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Go down - Lauras Rache: Thriller
Go down - Lauras Rache: Thriller
Go down - Lauras Rache: Thriller
Ebook743 pages10 hours

Go down - Lauras Rache: Thriller

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About this ebook

Lange hat Laura auf diesen Tag gewartet. Zu lange hat sie mit ihrem Kind im Verborgenen leben müssen, immer auf der Flucht vor den Männern, die schon ihren Mann Alexander auf dem Gewissen haben und damit davongekommen sind. Zu lange musste sie mit ansehen, wie die ehemaligen Kollegen den Familienkonzern ausnehmen und ein luxuriöses Dasein in Deutschland und Südamerika führen.
Doch nun kann Laura nichts mehr aufhalten, und gemeinsam mit ihren engsten Vertrauten setzt sie ihren Racheplan um. Systematisch will sie ihre Widersacher ruinieren und einen nach dem anderen in die Knie zwingen...

LanguageDeutsch
Release dateJul 21, 2016
ISBN9783898419338
Go down - Lauras Rache: Thriller

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    Book preview

    Go down - Lauras Rache - Heidrun Bücker

    Anfang

    Die junge Frau, vielleicht gerade mal dreißig Jahre alt, stolperte hastig, fast unbeholfen, mit einem kleinen achtjährigen dunkelhaarigen Jungen an der Hand und einer Tasche über der Schulter zu der einmotorigen Maschine, die halbversteckt am Rande eines kleinen Rollfeldes stand. Die andere Hand presste sie auf ihre Schulter, Blut sickerte durch. Sie schien verletzt zu sein. Kurz vor dem kleinen Flugzeug wurden ihre Schritte langsamer, und nur mit Mühe erreichte sie die Maschine. Der Propeller rotierte bereits, eine Hand schnellte heraus und zog zuerst den Jungen und dann sie in das Flugzeug. Sie befand sich noch nicht ganz in der Maschine, als der Mann auch schon die Tür hinter ihr zuzog.

    Der kleine Flieger setzte sich augenblicklich in Bewegung, rollte eilig zur Piste, hatte die Ausgangsposition noch nicht ganz erreicht, als der Pilot beschleunigte. Augenblicke später hoben sie bereits ab. Keine Sekunde zu früh. Am Anfang der Rollbahn sahen sie einige Meter unter sich zwei Jeeps mit hoher Geschwindigkeit heranrasen. Zwei Männer sprangen aus den noch fahrenden Fahrzeugen und versuchten auf das Flugzeug zu schießen. Keiner der vier Passagiere schaute zurück oder nach unten, aus Angst, eine weitere Kugel könnte ihn treffen. Erschöpft schloss die junge Frau ihre Augen und dachte, das kann alles doch nur ein Albtraum sein! Der kleine Junge blickte sie angsterfüllt an, hielt sich krampfhaft am Sicherheitsgurt und an der Frau fest und sagte keinen Ton. Sie befanden sich noch nicht in Sicherheit, die Maschine gewann nicht so schnell an Höhe, wie sie es sich wünschten. Aber vorerst schien die Flucht geglückt.

    Die junge Frau presste immer noch eine Hand auf ihre Schulter, sie blutete stark. Der Begleiter holte einen Lappen unter dem Vordersitz hervor, reichte ihn nach hinten. Als das nicht half, zerriss er den dicken Sitzbezug, stieg nach hinten und drückte ihn als Kompresse zusätzlich auf die Wunde. Pilot und Begleiter sahen sich angsterfüllt an, beide wussten, wenn sie nicht bald Hilfe bekäme, würde sie verbluten.

    »Donde? – Wohin?«, fragte der Begleiter. »Julio?«

    »Si«, erwiderte der Pilot nickend, er konzentrierte sich auf seine Instrumente, und es schien, als ob er die Richtung wechselte.

    Kapitel 1

    Fünfzehn Jahre später

    Es würde wieder ein heißer Tag werden auf dieser kleinen Insel. Seit den frühen Morgenstunden arbeitete Laura im Garten, um die morgendliche Kühle auszunutzen. Das Grundstück und die Beete hatten es wieder mal nötig. Die selbstverordnete Beschäftigungstherapie tat ihr gut. Sie kniete vor einem der Blumenbeete, mit dem Rücken zum Gartentor. In ihre Träume versunken, besser gesagt, ihre Albträume, grübelte sie mal wieder über ihre Situation nach.

    »Hallo, Nachbarin«, hörte sie jemanden hinter sich sagen, »so früh schon im Garten?«

    Sie versteifte sich kaum merklich. Gut, dass sie der Stimme den Rücken zukehrte. Ganz ruhig bleiben, dachte sie, ganz ruhig. So in unschöne Gedanken versunken, hatte sie die Annäherung des neuen Nachbarn nicht registriert. Richtig, das Haus etwas weiter zum Strand hin. Sie hatte es vor einigen Tagen geputzt. Blitzschnell gingen ihr diese Gedanken durch den Kopf.

    »Sie haben ein sehr schönes Haus und auch einen wunderschönen Garten«, sagte die männliche Stimme.

