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Oleander - Vom Lesen und Töten
Oleander - Vom Lesen und Töten
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Ebook287 pages3 hours

Oleander - Vom Lesen und Töten

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About this ebook

Die Wanduhr schlug drei. Ein loderndes Feuer knackte im Kamin. Im Speisesaal der Villa Oleander hatten sich die Hinterbliebenen an der großen Eichenholztafel versammelt. Nach der feuchten Kühle auf dem Friedhof genossen alle die Wärme des Feuers. Die Gesellschaft schwieg. Als das Testament verlesen ist, herrscht helle Aufregung, denn das verstorbene Oberhaupt der Oleanders hat verfügt, dass sich der Rest der Familie sein Erbe redlich verdient soll – mit Hilfe einer besonderen Schnitzeljagd durch die Hausbibliothek. Was jedoch als Spiel auf hohem Niveau beginnt, endet in einem tödlichen Spießrutenlauf...

LanguageDeutsch
Release dateNov 15, 2015
ISBN9783898418553
Oleander - Vom Lesen und Töten

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    Oleander - Vom Lesen und Töten - Jan Büchsenschuß

    Stammbaum der Familie Oleander

    Prolog - 1970

    Unweit der Spree, Berlin, Oktober 1970

    Ermattet ließ er sich zur Seite fallen. Regen perlte in großen Tropfen gegen die Fensterscheiben. Es donnerte in der Ferne.

    „Auch eine?" Sie drehte sich zu ihm um und zündete sich dabei eine Zigarette an.

    „Rauchen im Bett ist gefährlich." Er schaute gedankenverloren zur Decke und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

    „Gefährlich ist es, wenn die Bude brennt. Nicht der Sargnagel in meiner Hand."

    „Eins führt zum anderen. Schau dir Hendrix und Janice Joplin an."

    Sie zog an ihrer Zigarette und lachte. „Sie sind gestorben, weil sie geraucht haben? – Das ist absurd. Statt immer nur in den Büchern zu lesen, solltest du auch mal dein Ohr auf die Eisenbahnschienen unserer Zeit legen, um den Beat der Moderne hören zu können."

    „Wie weise du klingst, Sarah."

    Sie setzte sich auf. „Warum schaust du mich dabei so an, dass ich denke, du machst dich über mich lustig? – Wenn du so weitermachst, erzähle ich deiner Frau von mir – und von dir."

    Er blickte träge aus dem Fenster. „Ist das eine Drohung, oder machst du dich jetzt über mich lustig?"

    „Nie weiß ich, wann du etwas im Ernst sagst und wann du ironisch bist."

    „Manchmal weiß ich es selbst nicht. – Und es ist mir egal, ob und was du meiner Frau erzählst. Sie ist wie ich mit einer erlesenen Verachtung gegenüber jeglicher Moral ausgestattet."

    „Und warum bist du dann hier bei mir?"

    „Moralverachtung geht nicht zwangsweise mit Attraktivität einher."

    „Und ich? – Bin attraktiv und moralisch?"

    „Warum denkt ihr normalen Menschen immer nur, dass bei einer Verneinung das genaue Gegenteil richtig sein muss? Der Mensch ist viel zu kompliziert, um immer nur dies oder das zu sein."

    „Du willst mich einlullen."

    „Moral ist die Summe abstrakter Normen, die kein Mensch dauerhaft erfüllen kann. Soziales Ziel ist es lediglich, den meisten in grober Form nach außen hin nahe zu kommen. Etwas anderes ist es jedoch, wenn es um die eigene emotionale Mitte geht."

    „Verletzte Gefühle sind stärker als moralische Normen und Formen."

    Nun setzte auch er sich auf. „Ach Sarah, jetzt predigst du Wein, obwohl du genau weißt, dass die Menschen nur Wasser mögen."

    „Du bist nicht so kalt und einzigartig, wie du mich glauben machen willst. Du hast eine Frau und zwei Kinder; du bist ein gefühlvoller Liebhaber, und du trittst vehement für einen besseren Umgang mit Tieren ein."

    „Sarah, du verwechselst Amoralität mit Gefühlskälte. Das ist jedoch völlig falsch. Das Gegenteil erscheint mir viel folgerichtiger. Amoralität bedeutet starke Gefühle, gegensätzliche Gefühle, Hass, Liebe, Verehrung und Verachtung – alles ist möglich in einem amoralischen Herzen. Dass ich Tieren den Vorzug vor vielen Menschen gebe, liegt an der verlogenen Frömmelei und Gefühlsduselei des Menschen. Nur Tiere sind dank ihrer Instinkthaftigkeit fähig zu absolut ehrlicher Amoralität. Das finde ich faszinierend."

