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Lass ruhn zu deinen Füßen: Kriminalroman (Michael Held Krimi - Reihe Band 1)
Lass ruhn zu deinen Füßen: Kriminalroman (Michael Held Krimi - Reihe Band 1)
Lass ruhn zu deinen Füßen: Kriminalroman (Michael Held Krimi - Reihe Band 1)
Ebook220 pages3 hours

Lass ruhn zu deinen Füßen: Kriminalroman (Michael Held Krimi - Reihe Band 1)

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About this ebook

Pfarrer Michael Held hat ein Mitglied des Presbyteriums zu beerdigen: Landwirt Walter Meier. Kurz danach erhält er anonyme Briefe, in denen von Mord die Rede ist, und davon, dass der Täter in der Familie des Toten zu suchen ist. Besonders tragisch: Nur eine Woche später kommt Walter Meiers Sohn Helmut auf die gleiche Weise ums Leben: Er stürzt ebenfalls von der Leiter. Held sucht den intensiven Kontakt mit der Familie Meier, deren nach außen hin intakte Fassade zu bröckeln beginnt. Der mutmaßliche Täter möchte sich ihm anvertrauen und der Pfarrer wartet in der dunklen Kirche auf ihn. Wird er kommen und beichten? Held befindet sich in einem Gewissenskonflikt.

LanguageDeutsch
Release dateOct 31, 2015
ISBN9783869115207
Lass ruhn zu deinen Füßen: Kriminalroman (Michael Held Krimi - Reihe Band 1)

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    Lass ruhn zu deinen Füßen - Christian Hartung

    Advent

    I. WALTER MEIER

    „Walter Meier, der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit! Amen."

    Michael Held, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Flemhausen im Hunsrück, wandte sich wieder der Trauergemeinde zu, die sich auf dem Hof drängte. Am dichtesten beim Sarg stand die Familie des Verstorbenen – ihr gegenüber der kleine Frauenchor und daneben der Musikverein; die Instrumente glänzten in der Frühlingssonne. Auf diesem Hof hatte Walter Meier gelebt und hier war er gestorben. Nach altem Brauch wurde er vor seinem Haus ausgesegnet, bevor man ihn zum Friedhof trug.

    Einen kurzen Moment lang konnte sich der Pfarrer eines heimlichen Triumphgefühls nicht erwehren, weil er hier stand und lebendig war und Walter Meier dort im Sarg lag und tot war.

    „Lasst uns den Leib unseres Verstorbenen zur letzten Ruhestatt bringen!"

    Paula Meier, die alte Mutter, zitterte beim Aufstehen von dem Stuhl, den man ihr hingestellt hatte, und stützte sich auf ihren Stock. Einundneunzig Jahre, von denen sie nie mehr als das Nötigste preisgab, hatten ihren schmalen Rücken leicht gebeugt, doch sie hielt sich aufrecht. Von ihren drei Söhnen hatte sie nun schon zwei verloren. Werner, der Mittlere, war im vergangenen Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Und jetzt Walter, der Älteste. Peter, der Jüngste, der sie am Arm führte, ähnelte ihr sehr. Er war unverheiratet und lebte in einem der Nachbardörfer – offenbar von nichts weiter als einer kleinen Bienenzucht und Gelegenheitsarbeiten für die Gemeinde. Ähnlich wie seine Mutter ließ er sich von keinem in die Karten schauen. Von Walter dagegen sagten die Leute, er sei „ganz der Vater". Zumindest das jähzornige Temperament des alten Meier hatte sich unverändert auf den ältesten Sohn vererbt, wenn man den Geschichten glauben durfte, die auch noch mehr als dreißig Jahre nach Emil Meiers Tod über ihn erzählt wurden.

    Held warf einen letzten Blick auf die schlichten Gebäude des Aussiedlerhofes. Der Sarg war unweit der Stelle aufgebahrt worden, wo Walter Meier am Ostersamstag mit der langen Leiter umgestürzt war, als er die Dachrinne säubern wollte. Bis zum Dach waren es bestimmt sieben oder acht Meter und er war fast ganz oben gewesen, als er plötzlich nach hinten gefallen war. Fremdverschulden hatte die Polizei ausgeschlossen; Walter Meier hatte die Leiter sehr steil angelehnt, außerdem hatte er ein gutes Gewicht. Keiner konnte verstehen, dass er die Leiter nicht von jemandem hatte festhalten lassen, doch er ließ sich ja nie in etwas hineinreden. Die ganze Familie war im Haus gewesen. Sie hatten ihn schreien gehört; als sie dazu kamen, lag er auf dem Boden. Er war mit dem Kopf auf eine niedrige Betonmauer auf dem Hof aufgeschlagen und dann trotz einer Notoperation im Krankenhaus gestorben.