    »Ja, der Garten ist sehr schön, allerdings ist es nicht meiner.« Sie sprach unfreundlich.

    »Ach, ich dachte, da Sie hier wohnen ...«

    »Nein, ich bin nur die Putze für die Häuser hier in der Ecke«, sagte sie etwas schnoddrig zu ihm, »und in diesem Haus bin ich außerdem noch die Haushälterin, falls Sie nichts dagegen haben.« Sie richtete sich langsam auf und drehte sich um. Er sah gut aus, sportlich, etwa in ihrem Alter, also Mitte vierzig. Wahrscheinlich warteten im Nachbarhaus seine Frau und drei Kinder auf ihn.

    »Ach so, ich dachte, Sie sind die Besitzerin, entschuldigen Sie bitte! Mein Name ist Thomas Kling. Aber alle nennen mich Tom. Ich bin zum Arbeiten hier, habe das Haus für drei Monate gemietet. Ach, übrigens«, er stutzte kurz, »haben wir uns schon mal gesehen?«

    »Die Besitzer haben mich informiert und gebeten, dort sauber zu machen, wie gesagt, ich bin hier die Putzfrau, mehr nicht, und gesehen haben können wir uns auch noch nicht, ich verlasse die Insel selten.« Ziemlich ungehalten wehrte sie sein freundliches Gespräch ab. Sie wollte keinen näheren Kontakt, daher drehte sie sich wieder um, zu ihren Pflanzen.

    »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht beleidigen oder belästigen, ich wollte nur freundlich sein«, murmelte er niedergeschlagen. Dann drehte er sich um und verschwand in Richtung Strand, zu seinem gemieteten Haus.

    Endlich, Laura atmete auf. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Keine hastigen Bewegungen, sagte sie sich. Langsam ging sie ins Haus. Erst dort gönnte sie sich eine Verschnaufpause. Sie lehnte sich von innen gegen die Haustür und atmete tief durch. Wie konnte ihr das passieren? Normalerweise war es hier einsam. Die Häuser standen weit auseinander, auf riesigen, großen Grundstücken, und die Eigentümer meldeten sich vorher bei ihr an, damit sie alles vor deren Ankunft putzte, oder, was selten vorkam, bevor sie es vermieteten. Mit Putzen in den umliegenden Häusern verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt. Also wusste sie immer, wann eines der Nachbargebäude vermietet wurde oder wenn die Eigentümer kamen. In diesem Haus bewohnte sie im Untergeschoss ein kleines Zimmer mit Bad und Kochnische. Wenn die Eigentümer es nicht nutzten, bewohnte sie auch die oberen Räume. Hier bekleidete sie noch zusätzlich den Posten der Haushälterin. Sie lebte alleine und brauchte nicht viel Platz. In den letzten Tagen hatten sie aber andere Dinge beschäftigt, so dass sie die Grünanlagen und den Garten etwas vernachlässigt hatte. Sie ging eigentlich nur hinaus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich niemand in der Nähe befand, oder sie ging so früh die nötigsten Dinge für sich einkaufen, dass sie niemandem begegnete. Hier im Ort kannte man sie zwar, wusste aber nur das Allernötigste über sie, mehr nicht. Mehr würde sie auch nicht erzählen. Sie war freundlich zu allen, sprach hin und wieder etwas mehr als nur belanglose Worte mit der Ladeninhaberin, Mathilde – eigentlich ihre einzige engere Freundin hier auf der Insel. Zu einigen Einheimischen pflegte sie losen Kontakt und bemühte sich, keinem Fremden zu begegnen. Das hier, wie heute Morgen, durfte einfach nicht wieder passieren. Sie würde heute im Haus bleiben oder nur die hintere Terrasse benutzen. Gott sei Dank fassten große Bäume und dichte Sträucher das Grundstück ein. Hatte der Fremde nur versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, oder hatte er sie erkannt? Eigentlich wollte sie heute noch einkaufen. Warum habe ich das nur nicht heute früh als Erstes gemacht! Sie verfluchte sich. Sie wich von ihrer Vorsicht ab.

    Sie bewegte sich in Richtung Küche, öffnete den Kühlschrank, kontrollierte die Vorräte, leider bestand der Inhalt mehr aus Luft als aus Essbarem. Hungern? Nein, also doch noch einkaufen. Konnte von dem neuen Nachbarn Gefahr ausgehen? Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihn nicht kannte. Ihr Gespür trog sie selten. Er hatte weder gezögert noch irgendwie ein wirkliches Erkennen signalisiert. Oder? Wollte er nur freundlich sein? Trotzdem! Aus reiner Vorsicht behandelte sie Fremde unfreundlich. Hoffentlich sprach er sie nicht mehr an, dachte sie und nahm sich vor, noch schnell einige Lebensmittel einzukaufen. Etwas mehr, besser ist besser.

    Sie schnappte sich den Haustürschlüssel, den Einkaufskorb und wollte schon los. Laufen? Halt, lieber das alte Fahrrad nehmen. Langsam funktionierte ihr Gehirn wieder. Mit dem Fahrrad konnte sie schnell unauffällig verschwinden, denn hier kannte sie sich nun einmal gut aus.

