.

    »Schnell!«

    Die Ziege ignoriert sie.

    Fluchend zieht Vesper einen Lumpen aus ihrer Tasche und beginnt, den Schleim vom Kopf des Neugeborenen zu wischen. Geübte Hände finden ihren Weg zu Maul und Nüstern des Zickleins und holen Schleimpfropfen heraus. Vesper flucht noch einmal und bedient sich exotischer, erwachsener Worte, die sie erlauscht hat. Langsam entfernt sie das klebrige Zeug. Einiges davon findet seinen Weg auf den Boden, vieles klebt an Vespers Hose.

    Die Augen der Ziege glitzern triumphierend und sie fängt an, einige vereinzelte Grasbüschel neben der Tür abzurupfen.

    Das Zicklein bewegt sich immer noch nicht. Es ist ein feuchter Klumpen, nicht ganz tot, aber auch nicht ganz lebendig. Vesper streichelt die Flanke des Tierchens.

    »Na los, du schaffst das. Atme für mich.«

    Vesper streichelt und spricht weiter. Sie weiß nicht, ob das Zicklein sie hören kann oder ob es hilft, aber sie tut es dennoch.

    Die Ziege wedelt gereizt mit ihrem Stummelschwanz und trottet herbei. Sie inspiziert ihr Kind schnell, wedelt noch einmal mit dem Schwanz und tritt dann zu.

    Das Geißlein erwacht zuckend zum Leben, schluckt Luft und wimmert leise.

    Vesper sieht die Ziege finster an. »War das wirklich nötig?«

    Die Ziege ignoriert sie.

    Plötzlich hungrig, vergisst das Geißlein seine Verletzung und sein Blick geht zwischen zwei Gestalten hin und her. Das Mäulchen steht eifrig offen.

    »Ich nehme an, du wirst ihn nicht füttern?« Vesper krempelt die Ärmel hoch. »Dachte ich mir.« Während sie wachsam auf Vergeltungsmaßnahmen achtet, schnappt sie sich einen Eimer, der in der Nähe steht, und fängt an, die Ziege zu melken.

    Zu müde zum Kämpfen, beschließt die Ziege, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

    Als sie fertig ist, steht Vesper auf und wiegt den Eimer in den Händen. »Ich muss eine Flasche holen. Du bleibst schön hier, okay?«

    Das Ziegenböckchen beobachtet, wie das Mädchen davongeht. Es wendet sich seiner anderen Mutter zu, aber die ist bereits weg. Mit heraushängender Zunge schwingt sein Kopf unsicher hin und her. Es macht seine ersten Schritte und stolpert in das Hoheitsgebiet der Ziege.

    Es gibt einen dumpfen Schlag und ein Quieken.

    Kurz darauf schießt das Ziegenböckchen heraus und rennt in Sicherheit. Es wagt es nicht zurückzublicken.

    Zinnschalen klingen wie blutarme Glocken, als sie bewegt werden. Eine leise Stimme plappert in der Küche. Vesper konzentriert sich auf die Worte und zögert. Dabei hält sie den Atem an. Sie geht nicht hinein oder sagt Hallo. Sie zieht es vor zu warten. Wenn sie nicht wissen, dass sie hier ist, werden sie ihr anderes Selbst sein – diejenigen, die sich mehr Sorgen machen und auf Geheimnisse hindeuten.

    Wie immer spricht Onkel Harm, während ihr Vater herumwerkelt und eine Stelle aufräumt, die immer gern chaotisch ist. »Weißt du, heute ist wieder ein Bote von den Lupen gekommen. Sie wollten wissen, ob hier alles in Ordnung ist. Ich sagte ihm, dass die Dinge schön ruhig sind. Es waren dieselben Fragen wie immer, aber etwas fühlte sich anders an als sonst. Er war unruhig, kratzte sich ständig. Ich hätte ihn beinahe hereingebeten, um mit ihm etwas zu trinken. Er wirkte völlig erschöpft vor Stress. Ich nehme an, dass die alle da oben sind. Natürlich hat er mir nichts erzählt.«

    Ein leises Surren beginnt. Ihr Vater scheint die Oberflächen gründlich zu säubern.

    »Ich bin sicher«, fährt Harm fort, »wenn du hingehen und selbst mit ihnen sprechen würdest, könnten wir auf jeden Fall mehr herausfinden. Schließlich sind sie nur deinetwegen hier.«

    Das Säuberungsgerät wird mit einem Klicken noch eine Stufe höher gestellt. Das Surren wird lauter und lästig. Vesper atmet einmal tief durch, geht näher zur Küche und wagt es hineinzuspähen.