    „Da fällt mir ein: Hast du schon gehört, dass Remarque vor zwei Wochen gestorben ist?"

    „Selbstverständlich. Wie kommst du jetzt darauf?"

    „Es fiel mir nur so ein. Da dir Musiker wie Hendrix nicht so nahestehen, ist es bei einem Romanautoren doch vielleicht etwas anderes, oder?"

    „Na ja, Remarques literarischer Ruhm basiert auf dem Leid, das andere im Krieg erleiden mussten. Der feine Herr Autor hat von dem, was er so detailliert und grauenhaft beschrieben hat, fast nichts selbst erlebt. Er war genau so ein elender Moralapostel mit sauberer Weste wie Thomas Mann, als er unter der friedlichen Sonne Amerikas gegen die Deutschen des Dritten Reiches schrieb. – Wie großartig war dagegen Goethe, der sich, als die vereinigten Deutschen begannen Napoleon zu vertreiben und die Dichter Schmäh- und Hetzlieder am laufenden Band auf die Franzosen dichteten, mit orientalischer Poesie befasste und seinen West-Östlichen Diwan schrieb. Das ist wahre Größe. Und nicht so ein kleinbürgerlicher Anprangerer wie Remarque – auch wenn er, zugegebenermaßen, amüsant schreiben konnte. – Liegen dir sonst noch aktuelle Themen auf der Zunge, mit denen du mich langweilen willst?"

    „Brasilien ist Fußballweltmeister."

    „O Gott." Er faltete theatralisch die Hände und schaute frömmelnd zur Decke.

    „Ha, wenn es um den Bodensatz der Trivialität geht, kriechst auch du zur Religion zurück."

    „Du hast mich eiskalt erwischt. Aber was heißt hier zurück? Ich war nie da."

    „Dann pass mal auf: Die Beatles haben sich aufgelöst ..."

    „O Gott, o Gott ... zwing mich jetzt nicht, das Vaterunser zu beten!"

    „Ist schon recht. Aber sag mal, was hältst du eigentlich von den neuen Revolutionären, die sich – wie hießen sie noch gleich? – Rote Armee Koalition ..."

    „Fraktion. Rote Armee Fraktion ..."

    „Meinetwegen. Dann eben Rote Armee Fraktion nennen?" Sie zündete sich noch eine Zigarette an.

    „Da steige ich ehrlich gesagt nicht ganz durch. Einen demokratischen Sesselpupser-Begriff wie Fraktion in Verbindung mit der Roten Armee zu bringen, deutet meines Erachtens auf ein gehöriges Maß an Gehirnfönigkeit hin ..."

    „Gehirn...fönigkeit?"

    „Ja, halt warmen Wind im Schädel. Man kann sich nicht mit dem Mäntelchen einer Staatsarmee bedecken und gleichzeitig gegen den Staat vorgehen wollen. An ihrer Stelle sollten sie lieber mit der IRA oder der PLO liebäugeln. Aber eigentlich interessiert mich diese Idiotenbande nicht. Sie sind geistlos."

    „Sie haben klare Ziele."

    „Radikale Studenten haben keine klaren Ziele, sondern ein klares Defizit an Intellekt und Benimm."

    „Sag mal, so alt, wie du klingst, bist du doch noch gar nicht. Und seit wann haben Intellekt und Benimm etwas miteinander zu tun?"

    „Gar nichts. Ich wollte nur sagen, dass die Defizite sehr breit gefächert sind. – Ach komm, Sarah, müssen wir uns jetzt über derlei Banalitäten unterhalten? Ich werde erst wieder in ein paar Wochen Zeit haben. Es ist schade um jede Minute, die wir so verplempern."

    „Jetzt sprichst du wie ein richtiger Romantiker."

    „Ein amoralischer Romantiker wohlgemerkt."

    „Gut, ein amoralischer eben. Dann treffe ich jetzt wohl die richtige Saite in dir."

    „Wie meinst du das?"

    „Ich bin schwanger."

    Schweigen.

    „Du hast gehört, was ich gesagt habe? Ich bin schwanger – von dir! Hanni bekommt Gesellschaft."