    Dieser Tod passte zu Walter Meier: laut, gewaltsam, durch nichts aufzuhalten. So kannte man ihn. So war er auch in seinem Amt als stellvertretender Vorsitzender des Presbyteriums, des Leitungsorgans der Kirchengemeinde, gewesen. Der Pfarrer hatte ihn gewähren lassen. Selbst schmächtig und nicht besonders groß, mied Held die offene Konfrontation. Er hatte sich machtlos gefühlt gegenüber Meiers selbstverständlichem Herrschaftsanspruch, machtlos auch gegenüber den stillen Verabredungen im Presbyterium und überhaupt im Ort. Wenn es so für alle in Ordnung war, dann brauchte er nicht daran zu rühren.

    Doch insgeheim hatte er sich in den elf Jahren, die er jetzt Pfarrer in Flemhausen war, mehr als einmal gewünscht, Meier würde etwas zustoßen. Dabei hatte er durchaus auch einen Sturz von der Leiter in Erwägung gezogen. Natürlich keinen tödlichen. Doch schwere Verletzungen, die Walter Meier für den Rest seines Lebens ans Bett fesseln und es ihm unmöglich machen würden, sein Amt in der Kirche weiter auszuüben – diesen Wunsch hatte sich der Pfarrer durchaus gestattet.

    Er versuchte diese Gedanken abzuschütteln und folgte dem Sarg aus der Hofeinfahrt auf den Wirtschaftsweg, der in den Ort hinunterführte. Vom Meierhof aus, der auf der sanft zum Wald hin ansteigenden Anhöhe lag, hatte er ganz Flemhausen im Blick, das sich als Straßendorf quer durch die Senke am Bienenbach entlang zog. Der Wirtschaftsweg führte genau auf die kleine alte Kirche zu, die dort stand, wo das Gelände auf der anderen Seite wieder sanft anstieg. Es war eine der Dorfkirchen aus der Barockzeit, wie es sie in der Gegend mehrere gab. Neben ihr stand das nur wenige Jahre jüngere Pfarrhaus. Zwischen der Kirche und dem Pfarrhaus hatten Forsythiensträucher angefangen zu blühen, dahinter in dem großen, lang gezogenen Garten blühten die ersten Obstbäume. Nach dem späten Winter wurde es endlich Frühling, es war einer der ersten richtig sonnigen Tage. Bald würde alles in voller Blüte stehen; das viele Weiß würde mit dem frischen Grün und dem über die Wiesen verstreuten Löwenzahn das Farbenspiel geben, auf das Michael Held sich jedes Jahr nach dem nasskalten Winter freute.

    Der Beerdigungszug erreichte zwischen zwei großen Gärten die Flemhausener Hauptstraße. Von den alten Bauernhäusern mit ihren schieferverkleideten Obergeschossen standen noch die meisten, doch einige waren in keinem guten Zustand, andere mit Kunstschiefer oder mit Kunststoff- oder Eternitplatten verkleidet; die alten Fenster hatten in den meisten Häusern großen, nicht unterteilten Fenstern Platz gemacht.

    Von den Scheunen und Ställen der alten Höfe waren viele bereits abgerissen worden, die meisten übrigen standen leer, ein paar hatte man als Wohnungen ausgebaut. Walter Meier war einer der letzten Landwirte im Dorf gewesen; außer dem Meierhof gab es noch eine Handvoll Betriebe, davon die meisten im Nebenerwerb.

    Hinter sich hörte der Pfarrer die Schritte der Trauergemeinde und ein paar leise Gesprächsfetzen. Hier ging wirklich ein Abschnitt zu Ende. Meier war Mitglied in allen Vereinen gewesen. Aus der Feuerwehr war er freilich um Weihnachten ausgetreten. Den Turnverein hatte er schon im Sommer wutschnaubend verlassen – und den Musikverein wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil sein Vater einer der Gründer gewesen war und er es vorzuziehen schien, mit dem Austritt immer drohen und den Verein dadurch erpressen zu können. Für den Gemeinderat hatte er sich ebenfalls nicht mehr aufstellen lassen. Nur aus dem Presbyterium hätte er sich durch keine Macht der Welt verdrängen lassen.