    Nachdem es sie vor einigen Jahren auf die Insel verschlagen hatte, unfreiwillig, hatte sie erst mal die Umgebung gründlich erkundet, natürlich immer früh morgens oder spät abends, wenn kaum jemand unterwegs war. Sie kannte hier jeden Stein, jeden Pfad, jede Fluchtmöglichkeit, einfach alles.

    Sie fuhr in den kleinen Ort. Hier kannte man sie nur als die Haushälterin, die immer hilfsbereite Person, die in Notlagen einsprang. Die Fahrt dauerte knapp fünf Minuten. Das Fahrrad stellte sie vor dem kleinen Tante-Emma-Laden von Mathilde ab und ging hinein. Unterwegs war sie niemandem begegnet.

    »Laura, du bist spät heute, ich habe gar nicht mit dir gerechnet«, wurde sie von der Inhaberin empfangen. Mathilde, groß, schlank und sportlich wie sie selbst, drehte sich um, ging zur Kaffeemaschine und kochte ungefragt Kaffee.

    »Ich habe es mir zu spät überlegt«, meinte sie achselzuckend.

    »Ich glaube eher, dass du gearbeitet hast, bis dir der Magen knurrte, dann hast du in den Kühlschrank geschaut und bemerkt, dass er leer ist.«

    »Ich fühle mich durchschaut, oder hast du hellseherische Ambitionen?«

    »Nein, aber ich kenne dich nun schon fast zehn Jahre.« Die letzten Tropfen liefen durch den Filter, den fertigen Kaffee schenkte Mathilde, die Ladeninhaberin, in zwei Tassen ein. Sie kannte den Geschmack ihrer Freundin und wusste, dass sie den Kaffee ohne Milch und Zucker trank.

    In der Zwischenzeit hatte Laura bereits einige Sachen, die sie benötigte, zusammengepackt. Die beiden setzten sich in die kleine, gemütliche Kaffeeecke. Mathilde schrieb freundliche Atmosphäre und exklusive Bedienung groß. Natürlich gab es auch einen Supermarkt auf der Insel, der aber nicht so früh aufmachte. Also blieb sie Mathildes Laden treu. Hier fühlte sie sich sicher, da man den Eingang gut überblicken konnte.

    »Was weißt du von meinem neuen Nachbarn? Ich habe ihn heute Morgen kennengelernt. Scheint ein Frühaufsteher zu sein. Ich habe mich erschrocken, auf einmal stand er hinter mir und sprach mich an.«

    »Ach, der! Tom Kling heißt er, glaube ich. Hier ist übrigens Post für dich und für ihn. Willst du sie mitnehmen und ihm geben?«

    Laura schüttelte energisch den Kopf. »Willst du mich verkuppeln? Nein, ich nehme meine Post mit, aber er soll sich seine selber holen.« Sie griff danach und las die Absender.

    »Ach, es ist auch mal wieder Post für Brigitte dabei. Ich weiß auch nicht, warum sie sich die nach hierher schicken lässt. Ich nehme sie mit. Sie und ihr Mann werden bald mal wieder vorbeikommen, glaube ich, sie waren fast sechs Monate nicht mehr hier.«

    »Bist du dann wieder weg?« Mathilde hatte schon vor Jahren registriert, dass Laura immer verschwand, wenn die Hauseigentümer kamen.

    »Ja, ich mache Verwandtenbesuche. Steinbergs wollen dann ihre Ruhe haben. Das nutze ich aus. Ich muss mal wieder meine Mutter besuchen, die lebt doch in einem Altersheim. Ich bin schon lange nicht mehr dagewesen ...«

    Die beiden hatten ihren Kaffee ausgetrunken. Mathilde hob die Kanne hoch, schaute Laura fragend an, wartete aber nicht ab, sondern schenkte einfach nach.

    »Wann bist du wieder zurück?« Mathilde schaute fragend auf den gefüllten Korb. »Oder hast du so großen Hunger, dass du das alles bis morgen vertilgst?«

    Ja, sie hatte sich wirklich zu viel eingepackt. Aber besser als zu wenig.

    »Ich habe noch einiges zu erledigen, der Garten muss auch noch gemacht werden. Bei dem Regen in den letzten Tagen bin ich nicht dazu gekommen, den Rasen zu mähen und das Unkraut zu jäten.«

    »Und was macht dein anderes Hobby?« Mathilde wusste als Einzige, womit Laura außerdem noch Geld verdiente.

    »Deshalb muss ich auch mal wieder aufs Festland. Ich habe einen Termin in Hamburg. Ich kann die Fahrt gut mit dem Verwandtenbesuch verbinden.«

    »Fährst du die ganze Strecke mit dem Auto?« Mathilde schaute sie zweifelnd an, sie kannte Lauras Wagen, ein alter Fiat Panda. »Vertraust du dem alten Möhrchen so sehr, dass du die weite Strecke mit dem kleinen Panda fahren willst?« Sie lachte.