    „Du willst schwanger sein und rauchst wie ein Schlot? Erzähl mir doch keinen Blödsinn!"

    „Das ist ... ist ..., sie drückte hastig ihre Zigarette aus, „ist dumme Gewohnheit. Ich würde nie ... Wie ... – was tust du?

    „Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Sieh zu, wie ... wie das da verschwindet. Keine Diskussionen! Und schau mich nicht so wie ein blöder Backfisch an. Mach’s weg, oder hör auf zu rauchen, aber wage es nicht, jemals zu behaupten, dass dieses ... dieses Ding da von mir wäre! – Ich melde mich."

    „Aber ... aber, Simon ..."

    Draußen donnerte es erneut, und der Regen wurde wieder stärker.

    Freitagnachmittag

    Villa Oleander, Mai 2012

    Die Wanduhr schlug drei. Ein loderndes Feuer knackte im Kamin. Im Speisesaal der Villa Oleander hatten sich die Hinterbliebenen an der großen Eichenholztafel versammelt. Nach der feuchten Kühle auf dem Friedhof genossen alle die Wärme des Kaminfeuers. Jemand schniefte. Der Hausdiener Stan hatte Tee serviert und begann nun exotische Spirituosen in eleganten Kristallkaraffen bereitzustellen. Auf einem Biedermeier-Buffet neben dem Durchgang zur Küche brodelte ein Samowar. Die Gesellschaft schwieg. Jeder hing seinen Gedanken nach, während er an seiner Teetasse oder seinem Tumbler nippte.

    Der Notar Benjamin Kupferpfennig saß mit majestätischem Vollbart und der enormen Fülle seines Körpers bequem in einem englischen Ledersessel. In exakt zwölf Minuten würde er das Testament eröffnen und den offiziellen Teil den Hinterbliebenen vorlesen. Mit erhobenen Brauen und sich aus einer Karaffe bedächtig nachgießend, beobachtete er die Familie Oleander.

    Ihm gegenüber, am anderen Ende der Tafel, saß Hagen, der jüngere Bruder des Verstorbenen. Auffällig an der drahtigen und bleichen Erscheinung war die unnatürliche Steifigkeit, besonders in den Partien des Oberkörpers. Hagen hatte trotz seines Alters volles, graumeliertes Haar, das er zu einer merkwürdigen Tolle gekämmt hatte. Hinzu kamen ein übertrieben hoher, weißer Stehkragen und ein ebenfalls graumelierter Spitzbart. Mit blutunterlaufenen Augen und entzündeten Mundwinkeln trank er seinen Whisky in großen Schlucken.

    Links neben Hagen saß seine Frau Dörte, eine geborene Langhals. Ihre aufrechte Sitzhaltung und der künstliche Leberfleck über ihrem rechten Mundwinkel demonstrierten ihre kulturelle Übereinstimmung mit dem aristokratisch-dekadenten Auftreten ihres Mannes. Auffällig an ihr waren die mandelförmigen, grüngrauen Augen und ihre laute Stimme. Selbst wenn sie etwas flüsterte, begann die schwere Tischplatte unter ihrer sonoren Stimme leicht zu vibrieren.

    Neben Dörte saßen ihre beiden Kinder Gabriel und Elke sowie Elkes Mann Albert Emsig. Gabriel war Witwer. Er hatte seine Frau Ottilie, geborene Graz, bereits vor Jahren durch einen Unfall verloren. Mit eingefallen Wangen und schütterem Haar, ein wenig wie Fred Astaire aussehend, saß er neben seiner Mutter und betrachtete gedankenverloren die Maserung des Tisches. Seine Hand zitterte, wenn er trank.

    Seine Schwester Elke neben ihm war in ihrer Körperfülle hingegen eine barocke Erscheinung. Ihre Rubensfigur wurde durch ein eng anliegendes Kleid zusätzlich unvorteilhaft betont. Ihre blonden Locken zwangen einen einfach an eine aufgedunsene Version von Miss Piggy zu denken. Die dick aufgetragene Wimperntusche war verlaufen, geistesabwesend aß sie Butterkekse zum Tee.