    Der Zug hatte den Friedhof am Ende des Ortes erreicht. Die Träger hoben den Sarg vom Wagen und ließen ihn langsam an Seilen ins Grab hinab. Der Musikverein intonierte das Lied vom guten Kameraden. Dann trat der Pfarrer ans Grab.

    „Von Erde bist du genommen. Zu Erde sollst du wieder werden."

    Walter Meier, die Dorfgröße: auch er nur ein Stück Erde. Und dorthin wieder zurückgekehrt. Mit einem heftigen Fall. Doch ohne heftige Bewegungen und Geräusche war es bei Meier eben nie gegangen.

    Held nickte den Frauen des Frauenchores zu. An die zwanzig überwiegend ältere bis alte Frauen. Eine von ihnen stimmte zwei Töne auf einer Melodika an und zählte leise einen halben Takt vor.

    „So nimm denn meine Hände und führe mich …"

    Die Witwe, Elsbeth Meier, hatte im Beerdigungsgespräch gesagt: „Er hat doch immer alles gemacht. Ich durfte nie etwas machen. Ich kenn mich doch gar nicht aus. Wenn jetzt der Helmut nicht mehr im Haus wär ..."

    Für diese Frauen war der Mann noch der entscheidende Orientierungspunkt. Helmut Meier, der einzige Sohn des Verstorbenen, hatte nie eine andere Möglichkeit gehabt als sich diesem Bild fraglos zu fügen, das sein Vater in geradezu idealtypischer Weise verkörperte. Er war auf dem Hof geblieben, den Walter Meier gemeinsam mit dem eigenen Vater vor fünfzig Jahren gebaut und bis zuletzt mit dem Sohn als Vollerwerbsbetrieb geführt hatte. Dieser hätte sicher nur eine deutlich geringere Zahl an Milchkühen und Schlachtvieh im Nebenerwerb gehalten, wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, und hätte sich irgendwo eine Arbeit gesucht.

    „Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind …"

    Auch Helmut hatte nur einen Sohn, Andreas, einen blassen, stillen Vierzehnjährigen. Michael Held würde ihn zusammen mit seinem eigenen Sohn Aaron demnächst konfirmieren. Nach dem Tod seines Großvaters schien ihm der Junge noch stiller als vorher – ja, geradezu erstarrt.

    „ … bis an mein selig Ende und ewiglich!"

    Jetzt kamen die Kränze. Ganz genau war Held nicht informiert, mit wie vielen er zu rechnen hatte. Dem Presbyterium hatte er den Vortritt gelassen, die Ortsgemeinde würde einen niederlegen, vermutlich auch der Musikverein, bei den anderen Vereinen wusste er es nicht so genau. Erich Kunz würde den Kranz für das Presbyterium niederlegen und auch ein paar Worte sprechen. Er war als Kirchmeister der andere wichtige Mann im Gremium und für die Finanzen und Gebäude der Gemeinde zuständig. Ohne seine ruhige, vermittelnde Art hätte manche Sitzung in einem Eklat geendet. Er würde die passenden Worte finden; schon darum war Held froh, dass der Kirchmeister als Erster sprechen würde.

    Erich Kunz und die Presbyterin Renate Mohr legten den Kranz neben das Grab und richteten die Schleife. Der Kirchmeister holte ein zusammengefaltetes Papier aus der Innentasche seines Jacketts und entfaltete es.

    „Liebe Goot, liebe Elsbeth und lieber Helmut mit eurer ganzen Familie, liebe Trauergemeinde! Zweiunddreißig Jahre war Walter Meier im Presbyterium unserer Kirchengemeinde. Sechzehn Jahre davon war er stellvertretender Vorsitzender. In der Zeit, als Pfarrer Gutenberger krank wurde, und in dem Jahr, wo wir keinen Pfarrer hatten, leitete er das Presbyterium und war der erste Ansprechpartner für alle Fragen unserer Gemeinde. So konnte er unserem Pfarrer Held eine gut geordnete Gemeinde übergeben."

    Alles schön ausgedrückt – doch genau hier lag auch das Problem: Walter Meier hatte nie wirklich etwas übergeben. Er hatte nirgends sonst die ersten Ämter bekleidet, war nie Ortsbürgermeister und in keinem Verein mehr als Schriftführer gewesen. Aber im Presbyterium hatte man ihm seinen Platz eingeräumt und nie streitig gemacht, hier hatte er sogar eine Zeitlang den ersten Platz gehabt.