    Ihr Onkel Harm sitzt auf dem guten Stuhl. Dampf kräuselt sich aus dem Becher in seinem Schoß. Er hebt seine Stimme und schafft es, weiter mit sanftem Tonfall zu sprechen. »Ich weiß, dass du deine Entscheidung bereits getroffen hast, aber es würde doch nicht schaden zu wissen, was vor sich geht. Bitte, geh doch und rede mit ihnen, ja? Es würde mich beruhigen. Und könntest du hier herüberkommen? Ich hasse es, mit dir zu reden, wenn du so weit weg bist.«

    Das Surren der Maschine wird langsamer, unregelmäßig und hört auf. Breite Schultern sacken herab. Vesper zieht sich einen Schritt zurück, als ihr Vater sich umdreht und durch die Küche humpelt. Seine Haare werden immer länger. Vesper hat an vielen Abenden zugesehen, wie Onkel Harm die langen, braungrauen Strähnen gebürstet hat. Dennoch verdecken sie nicht die Narben, die am Haaransatz verlaufen. Angeblich war es möglich, sie genau wie die verlorenen Zähne und das vernarbte Bein zu richten, aber ihr Vater hat immer jegliche Operationsangebote abgelehnt. Harm sagt, er sei so stur wie die Ziege, was ihren Vater zum Lächeln bringt. Doch er ändert nie seine Meinung.

    Vesper mag die Narben. Sie sind der Beweis für ein anderes Leben. Als ihr Vater noch der heldenhafte Ritter war, von dem ihr Onkel immer spricht, und nicht dieser müde Mann, der viel zu oft die Stirn runzelt.

    Ihr Vater bleibt neben dem Stuhl stehen, stützt sich darauf und beugt sich vor. Harms Hände tasten sich aufwärts und suchen nach dem Gesicht.

    »Da bist du ja.« Finger streichen über Gesichtszüge, ein Kinn, das dringend einer Rasur bedarf, Krähenfüße, die in den Augenwinkeln immer tiefer werden. Sie finden Linien, die sich quer über die Stirn graben, und glätten sie. »Sie wissen, dass du nicht wieder kämpfen wirst. Niemand erwartet das von dir. Aber ich glaube, wir sollten wenigstens wissen, was vor sich geht. Für alle Fälle.«

    Beruhigende Hände werden von schwieligen umschlossen. Die beiden stehen friedlich zusammen und genießen den Moment.

    Wie immer ist Harm der Erste, der in die Stille hineinspricht. »Ich höre Dinge. Von den Leuten, die uns Gaben bringen. Es sind nicht mehr so viele wie früher, aber einige kommen immer noch. Offenbar hat Klangvoll seine Unabhängigkeit erklärt und der Erste hat das anerkannt. Es gibt bisher keine offizielle Reaktion vom Imperium, aber die wird ohnehin nicht positiv ausfallen. Und hast du gehört, was im Süden vor sich geht? Es gibt Gerüchte, dass …«

    Die Hände trennen sich. Bernsteinfarbene Augen richten sich auf die Tür. Vesper wird von ihrem Blick eingefangen. Sie lächelt schnell und geht hinein. Dabei räuspert sie sich. »Welche Gerüchte sind das, Onkel?«

    »Ah, Vesper«, ertönt die Antwort mit fröhlicher Stimme, »es ist nur Klatsch, nichts Wichtiges. Wie geht’s der Ziege?«

    »Es wird schlimmer mit ihr. Sie hat sich nicht einmal um dieses gekümmert. Wäre ich nicht dort gewesen, wäre es mit Sicherheit gestorben.«

    »Das ist jetzt das dritte, das du gerettet hast, oder?«

    »Das fünfte, um genau zu sein. Aber jedes Mal macht sie weniger.«

    »Wenn ich in ihrem Alter wäre, bezweifle ich, dass ich es besser machen würde.«

    »Wie alt ist sie, Onkel?«

    Spontan müssen beide Männer lächeln. »Wir haben keine Ahnung. Aber alt. Wenn sie ein Mensch wäre, wäre sie schon längst über das Alter hinaus, in dem man Kinder bekommt, das steht fest.«

    »Nun, sie bekommt sie, aber sie füttert sie nicht. Ich muss eine Flasche holen.«

    »Nur zu.«

    Hände zausen ihre Haare, als sie vorbeigeht. Sie spürt, wie ihr Vater sie beobachtet, und bewegt sich schnell. In ihrer Eile lässt sie ungeschickt den Sauger fallen. »Gibt es etwas Neues aus der Stadt?«

    »Wieso fragst du?«

    Sie hockt sich hin, um den Sauger aufzuheben. »Ich … dachte, ich hätte jemanden zum Haus kommen sehen.«

    »Das stimmt, wir hatten einen Besucher. Und er kam aus der Stadt.«

    »Was hat er gesagt?«

    »Nicht viel.«

    »Aber er muss doch irgendetwas gesagt haben.«

    »Du weißt doch, wie das ist – irgendetwas ist immer los.« Harm hört, wie sie aufgeregt einatmet. »Aber nichts, über das wir uns Sorgen machen müssten«, fügt er schnell hinzu.