    »Was habt ihr alle gegen mein kleines zuverlässiges Auto? Es ist günstig, fährt mich überall hin ...« Und fällt nicht auf, aber das dachte sie nur. Während der Unterhaltung schweiften Lauras Blicke immer wieder unruhig nach draußen, sie sah aber nichts Auffälliges.

    »Da ist niemand.« Mathilde bemerkte ihre unruhigen Blicke. »Dass du so nervös bist, wenn Fremde auf der Insel sind! Das verstehe ich nicht. Oder bist du vor ein paar Jahren aus dem Knast ausgebrochen und hast Angst, entdeckt zu werden?«

    »Mist, jetzt hast du es geschnallt. Aber verrate mich nicht an die Polizei!«

    »Aber wenn auf deinen Kopf eine hohe Belohnung ausgesetzt ist, dann muss ich mir das noch überlegen.« Mathilde meinte zu scherzen.

    Wenn sie wüsste! Allerdings: Vor der Polizei hatte Laura keine Angst.

    »Ich dachte, du bist eine wahre Freundin, und nun stelle ich fest: Auch du bist nur hinter der Belohnung her, die auf meinen Kopf ausgesetzt ist.« Laura schüttelte missbilligend den Kopf.

    »Du wirst also ab jetzt auf der Flucht sein vor mir, aber kaufe trotzdem erst in Ruhe zu Ende ein, da bin ich großzügig,« Mathilde grinste, »vielleicht jage ich deinen netten Nachbarn hinter dir her ... ich müsste dann nur die Belohnung mit ihm teilen, aber ... vielleicht ermorde ich ihn auch nach getaner Arbeit.«

    »Sieh zu, dass du vorher die Belohnung kassiert hast, bevor du ins Gefängnis gehst.« Laura stellte die leere Kaffeetasse auf den kleinen Tisch zurück und wollte gerade ihre Einkäufe bezahlen, als sie zusammenzuckte. Sie hatte nach draußen geschaut und sah Tom Kling eilig auf den Laden zukommen.

    »Mist! Ich bezahle nachher, ich muss noch mal weg.« Laura ließ den Korb stehen und eilte durch die Hintertür hinaus. Mathilde schüttelte den Kopf. So schlimm war es noch nie mit ihrer Freundin gewesen. Wovor hatte sie Angst und warum?

    Laura rannte hinüber zu den Dünen und dann zum Strand. Ihr lief der Angstschweiß den Rücken hinunter. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste endlich etwas unternehmen. Sie hatte schon viel zu lange gewartet. Die Zeit scheint reif, überlegte sie. Kurz vor dem Wasser blieb sie stehen. Einige Urlauber spazierten hier entlang. Das störte sie weniger, denn niemand beachtete sie. »Laura! Laura!« Jemand rief sie, sicherlich Mathilde. Langsam ging sie zurück, immer wieder nach links und rechts schauend. Sie holte tief Luft. Der Angstschweiß versiegte.

    »Laura!«

    »Ich komme schon«, rief diese zurück.

    Kurz vor der Hintertür zu Mathildes Laden blieb Laura stehen, blickte sich nochmals um und überprüfte die nähere Umgebung. Kein Fremder, weder im Laden noch auf der Straße davor und auch nicht auf dem Weg, der zum Haus der Steinbergs führte.

    »Laura!«, vorwurfsvoll schüttelte Mathilde den Kopf, »was ist denn heute nur los mit dir? Du hast ja fast Panikattacken! Dein neuer Nachbar hat nur ein paar Lebensmittel gekauft. Er ist doch gestern Abend erst angekommen, er hat Hunger, er bleibt einige Zeit, du wirst ihm öfter begegnen. Was ist denn nur los? Ist die Zeit gekommen, mir eine Geschichte zu erzählen?«

    »Es ist nichts, ich habe nur gerade keine Luft bekommen und musste mal an den Strand. Die Geschichte werde ich dir vielleicht erzählen, wenn ich wiederkomme. – Hast du die Rechnung fertig für meine Einkäufe? Wie viel bekommst du? Ich muss wieder zurück und noch etwas arbeiten.«

    Misstrauisch betrachtete Mathilde Laura. Sie ahnte schon lange, dass etwas bei ihr im Argen lag. Obwohl sie sich schon über zehn Jahre kannten – so lange wohnte Laura schon auf der Insel –, war es Mathilde noch nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, wovor sie sich ängstigte. Nachdem Laura bereits drei Jahre auf Sylt gewohnt hatte, hatte sie ihr anvertraut, dass sie Schriftstellerin sei, allerdings unter einem Pseudonym schrieb. Den Namen gab sie aber nicht preis. Oft kam Post für Laura, die wegen der Weitläufigkeit der Insel bei Mathilde im Laden abgegeben wurde. Wenn Mathilde meinte, es wäre wichtig, brachte sie Laura die Briefe persönlich. Oft schrieb der Verlag ihr, daher schien das mit der Schriftstellerei zu stimmen. Aber warum versteckte sie sich? Mathilde akzeptierte ihre Verschlossenheit, fragte nicht nach ihrem früheren Leben und schien die Einzige zu sein, die wusste, dass Laura nicht nur die Stelle als Putzfrau und Haushälterin bei den Steinbergs innehatte. Aber so etwas wie heute, diese Angst in Lauras Augen, das hatte sie das letzte Mal vor fast sieben Jahren gesehen.