    Erich Kunz machte seine Sache sicher gut. Er umschiffte die schwierigen Stellen gekonnt und sprach die Leute sehr persönlich an. Und genau daran merkte Held plötzlich, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Kunz hatte als Personalchef eines größeren Unternehmens in der Kreisstadt eine wichtige berufliche Position errungen und gelernt, über den Flemhäuser Horizont zu schauen. Dennoch war er gebürtiger „Flemeser und durfte die alte Paula Meier „Goot nennen. Vielleicht war sie sogar tatsächlich seine Patin. Als einer, den es vom Nordrhein auf den Hunsrück verschlagen hatte, wusste Michael Held auch nach Jahren immer noch nicht genau, wer hier mit wem wie zusammenhing, und bekam manche Untertöne und zwischen den Zeilen Gesagtes nicht mit. Er gehörte nie wirklich dazu. Seine Frau Doris hatte es als Buchhändlerin da einfacher. Sie ging zu festen Zeiten nach Simmern in den Laden, in dem sie halbtags angestellt war, und ihre Kunden kamen und gingen, niemand erwartete, dass sie mit ihnen auch lebte.

    Kunz war fertig mit seiner Ansprache und drückte den Familienangehörigen die Hand. Der Ortsbürgermeister Werner Berthold trat vor, ein schwerfälliger Mann, der bei solchen Gelegenheiten kaum seine Emotionen unterdrücken konnte. Es war bekannt, dass es zwischen ihm und Walter Meier gerade zuletzt starke Spannungen gegeben hatte, doch jetzt sprach er mit zitternder Stimme nur vom „lieben Walter". Man war eben unter sich.

    Nachdem auch der Vorsitzende des Musikvereins gesprochen hatte, wartete Held einen Augenblick; er wusste, dass das Ausbleiben eines Grußes vom Turnverein und der Feuerwehr als Affront aufgefasst werden musste. Als jedoch nichts mehr kam, trat er wieder einen Schritt vor und forderte die Angehörigen und übrigen Versammelten auf, Abschied zu nehmen. Er drückte den Angehörigen die Hand und fand für jeden ein paar persönliche Worte. Er nahm auch Andreas’ Hand, der sie ihm schlaff und geradezu willenlos überließ. Dann sagte er mit etwas erzwungener Munterkeit: „Na, in zehn Tagen wirst du konfirmiert! Dein Großvater hat sich darauf gefreut und er möchte bestimmt, dass es trotzdem ein großartiges Fest wird!" Andreas riss die Augen auf und starrte ihn an. Verwirrt, verlegen und ohne noch etwas weiter zu sagen, entzog Held dem

    Jungen Hand und Blick und verließ den Friedhof.

    Mit raschen Schritten ging er den Weg über die Hauptstraße zurück zur Kirche. Dort waren schon die ersten eingetroffen. Er grüßte die Küsterin mit flüchtigem Händedruck und ging nach vorne, wo er sein Konzept bereit gelegt hatte, blätterte und las, ohne etwas aufzunehmen.

    Durch die ungefärbten Scheiben der Chorfenster tauchte die Sonne den Raum in helles und warmes Licht. Vor ein paar Jahren war die Kirche zur Zweihundertfünfzig-Jahr-Feier innen komplett neu gestrichen worden. Walter Meier hatte einen Cousin, der im Finanzausschuss des Kirchenkreises saß. Diesem Umstand schrieb man allgemein den recht hohen Zuschuss zu, den der Kirchenkreis der Gemeinde gewährt hatte.

    Also selbst hier Walter Meier. Held fand keine richtige Ablenkung. Er würde sich dem Toten stellen müssen, dem er sich als Lebendem nie wirklich gestellt hatte. Er würde sich auch der Tatsache stellen müssen, dass er sich so oft gewünscht hatte, Walter Meier los zu sein. Nun war es so weit. Was würde er daraus machen?

    Die Familie des Verstorbenen war gekommen, der Gottesdienst konnte beginnen. Die Leute schätzten seine persönlichen Ansprachen in den Beerdigungsgottesdiensten. Und natürlich hatte er sich diesmal besondere Mühe gegeben. Doch er stand schon nicht mehr ganz hinter dem, was er nachher sagen würde. Es würde die Predigt sein, welche die Menschen hören wollten. Sie würde niemanden beunruhigen oder gar stören oder wenigstens herausfordern. Er würde nichts Neues über Walter Meier sagen – und nicht einmal das, was alle wussten.

    Die Mutter hatte ihn auf den Arm genommen und strich ihm über den Kopf. Die Brüder standen neben ihr. Sie waren ja schon groß. So schauten sie dem Vater entgegen.