    »Oh.«

    Da sie wie immer keinen Erfolg hat, hebt sie den Sauger vom Boden auf und geht hinaus.

    Gefüttert und gesättigt schläft das Ziegenböckchen in Vespers Armen ein.

    Sie sitzt auf den Stufen vor der Haustür und erfreut sich an seinem warmen Gewicht, bis ihr eigener Bauch Aufmerksamkeit verlangt. Das Böckchen grummelt, als sie es ablegt, wacht aber nicht auf. Vesper stößt einen erleichterten Seufzer aus und schleicht sich ins Haus. In Gedanken ist sie bereits damit beschäftigt, Bilder von leckeren, schmackhaften Dingen heraufzubeschwören.

    Gewohnheitsmäßig lauscht sie an der Küchentür und hört nichts außer leisem Schnarchen. Sie späht kurz hinein und entdeckt Onkel Harm, der zusammengesunken auf einem Stuhl sitzt und sein Nachmittagsnickerchen hält.

    Das Schnarchen dauert an und lässt sich nicht von klapperndem Besteck und begeistertem Kauen stören.

    Als sie die Küche verlässt, hört sie ein Geräusch aus der Vorratskammer und erstarrt. Die Tür steht einen Spalt offen, aber nicht weit genug, um zu sehen, was sich darin befindet. Neugier und Angst tragen kurz einen Kampf miteinander aus. Sie hört noch ein anderes Geräusch – ein sanftes Scharren, das sie nicht deuten kann. Wer immer sich darin befindet, bewegt sich sehr vorsichtig und heimlich.

    Es muss ihr Vater sein. Sie fragt sich, was er vorhat, und streckt die Hand aus, um die Tür aufzuschieben. Sie betet, dass diese nicht quietscht. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass sie, wenn sie die Wahrheit wissen will, selbst danach suchen muss, anstatt Fragen zu stellen. Die Lücke wird langsam größer, Zentimeter um Zentimeter.

    Als sie hineinsieht, weiten ihre Augen sich deutlich schneller.

    Er steht mit dem Rücken zu ihr. Seine Fäuste zittern an seinen Seiten. Ein tiefes Summen ertönt zu seinen Füßen, wie eine verärgerte Hornisse.

    Langsam schüttelt er den Kopf und das Summen wird lauter.

    Sie kann die Spannung in der Luft geradezu schmecken und sieht die Wirkung unsichtbarer Hände, die an ihrem Vater zerren. Sie sieht, wie er sich widersetzt und nach hinten lehnt, als ob er sich stürmischer Winde erwehrt.

    Wieder schüttelt er den Kopf, schneller dieses Mal, weniger zuversichtlich. Sein Kiefer bewegt sich, doch falls er Worte spricht, sind sie zu leise, um sie zu hören.

    Etwas scheint zu zerbrechen und ihr Vater beugt sich schnell mit einer verzweifelten Bewegung hinunter. Ein Geräusch, als ob der Deckel einer Kiste zugeknallt wird, ist zu hören.

    Das Summen wird leiser, hört aber nicht auf.

    Ihr Vater stützt sich einen Moment lang schwer auf die Kiste, dann steht er auf.

    Vesper zieht sich von der Tür zurück, aber es ist zu spät. Er hat sie gesehen. Er sieht sie immer.

    Sie setzt einen – wie sie hofft – neutralen Gesichtsausdruck auf. »Geht es dir gut?«

    Er marschiert zur Tür und nickt knapp. Seine bernsteinfarbenen Augen sind blutunterlaufen und aufgequollen. Sie fragt sich, ob er geweint hat.

    Einen Moment lang mustern sie sich und sie hat das Bedürfnis, etwas zu sagen, um ihm zu helfen. Sie weiß nicht, wo sie beginnen soll, und schenkt ihm stattdessen ein schwaches Lächeln.

    Seine Lippen bewegen sich und drohen, einen Satz auszusprechen. Sie wagt zu hoffen, dass er sich dieses eine Mal öffnen wird, aber er erstickt diese Hoffnung mit einem weiteren scharfen Nicken im Keim.