    Auch damals waren Fremde auf die Insel gekommen, und Laura wurde mehrere Tage lang nicht mehr gesehen. Erst nach vier Tagen hatte sie sich beruhigt, denn die zwei Männer, beide so um die fünfunddreißig, schienen sich nicht für sie zu interessieren. Oder hatten sie Laura gar nicht erblickt? Mathilde wusste nicht mehr so genau, ob Laura während dieser Zeit überhaupt aus dem Haus herausgekommen war. Laura hatte nur angerufen, gesagt, sie habe Grippe, und Mathilde gebeten, ihr einige Lebensmittel vorbeizubringen. Sie kannten sich damals noch nicht gut genug, daher erfüllte Mathilde ihr den Wunsch zwar, aber hakte nicht weiter nach. Ihr waren Zweifel gekommen wegen der Grippe, aber bis heute hatte sie Laura noch nichts davon erzählt. Langsam schlossen sie Freundschaft, und nach und nach kamen Bruchstücke aus Lauras Vergangenheit ans Tageslicht.

    Als Mathilde einmal erwähnte, sie sei Witwe, ihr Mann sei vor einigen Jahren verstorben, meinte Laura nur ganz beiläufig, das kenne sie, sie habe das Gleiche durchgemacht. Mathilde ging daher davon aus, dass Laura auch Witwe war und irgendein Erlebnis aus der Vergangenheit sie immer wieder in Angst und Schrecken versetzte.

    »So, alles erledigt, dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag. Wann kommst du wieder rein? Erwartest du Post? Soll ich sie dir dann bringen?«

    Laura schüttelte den Kopf. »Eigentlich habe ich genügend Lebensmittel für die kommende Woche, vielleicht auch für etwas länger, aber ich muss bald zum Verlag, das neue Manuskript wegbringen. Ich melde mich auf jeden Fall und sage dir Bescheid, wann ich fahre.«

    Ja, das hatte sie in den letzten Jahren immer so gemacht. Laura ging vorsichtig und langsam aus dem Lebensmittelladen, natürlich nicht, ohne sich vorher noch einmal nach allen Seiten umzuschauen. Sie packte die Tasche und den Korb aufs Fahrrad und fuhr los. Mathilde schaute ihr kopfschüttelnd nach. Sie wollte ihr gerne helfen, aber wusste nicht, bei was.

    Vor fünf Jahren hatte Mathilde versucht, einige Informationen aus ihr herauszubekommen, aber Laura hatte nur gemeint: »Frag nicht, es ist besser, du weißt nicht alles, glaube mir. Es wird mal die Zeit kommen, so hoffe ich, dann werde ich dir alles erzählen, eine Geschichte, meine Geschichte, eine abenteuerliche Story.« Von da an stellte ihr Mathilde keine Fragen mehr und wartete geduldig auf den Zeitpunkt, an dem Laura ihr alles erzählen würde. Sie konnte ihr nur Hilfe anbieten, vor allem, wenn sie traurig in die Ferne blickte, als ob sie etwas vermisste.

    »Sei mit dem Anbieten von Hilfe nicht so leichtsinnig«, hatte Laura einmal scherzhaft gemeint, »ich könnte es vielleicht mal annehmen.«

    »Ich würde mich freuen. Würde es die Langeweile auf dieser Insel etwas aufmöbeln?«

    Laura lachte nur bitter. »Ganz bestimmt.«

    Kapitel 2

    Fünf Minuten benötigte Laura bis nach Hause. Dort angekommen, packte sie ihre Einkäufe aus, verstaute alles und bereitete sich erst einmal Frühstück zu. Dabei grübelte sie. Sollte sie weiterfahren, nicht nur bis zum Verlag? Eigentlich wurde es mal wieder Zeit, jemandem einen Besuch abzustatten. Derjenige wartete sicherlich schon ungeduldig auf sie. Ja, genauso würde sie es machen. Kurzentschlossen nahm sie den Telefonhörer in die Hand und wählte die private Nummer von Brigitte Steinberg.

    Brigitte nahm sofort ab. »Fast eine Gedankenübertragung«, meinte sie, nachdem sich Laura mit Namen gemeldet hatte, »irgendwie hatte ich mit deinem Anruf gerechnet. Was gibt es? Willst du jemandem einen Besuch abstatten?« Brigitte kam sofort auf den Punkt. Sie konnte sich denken, warum Laura anrief.