    Ihr Mann Albert war dagegen eine im positiven Sinne unauffällige Gestalt. Da er gleich neben Kupferpfennig saß, betrachtete dieser ihn nur verstohlen aus den Augenwinkeln. Landläufig hätte man Albert mit seinem dunklen Teint, seinen fast schwarzen, modisch frisierten Haaren und den breiten Schultern als durchaus stattlichen, ja attraktiven Mann bezeichnet. Was man Albert auf den ersten Blick nicht ansah, war der ins Absurde tendierende Schalk, den er offensichtlich nicht kontrollieren konnte und der sein Gegenüber zuweilen zur Verzweiflung brachte.

    An der anderen Längsseite der Tafel saßen die Familienmitglieder aus dem Zweig des Verstorbenen Simon. Da dessen Frau Regina, geborene Herzog, bereits vor drei Jahren auf beunruhigende Weise einem Krebsleiden erlegen war, waren seine drei Kinder Ursula, Berthold und Siegfried nun elternlos.

    Rechts von Hagen saß Ursula, selbst im monochromen Trauerflor elegant gekleidet. Ihre modische Frisur wurde durch ein schwarzes Haarband im Stil der Zwanziger Jahre verwegen betont. Ihre breiten und kräftigen Finger wirkten dagegen kontrastierend abstoßend. In ihrem Mundwinkel wippte eine dünne E-Zigarette, aus der kleine Dampfwölkchen emporstiegen. Auch sie hatte ihren Mann Günther Hase unter mysteriösen Umständen verloren. Bald nach dessen Tod nahm sie den Namen Oleander wieder an.

    Neben Ursula saß ihr Bruder Berthold mit seiner Frau Helen. Beide waren äußerlich ein ähnliches Gespann wie Elke und Albert, nur dass hier Helen trotz ihrer knapp fünfzig Jahre mit ihren halblangen, glatten, blonden Haaren und einer auffällig geformten, schwarz geränderten Brille von einer umwerfenden Schönheit und Eleganz war, während Bertholds fülliges Gesicht unter seinem krausen, roten Haar vor Schweiß glänzte – der große Kamin loderte genau in seinem Rücken. Die hohe Stirn und die stramm gebundene Krawatte verliehen seinem Kopf das Aussehen eines Luftballons, der in absehbarer Zeit zu zerplatzen drohte.

    Neben Helen thronte in angespannter Körperhaltung Siegfried. Obwohl kein schöner Mann, war er ausgesprochen elegant im Stil der Jahrhundertwende gekleidet. Sein schütter werdendes Haar hatte er geschickt pomadisiert und gescheitelt, sein Schnurrbart war sauber gestutzt, und vor seinem linken Auge klemmte anachronistisch ein Monokel, welches seinem Gesicht zusätzlich eine gewisse Härte verlieh. Siegfried war Junggeselle. Diese Tatsache und diverse Gerüchte über ins Perverse tendierende sexuelle Ausschweifungen – man munkelte von käuflicher Liebe und Transvestiten – ließen ihn in einer Aura des Dekadenten und Verruchten erscheinen, welche er mit seiner dandyhaften Erscheinung offenbar provokant zu unterstreichen suchte.

    Neben Siegfried, direkt zur Rechten des Notars, saß Siegfrieds Tochter Marie. Über Maries Mutter schwiegen die Anwesenden sich aus. Marie war erst mit fünfzehn Jahren von ihrem Vater anerkannt worden. Seitdem führte sie den Namen Oleander. Kupferpfennig betrachtete auch sie nur aus dem Augenwinkel. Sie war eine blasse Erscheinung mit langem blonden Haar und vielen Sommersprossen im Gesicht. Ein nervöses Zucken der Augenlider wirkte, verstärkt durch die Gläser ihrer Brille, auf den ersten Blick irritierend.

    Kupferpfennig wollte gerade Betrachtungen über gewisse physiognomische Familienähnlichkeiten der Oleanders anstellen, als ihm der uralte Hausdiener dezent auf die Schulter klopfte und ihm zuflüsterte: „Herr Kupferpfennig, es ist so weit."

    Tatsächlich, die Zeiger der Wanduhr waren in Position. Mit einem Ächzen begann sich Kupferpfennig zu erheben und in würdevoller Körperhaltung das Siegel des Testaments vor aller Augen zu brechen.