    Die Tür schließt sich zwischen ihnen.

    Mit ärgerlichem Murmeln lässt Vesper sich auf den Abhang des Hügels hinplumpsen. Das Böckchen kommt und setzt sich neben sie.

    »Das ist nicht fair!«, ruft sie aus und das Böckchen sieht erschrocken hoch. »Er sagt mir nie, was los ist. Und er lässt mich nie irgendwo hingehen oder irgendetwas machen. Ziegen und Gras langweilen mich.« Um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, streichelt sie den weichen Kopf des Böckchens. »Aber du bist sehr niedlich.«

    Sie verbringt den Nachmittag damit, den Horizont mit dem Fernrohr in der Hand zu beobachten. Sie sucht die weit entfernten Ränder der Strahlenden Stadt ab und hofft, einen Blick auf einen Ort zu erhaschen, der in den Geschichten ihres Onkels vorkommt, den sie aber noch nie besucht hat. Heute wird sie belohnt. Eine Gruppe junger Leute versammelt sich in einem Kreis. Vesper maximiert die Vergrößerung ihres Fernrohrs, um jedes Detail in sich aufzunehmen. Ihre Kleidung ist einheitlich, ohne Verzierungen und weiß. Es gibt keine Mode für Jugend in der Strahlenden Stadt. Ihre Haare haben einen Einheitsschnitt. An der Art, wie sie zusammenstehen, ist etwas Förmliches und sie fragt sich, was sie dort tun.

    Die Anordnung kommt ihr bekannt vor und lässt den Chip in ihrem Kopf in Aktion treten. Er analysiert die Gruppe, bemerkt die Anordnung und das Alter, kategorisiert sie und lässt ein Hauptwort in Vespers Gehirn springen: ein Chor. In der Strahlenden Stadt werden alle jungen Menschen von klein auf in Chören gruppiert. Das verhindert, dass sie sich zu eng an Eltern oder Geschwister binden. Alle sechs Monate verändert sich die Zusammensetzung eines bestimmten Chors, damit sich die sozialen Bindungen nicht vertiefen. Auf diese Weise wird die Loyalität gegenüber dem Imperium sichergestellt.

    Vesper sieht weder die soziale Manipulation noch die Funken, die langsam erlöschen. Sie sieht Geheimnisse und hungert nach mehr.

    Eine Weile sieht sie zu und nimmt jede Bewegung und jede Geste in sich auf. Sie hat keine Ahnung, worüber sie sprechen, aber sie ist sicher, dass jedes Wort faszinierend ist.

    Sie bemerkt den Mann nicht, bis er fast bei ihr ist. Er erscheint wie ein Riese im Fernrohr. Ein Teil seiner blassen Kopfhaut füllt plötzlich ihr Sichtfeld. Mit einem Kreischen lässt sie sich rücklings fallen, woraufhin das Ziegenböckchen die Hügel hinaufstürmt und außer Sichtweite verschwindet.

    Verlegen setzt sie sich wieder auf und sieht ein zweites Mal hin. Ohne das Fernrohr ist der Mann weniger Angst einflößend. Seine Kleidung ist schwarz, robust und ein Abzeichen des Geflügelten Auges prangt stolz an seinem Kragen. Sein Haar ist rot und drahtig und bemüht sich, seinem Haarband zu entkommen, das es kaum bändigen kann. Einer von den Lupen, wie der Besucher, von dem ihr Onkel gesprochen hatte.

    »Hallo!«, sagt sie und winkt zögernd.

    Der Mann sieht hügelaufwärts zu ihr hin. »Guten Tag, Vesper!«

    »Du kennst meinen Namen?«

    »Ja, wir sind uns schon einmal begegnet. Vor langer Zeit. Ich habe deinem Vater einst geholfen, nach Sechs Kreise hineinzugelangen und dann über das Meer zu segeln. Ich heiße Genner, hat er mich nie erwähnt?«

    »Nein.«

    Genner versteift sich. »Wie ich schon sagte, es war vor langer Zeit.«

    »Bist du hier, um ihn aufzusuchen?«

    »Ich bin hier, um ihm zu helfen. Zumindest wäre ich das, wenn er es zuließe.«

    Sie nickt und weiß genau, was er meint. »Du glaubst auch, dass er Hilfe braucht?«

    »Ich habe das Gefühl, dass das bald der Fall sein wird. Glaubst du, du könntest ihn dazu überreden, herauszukommen und mit mir zu sprechen?«