    Alles am Vater war grau. Die Sachen, die Haut, die sich über die Knochen spannte, selbst die Augen wirkten grau.

    Er drückte sich fester an seine Mutter. Sie strich ihm weiter über den Kopf. So als merkte sie gar nicht, was sie da tat. Oder als wollte sie sich daran festhalten.

    Der Vater beugte sich zu den Brüdern herab. Dabei lächelte er sogar. Es war ein graues Lächeln, grau wie alles, was er aus dem Krieg mitbrachte, aber doch ein Lächeln. Für die Mutter hatte er kein richtiges Lächeln. Und ihn beachtete er gar nicht. Stattdessen ließ er seinen Blick langsam über den ganzen Hof gehen. „Dat wird Zeit, dat hier mal wieder ääner richtig schaffe dut!", sagte er. Seine Stimme klang genauso grau wie alles andere. Dann ging er ohne ein weiteres Wort und ohne jemand anzublicken ins Haus.

    Das Gefühl, Entscheidendes nicht gesagt zu haben, ließ Michael Held auch nach dem Gottesdienst nicht los, als die Trauergemeinde langsam die Kirche verließ. Es gab noch eine andere Predigt außer der, die er gerade gehalten hatte. In dieser anderen Predigt ging es um Machtspiele auf Dorfniveau, um falsche Rücksichtnahme auf der einen und entsprechende Rücksichtslosigkeit auf der anderen Seite. Es war nicht nur eine Predigt über Walter Meier, noch nicht einmal eine über das gesamte Gefüge in Dorf und Gemeinde, das es Meier ermöglicht hatte, seinen bestimmten Platz einzunehmen – es war vor allem eine Predigt über ihn selbst. Eine Predigt über den Mann, der Walter Meier gegenüber nur Ohnmacht fühlte. Und das war wohl der entscheidende Grund, warum er diese Predigt immer noch nicht gehalten hatte.

    Er hätte es wissen können, dachte er und legte seine Sachen zusammen; er hätte es wissen können, als er vor elf Jahren zum ersten Mal hier neben Walter Meier gestanden hatte – ein junger Theologe mit einer schwangeren Frau und einem kleinen Kind. Vielleicht hatte Meier eine Schwäche für schwangere junge Frauen gehabt, jedenfalls hatte er Doris Held ausgesucht reizend und zuvorkommend behandelt. Sie hatte noch weniger als ihr Mann gewusst, worauf sie sich hier einließen. Held sah das Bild, das sie abgegeben haben mussten, deutlich vor sich: zwei junge Menschen mit ihren Ideen, Hoffnungen und Vorstellungen und vor allem dem Wunsch, einen Ort zu finden, an dem sie mit ihren bald zwei Kindern gut leben konnten. Flemhausen zeigte sich an diesem Junisonntag von seiner schönsten Seite, überall blühten Rosen und andere Blumen und das alte Pfarrhaus mit seinem verwilderten Garten war ihnen wie ein verwunschenes Schlösschen erschienen.

    So standen sie hier in der Sonne, die durch die großen Chorfenster fiel, mit Walter Meier zusammen – einem Gutsherrn aus früherer Zeit, der gerade einen jungen und natürlich bettelarmen Kandidaten der Theologie in seine erste Landpfarrstelle einwies. Meier hatte sicherlich gespürt, dass ihm hier keine wirkliche Konkurrenz erwuchs. Dieser junge Pfarrer würde sich in die Arbeit in der Kirchengemeinde knien; er würde mit seiner jungen Familie im Dorf das alte Ensemble um Kirche und Pfarrhaus in schöner Weise vervollständigen und mit Leben füllen – doch er war kein Kämpfer, keiner, der sich die freundlichen oder auch hochmütigen Anmaßungen Meiers verbitten und diesen gar von seinem Platz verdrängen würde. Walter Meier hatte Recht behalten, wenn er auch die Eigenständigkeit und Standfestigkeit des Pfarrers unterschätzt haben mochte. Doch Held vermochte Meier nicht beiseite zu schieben – nicht einmal, nachdem ihm der Tod zur Hilfe gekommen war.

    Er betrat das Pfarrhaus durch den zur Kirche hin gelegenen Nebeneingang, der in den Raum führte, den sie für Sitzungen und den Unterricht nutzten. Von dort kam er über das kleine Gemeindebüro direkt in sein Arbeitszimmer. Der Gemeinderaum und das Büro lagen zur Straße

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