    »Du hast es erfasst. Ich bin in der letzten Zeit so unruhig«, meinte Laura zögernd, »ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht ist die Zeit reif?«

    Brigitte und Oliver, ihr Mann, waren zwei der wenigen, die über Lauras Situation Bescheid wussten. Sie hatten ihr vor fünfzehn Jahren geholfen, unterzutauchen, hatten ihr finanziell, mit Rat und Tat, einem neuen Namen und mit allerlei Bestechungen zur Seite gestanden. »Bist du sicher? Ich meine, dass die Zeit reif ist. Du hast unsere uneingeschränkte Unterstützung, das weißt du. Ich wäre auch froh, wenn alles nach den langen Jahren vorbei wäre«, seufzte Brigitte. »Brauchst du Geld? Oder soll ich etwas organisieren?«

    »Ich habe doch selber genug Geld und deine Kontokarten«, erinnerte Laura ihre Freundin, »daran hapert es nicht. Ich breche morgen früh auf. Ich bin es leid, mich dauernd zu verstecken, ich kann einfach nicht mehr.« Wieder eine kurze Pause. »Kennst du übrigens einen Tom oder Thomas Kling? Er ist hier gestern im Nachbarhaus aufgetaucht. Das Gebäude der Lindners wurde von ihm angemietet. Heute Morgen stand er auf einmal hinter mir, er meinte, mich schon mal gesehen zu haben.«

    »Tom Kling, sagst du? Ich muss überlegen, irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Ich werde Oliver fragen. Es ist eben alles schon so lange her. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe. Machen wir es wie immer?« Brigittes Stimme klang besorgt.

    »Richtig! Wie immer, ich gebe dir die Nummer durch, sobald ich sie habe. Und du besorgst dir ebenfalls eine neue. So bleiben wir in Verbindung, ohne lokalisiert zu werden. Das andere läuft wie gehabt. Und ich werde Grüße ausrichten, keine Angst, alles wird gut gehen«, versuchte sie Brigitte zu beruhigen. Sie verabschiedeten sich und legten auf, stets darauf bedacht, dass ihre Gespräche nicht zu lange dauerten.

    Etwas ruhiger geworden, trank Laura ihre Tasse Kaffee und aß ein frisch belegtes Brötchen. Sie hatte gerade den letzten Bissen heruntergeschluckt, als das Telefon läutete.

    Brigitte, die sofort mit Oliver, ihrem Mann, gesprochen hatte, berichtete ihr die Neuigkeiten: »Es gab mal einen Thomas Kling, einen Schulfreund von Alexander, du hast ihn aber nie kennengelernt. Er ist Reiseschriftsteller und Fotograf und viel unterwegs. Er schreibt unter einem anderen Namen. Daher habe ich mich nicht sofort erinnert. Es ist zu lange her«, wiederholte sie wehmütig und seufzte, »er kann dich eigentlich nur von Fotos her kennen. Sei vorsichtig! Pass auf dich auf!«

    Laura bedankte sich für diese brisante Information und dachte wieder nach. Mist! Oder? Vielleicht auch nicht. Nein, sie hatte die Entscheidung endgültig getroffen. Das, worauf sie seit über fünfzehn Jahren wartete, konnte endlich seinen Lauf nehmen: Rache. Kurzentschlossen, bereitete sie sich noch eine Tasse Kaffee zu, belegte ein zweites Brötchen, biss hinein, ging mit beidem in ihr Zimmer und fing an, die Taschen zu packen. Würde sie noch mal wiederkommen? Sie wusste es nicht und nahm sich vor, daran keinen Gedanken zu verschwenden. Wenn alles glatt ging, dann sicherlich. Wenn es nicht klappte ...? Dann eben nicht. Vielleicht musste sie mehr als einen Versuch starten? Das wäre nicht gut. Morgen früh wollte – oder vielmehr musste – sie los. Nachdem sie innerlich die Entscheidung getroffen hatte, ging es ihr schon wesentlich besser. Beruhigt nahm sie einen weiteren Schluck Kaffee, als es läutete. Diesmal überkam sie kein Schweißausbruch, aber wer konnte das sein? Vorsichtig ging sie zur Tür. Natürlich, Tom Kling, wer sonst! War sie denn nicht unfreundlich genug gewesen? Was wollte er?

    »Hallo, ich weiß, dass Sie da sind«, rief er fröhlich, »das Fahrrad steht vor der Tür.«

    Notgedrungen öffnete sie und schaute ihn fragend an: »Was ist? Suchen Sie eine Putzfrau, oder ist etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit?«

    Er schüttelte den Kopf und machte einen deprimierten Eindruck. Dann erklärte er ihr, dass er vergessen hatte, Kaffee zu kaufen.

    Laura winkte ihn mit der Tasse, die sie noch immer in der Hand hielt, hinein und machte den Weg zur Küche frei. Seit sie sich entschlossen hatte, ihren lange vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen, war sie entspannter. Wenn Tom Kling ein Freund von Alexander war, drohte von seiner Seite wahrscheinlich keine Gefahr.

    »Danke, ich nehme die Einladung gerne an. Bitte, meinen mit Milch und Zucker, wenn Sie es dahaben.«

    »Habe ich nicht, Sie können lediglich Süßstoff haben.«

    Er nickte. »Auch gut.«

    Vorsichtig schaute sie ihn sich an. Nur nicht auffällig wirken, dachte sie, also zwei Jahre älter als sie selbst. Sie winkte ihn durch bis zur Terrasse.

    »Sie haben mir noch nicht Ihren Namen genannt«, meinte der Besucher.