    »Ich weiß nicht. Er ist …«

    »Er ist was? Es ist sehr wichtig, dass du mir das sagst, Vesper.«

    Worte kommen und gehen, keins passt. Sie zuckt mit den Schultern. »Schwierig. Etwas geschieht, aber er will mir nicht sagen, was es ist.«

    Er kommt näher und setzt sich neben sie. Beide sehen hinaus zur Stadt, während er spricht. »Ich bin einer der Lupen. Wir halten die Augen offen nach Ärger, und wenn er kommt, führen wir die Seraphritter und die Armeen des Geflügelten Auges dorthin, wo sie benötigt werden, um uns zu schützen.«

    »Du kennst Seraphritter?«

    »Oh, ja. Ich gebe ihnen sogar von Zeit zu Zeit Befehle.« Er gönnt sich einen Moment, in dem er die Ehrfurcht auf ihrem Gesicht genießt. Dann seufzt er. »Etwas stimmt ganz und gar nicht im Süden, Vesper. Die Sieben spüren es in ihrem Allerheiligsten und wir sind sicher, dass Gammas Schwert es ebenfalls spürt. Dein Vater muss das Schwert wieder führen, und wenn er es tut, habe ich die Absicht sicherzustellen, dass er nicht allein ist.«

    Vesper schweigt. Wolken ziehen vorüber, bauschig, nicht zusammenpassend. »Ist es gefährlich?«

    »Ja.«

    »Was, wenn er das nicht tun will?«

    »Es spielt keine Rolle, ob er will oder nicht. Es gibt niemand anderen.« Er wendet den Blick vom Himmel ab und richtet ihn auf sie. »Was ich wirklich möchte, ist, dort hineinzuplatzen und ihm zu befehlen, uns zu helfen. Aber dein Vater ist der Erwählte Der Sieben und das entzieht sich meiner Autorität. Er muss aus freien Stücken mit mir kommen. Du musst mit ihm für mich reden.«

    Sie steht auf. »Mein Vater ist ein Held. Wenn er erkennt, wie schlimm die Dinge stehen, wird er helfen. Ich weiß, dass er es tun wird.«

    »Also wirst du mit ihm reden?«

    »Ja.«

    Er winkt ihr zu, als sie den Hügel wieder hinaufrennt. »Möge das Geflügelte Auge über dich wachen!«

    Beim Abendessen klingt das Kratzen des Messers auf dem Teller scharf in den Ohren, die Essensgeräusche sind überlaut. Harms Neckereien sind gedämpft und die Aufmerksamkeit ihres Vaters ist auf das Essen gerichtet, das er kaum anrührt. Vesper sieht kurz zu ihnen hinüber und kann ihre Chancen nicht einschätzen. Sie versucht es trotzdem.

    »Ich hatte gedacht, jetzt, da ich älter bin, ist es vielleicht an der Zeit, dass ich mehr von der Welt sehe.«

    Ihr Vater runzelt finster die Stirn.

    Harm greift nach ihrer Hand, findet sie und drückt sie. »Dein Vater und ich haben uns vor ein paar Tagen erst darüber unterhalten, wie schnell du heranwächst. Scheinbar jedes Mal, wenn wir dir nur kurz den Rücken zuwenden!« Das Gesicht ihres Vaters wird noch finsterer. »Aber um dort draußen nicht in Gefahr zu geraten …« Er nickt in Richtung der Strahlenden Stadt. »… glauben wir, dass du erst noch ein paar Dinge lernen solltest. Um sicherzugehen …«

    »Wie wäre es, wenn ihr mit mir kommt? Ihr beide. Wir könnten zur Strahlenden Stadt gehen. Sie ist nicht weit. Auf die Weise könnte ich etwas sehen und ihr wüsstet, dass ich wohlauf bin.«

    Ihr Vater steht auf, sammelt die benutzten Teller ein und Harm antwortet: »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

    Vespers Gesicht verfinstert sich. »Es ist nie der richtige Zeitpunkt.«

    »Ich weiß, dass es so scheint.«

    »Ich bin kein Kind mehr.« Ihr Vater sieht sich bei diesen Worten mit erhobener Augenbraue um. »Das bin ich nicht! Ich weiß, dass etwas vor sich geht! Und ich will helfen.«

    Sie spürt, wie das Gewicht ihrer Aufmerksamkeit auf ihr lastet, und zögert. »Ein Mann von den Lupen hat heute mit mir gesprochen. Er sagte, dass die Dinge sich zum Bösen wenden. Er sagte, dass du wieder ein Held sein musst, wie du es früher warst, und ich will mit dir gehen.« Ihr Vater schüttelt den Kopf und sie gerät ins Stocken. Als sie ihre Stimme wiederfindet, ist sie

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