    In der Runde der Anwesenden wurde es noch stiller. Kein Wort. Kein Hüsteln. Kein Atmen. Gebannt starrten alle auf den voluminösen Leib und den das Gesicht dominierenden Bart des Notars. Dieser befeuchtete noch einmal demonstrativ seine Lippen, als er das handgeschriebene Dokument entfaltete, räusperte sich geräuschvoll, streckte theatralisch seine Brust und seinen enormen Bauch nach vorn, so dass die Knöpfe seiner Weste wie Raketen in den Raum zu schießen drohten. Er fasste sich mit der rechten Hand seitlich an den Hosenbund und begann laut vorzulesen:

    „Feversen, 08.10.2010

    Meine lieben Verwandten, meine Brüder und Schwestern im Zeichen der Amoralität und des freien Geistes. Innerer Kreis der Lex Oleandrin.

    Alles bedeutet nichts, haben wir immer gesagt. Konvention bedeutet nichts, Ruhm bedeutet nichts, Macht bedeutet nichts, Reichtum bedeutet nichts. Aber auch wenn alles nichts ist, wird es doch von einem ‚trotzdemʻ begleitet. Und dieses Trotzdem ist der Grund, warum Ihr hier seid. Denn das Geld kam trotzdem zu mir – Ihr wisst es, es ist so Tradition. Aber was liegt an Traditionen. Sagt die Lex nicht auch, dass sie dumm sind? Und Dummheit darf nicht toleriert werden! Das war unser Grundsatz zu allen Zeiten. Die Gemeinschaft der Oleanders duldet keine Dummheit. Dummes Blut muss vernichtet werden. Es widerspricht unserem Ideal. Unser Gott ist der Geist des Wortes, nicht der der Offenbarung oder des Glaubens. Am Anfang war das Wort – nicht mehr; reine Bedeutung aus sich selbst heraus.

    Warum, meine Lieben, quäle ich Euch mit dieser Litanei? Ihr kennt unsere Gesetze und Regeln schließlich. Nun, ich muss mich vergewissern, dass Ihr mich recht versteht. Denn bei aller ehrlichen Melancholie, die ich Euch mal unterstelle, seid Ihr sicher gespannt darauf, ob ich mein – wie sagt man? – stolzes Vermögen gemäß der Lex vererben möchte. Und richtig, ich tu es nicht.

    Gemäß der Lex wäre Hagen der Erbe, aber ich will, dass Ihr alle etwas tut und Euch das Geld redlich verdient, sonst ist es weg! So sieht’s aus, Freunde!

    Ich bin es der Lex Oleandrin schuldig. Deshalb müsst Ihr zunächst ein Passwort ermitteln, welches Euch Zugang zu meinem Vermögen – meiner Villa auf dem Berg, in der Ihr Euch gerade befindet, meinen sogenannten Ländereien in der alten Mark, all meine Sammlungen und, natürlich, mein übriges Vermögen, das augenblicklich etwa 135 Millionen Euro wert ist – verschafft.

    Die zu lösende Aufgabe ist für einen Oleander ganz simpel: Wer bis zum Sonntag die Kombination meines Safes herausbekommen hat, wird darin eine Nachricht finden. Dort steht, was derjenige zu tun hat, damit Ihr das Erbe erhaltet. Sollte der Safe bis Mitternacht von Sonntag zu Montag verschlossen bleiben und demnach keiner die Kombination herausbekommen haben, ist der Notar angewiesen, mein gesamtes Vermögen der Feversener Stadtbibliothek zu spenden. Sollte einer von Euch auf sein juristisch mit Gewalt durchsetzbares Pflichterbe bestehen, bekommt zunächst keiner etwas. Das Erbe geht an die Bibliothek, und meine Anwälte sind angewiesen, die entsprechenden Prozesse zu führen. Ihr seht also, ich meine es ernst mit meinem Spiel. Aber was liegt an allem Ernst? Macht’s Euch bei mir gemütlich, lest, redet, denkt, streift durch die Bibliotheken im Haus.

    Und apropos Bibliothek, Hinweise zur Kombination findet Ihr – wie sollte es anders sein? – in den Büchern. Und nur in den Büchern. Ihr kennt die Regeln unserer Gemeinschaft. Bei Fragen wendet Euch an den Notar. Dieser hat auch die juristisch einwandfreie, aber nur schwer verständliche Vollversion des Testaments verwahrt. Ihr bekommt eine beglaubigte Abschrift zugesandt.

    Viel Spaß und seid nicht theatralisch – solch konventionelle Moralitäten ziemen sich für Euch nicht,

    Euer Bruder, Vater, Onkel und Großvater Simon"

    Der Notar schaute auf, ließ das Blatt mit großer Geste auf den Tisch sinken und stützte nun auch die freigewordene Linke in die Hüfte. Stille im großen Saal. Das hatte er sich genau so vorgestellt. Einer guckte blöder in die Gegend als der andere. Er hob die Augenbrauen und griff zum Glas.