    »Setzen Sie sich nach draußen«, antwortete Laura stattdessen, »es ist schönes Wetter, das sollte man ausnutzen. Ich bringe Ihnen eine Tasse Kaffee und noch ein Pfund gemahlenen. Ich brauche ihn nicht mehr, denn ich fahre morgen früh aufs Festland. Familienbesuch – «, versuchte sie vage zu erklären, aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, »ich bin Laura Müller. Also Laura«

    Er nickte und nahm die Tasse entgegen.

    »Womit verdienen Sie sich Ihren Lebensunterhalt?«, fragte sie dann.

    Er schaute sie nachdenklich an und schien immer noch zu überlegen, warum sie ihm bekannt vorkam. Sie glaubte nicht, dass er eine Verbindung zu Alexander herstellen konnte, wenigstens nicht sofort, vielleicht irgendwann einmal später. Wenn, dann kannte er sie nur von alten Fotos. Morgen bin ich sowieso weg, dachte sie, raus aus der Schusslinie.

    Tom erzählte ihr von seinem Vagabundenleben. Hier auf der Insel suchte er für die nächsten drei Monate Ruhe, um zu schreiben. Dann berichtete er von seinen langen, interessanten Reisen durch Asien. Aber stimmte das alles, was er erzählte? Er blieb nicht lange, bedankte sich für den Kaffee, verabschiedete sich und ging wieder hinüber zu seinem Arbeitsdomizil.

    Geschafft! Innerlich ruhig geblieben, ereilte sie diesmal keine Panikattacke wie zuvor im Laden. Kam es daher, dass sie ein Ziel vor Augen hatte? Gut, dass sie einen Plan ausgearbeitet hatte. Fünfzehn Jahre langes Überlegen mit ständigen Verbesserungen, eigentlich durfte nichts schiefgehen. Morgen früh fing der erste Tag der Geschichte an, ihrer Geschichte und der Geschichte von Alexander und Alex. Eine knappe Stunde benötigte sie nur, um zu packen, was wirklich wichtig war. Sie nahm den Telefonhörer auf und wählte Mathildes Nummer.

    »Hallo, Mätthie, Entschuldigung, Mathilde«, verbesserte sie sich lachend, »ich bin’s, Laura. Morgen früh bin ich weg. Wir werden dann vorläufig nur noch telefonieren. Brigitte kommt für einige Zeit, ich habe gerade mit ihr gesprochen.« Einen Augenblick herrschte Stille, dann meinte sie leise: »Wünsch mir Glück!«

    »Du sollst mich nicht Mätthie nennen«, erklärte Mathilde energisch, aber sie ahnte, dass es vielleicht ein Abschied für länger oder immer werden könnte. Lauras Stimme klang seltsam fröhlich, das kannte man nicht von ihr. Also sagte sie versöhnlich: »Wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich, ich bin immer für dich da, auch wenn es brenzlig wird.«

    »Was denkst du denn?«, wiegelte Laura ab. »Ich fahre nur zum Verlag und bin schnell wieder zurück. Machʼs gut«, meinte sie noch, dann legten beide auf.

    Kapitel 3

    Die ganze Nacht über grübelte sie. War es richtig, was sie vorhatte? Lange Zeit hatte Rache ihre Gedanken beherrscht, und in jahrelanger Kleinarbeit hatte Laura einen Plan ausgetüftelt, einen absolut wasserdichten, wie sie hoffte. Das beruhigte sie, und die Schweiß- und Angstausbrüche verminderten sich stündlich, blieben zum Schluss sogar ganz aus, was sie als ein positives Zeichen wertete. Unterstützung gab es für sie von einigen wenigen, aber zuverlässigen Personen, finanzielle und auch planerische Unterstützung. Außerdem existierte noch ein Mensch, auf den sie sich tausend Prozent verlassen konnte. Zu dieser Person wollte sie nun. Das ging nur auf Umwegen. Das Ziel so nahe vor Augen, wollte sie nicht unvorsichtig werden. Das Gepäck, das sie mit sich trug, bestand nur aus dem Notwendigsten. Das Allerwichtigste passte in ihre Handtasche: die Kredit- und Kontokarten, die Ausweispapiere und ein Handy. Mehr benötigte sie nicht. Die Daten, die in absehbarer Zeit relevant werden konnten, befanden sich auf ihrem Laptop, aber auch nochmals extern gespeichert, gut versteckt und sicher hinterlegt. Natürlich reiste ihr Laptop mit, ebenso Bargeld, und davon eine Menge. Auf ihren und Brigittes Konten befand sich genug Geld. Aber Kontobewegungen hinterlassen eine Spur, Bargeld nicht. Die Möglichkeit, auf Brigittes Konten zurückzugreifen, bestand für sie zu jeder Zeit. Ob man diese nach all den Jahren noch überwachte, blieb dahingestellt. Ihre Sachen hielt sie ständig griffbereit, immerhin befand sie sich seit fünfzehn Jahren auf der Flucht, und einige Male während dieser Zeit war sie nur knapp ihren Verfolgern entkommen. Was man daraus lernte? Ganz einfach: Mit wenigen materiellen Dingen konnte man auskommen. Hauptsache, das Wenige war praktisch.