    „Werte Hinterbliebene, gibt es noch Fragen zum letzten Willen Simon Oleanders?"

    Ursula meldete sich zu Wort. „Na, schöner Sch...lamassel! Lasst uns nach Hause fahren, ich hab keinen Bock auf diese affige Schnitzeljagd. Das war doch eben nur wirres Gefasel."

    „Und das Abenteuer verpassen? Ächhem. Scheiß auf das Geld, aber wir können hier ein Wochenende lang in Simons Büchern stöbern."

    „Und wo ist denn hier überhaupt ein Wandsafe, nich?"

    „Also sowas!" Die Antwort kam von Dörte.

    „Niemand hat etwas von einem Wandsafe gesagt, warf Kupferpfennig ein und begann sich genüsslich und mit viel Zeit in den Ledersessel fallen zu lassen. „Sie kennen alle das ausgeprägte Interesse des Verstorbenen an technischen Spielereien? Der sogenannte Safe – wobei Safe nicht zu wörtlich verstanden werden sollte – ist in diesen antiken Tisch von einem Möbeltischler eingelassen worden. Hier, direkt vor mir, am Kopfende befindet sich ein kleiner Rechner mit einer absenkbaren Tastatur und einem Flachbildschirm. Sie geben hier die Kombination, das Passwort oder das Was-auch-immer ein und wenn es die richtige Lösung war, öffnet sich der Safe.

    „Schauen Sie sich doch mal die Größe dieses riesigen Tisches an. Wenn ich dort bei Ihnen die Kombination eingebe und, sagen wir, in der Mitte des Tisches der Safe aufgeht, kann sich doch jemand anders den Umschlag oder so schnappen. Das wäre doch nicht im Sinne des Testaments?" hakte Ursula noch einmal nach und ließ ihre Zigarette hektisch wippen. Ihre stahlblauen Augen leuchteten.

    Der Notar zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht mein Testament. Sie können sich aber darauf verlassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Dieser Tisch ist wie das ganze Haus – voller unergründlicher Geheimnisse. Ich weiß nicht genau, wo hier etwas eingebaut sein könnte, das einem Safe nahe kommt. Aber ich bin mir sicher, dass es etwas in der Art geben muss. Zudem steht es Ihnen allen ja frei, gemeinsam die Kombination zu finden und das Erbe unter sich halbwegs gerecht aufzuteilen oder aber, gemäß der Lex, an Herrn Hagen Oleander zu übertragen."

    „Aber Kupferpfennig, wie wissen Sie in der Nacht zum Montag, ob der Safe nun geöffnet werden konnte oder nicht?" Diese Frage kam von Hagen, der langsam aus seiner erhabenen Starre erwachte und sich nervös die linke Ellenbeuge kratzte.

    „Wurde der Safe sachgemäß, das heißt mit der richtigen Kombination geöffnet, verschickt der angeschlossene Rechner eine Nachricht an mein Handy. Bleibt der Safe bis Sonntag 23 Uhr 59 Minuten und 59 Sekunden verschlossen, erhalte ich eine andere Nachricht, und das Vermögen geht an die Bibliothek. Gleiches geschieht, wenn der Safe oder der Rechner zerstört wird und ich keine Nachricht erhalten sollte. Fragen Sie mich nicht nach technischen Details. Ich weiß, dass es funktioniert. Als Herr Simon Oleander vor anderthalb Jahren das Testament aufgesetzt hat, haben wir einen Test gemacht."

    „Deshalb heißt es ja auch Test-a-ment, nich."

    „Albert, bitte. – Dann haben Sie also doch gesehen, wo der Safe ist?" Die Frage kam aus der Weite des Speisesaales.

    „Nein, wir haben die Negativ-Variante gewählt. Nach Ablauf einer bestimmten Uhrzeit habe ich eine Nachricht mit dem Inhalt bekommen, dass der Safe nicht geöffnet wurde."

    Jetzt wurde es lauter im großen Saal. Entrüstete Hüsteler, verblüffte Backenbläser, Fuß- und Stuhlgescharre – das verdutzte Orchester begann sich zu regen.

    Kupferpfennig stand wieder mit übertriebener Geste auf. „Wenn

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