    Seit fünfzehn Jahren trug sie keine Schuhe mit hohem Absatz mehr oder Röcke, da diese sich als hinderlich beim Rennen erwiesen hatten. Eine Erfahrung, über die sie besser nicht nachdenken wollte. Die Unruhe, die sie heute Nacht befallen hatte, war anderer Natur. Sollte sie den lange gehegten Plan ausführen oder alles auf sich beruhen lassen und einen Schlussstrich ziehen? Jetzt zögern? Nein, Quatsch. Sie würde es genauso machen, wie sie es seit fünfzehn Jahren plante. Erst dann konnte sie Ruhe finden. Alexander, ich habe dich nicht vergessen, dachte sie. Danach schlief sie endlich ein, unruhig zwar und nicht lange, aber sie musste sowieso früh aufstehen, um die erste Fähre von der Insel zu erreichen. Ihre drei Taschen verstaute sie frühmorgens schnell in ihrem alten Panda. Sie schaute sich das kleine Fahrzeug skeptisch und nachdenklich an. Kopfschüttelnd stieg sie ein. Es dämmerte bereits, als sie losfuhr. Eine ideale Zeit, um die Strecke zum Verlag zügig hinter sich zu bringen. Hoffentlich hielt der Wagen noch so lange durch, bis sie Achmeds Werkstatt erreichte! Aber bislang hatte er immer noch einwandfrei funktioniert, genauso wie Achmed es ihr damals zugesichert hatte. Innerlich lachte sie. Wenn sie an den Gesichtsausdruck von Mathilde dachte, als sie damals mit dem Wagen ankam!

    »Was hat man dir denn da angedreht? Soll das ein Auto sein? Der scheint ja bei der Eroberung Roms schon dabeigewesen zu sein«, hatte sie gewitzelt.

    »Nein, du vertust dich, das war erst später, er hat den Angriff Napoleons bei der Schlacht von ... ach, was weiß ich, erlebt. Aber, lach nur, er fährt, und hier auf der Insel, nur zum Einkaufen, reicht es.«

    Mathilde hatte noch lange grinsend ihr weises Haupt geschüttelt. Nachdem die Blechdose nun aber schon mehrere Jahre und viele Kilometer auf dem Tacho hatte, lachte sie nicht mehr. Das Fahrzeug der Belustigung wurde älter, seine Mucken nahmen zu. Mal blieb er stehen, mal stotterte er gewaltig. Trotz guten Zuredens sprang er dann erst wieder eine halbe Stunde später an. Laura wollte ihn bei Achmed generalüberholen lassen. Vielleicht sollte ich über einen neuen Wagen nachdenken. Sie stutzte und staunte über sich selbst. Mittlerweile dachte sie schon daran, wieder heil zurückzukehren. Positives Denken nannte man das wohl. Negatives kam sicherlich schneller auf sie zu, als sie vermutete.

    Nachdem sie mit dem Autozug die Insel verlassen hatte und sich wieder auf dem Festland befand, ging die weitere Fahrt zügig voran. Zwischendurch machte sie einen kleinen Abstecher zu einem Ort, nahe am Ufer, nur wenige hundert Meter vom Anlegesteg einer Fähre entfernt, den nur sie kannte. Ja, alles da, alles in Ordnung für den Notfall, vergewisserte sie sich. Das kleine Boot lag dort, noch unversehrt. Die Möglichkeit, ungesehen die Insel wieder zu erreichen, war gegeben. Zum Glück war es August, und die Bäume und Sträucher waren alle grün, so dass vieles unter Blättern verschwand. Langsam ging die Sonne auf, es wurde warm, auch im Innern des alten Autos, das keine Klimaanlage besaß. Hoffentlich erreichte sie bald ihr Ziel, bevor sie zu sehr schwitzte! Noch eine Stunde, überlegte sie. Ein Radio gab es im Auto nicht, daher wusste sie auch nicht, ob es irgendwo auf der Strecke vor ihr einen Stau gab. Sie erreichte ihr erstes Ziel zum Glück ungehindert und ohne Verspätung.

    »Bei Allah, die Klapperkiste fährt immer noch«, schüttelte Achmed den Kopf, als er sie auf den Hof seiner Werkstatt fahren sah, »mittlerweile erkennt man dich damit meilenweit!«

    Laura stoppte vor seinem Büro und stieg aus. Achmed hatte recht, das musste sie zugeben. Vielleicht sollte sie doch besser Auto und Modell wechseln?

    »Was hast du denn so im Angebot?«, fragte sie ihn daher und ließ ihre Blicke über den Werkstatthof schweifen.

    »Ah, du denkst tatsächlich über einen Wechsel nach? Sehr gut, ich habe da etwas für dich, sogar mit Lenkrad, Radio und Klimaanlage«, meinte er lächelnd, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

    Ihr Traum, ein Auto mit Klimaanlage zu besitzen, rückte näher. Sollte sie sich wirklich von dem Panda trennen? Achmed lief los. Sie folgte ihm mit schnellen Schritten, nicht ohne gewohnheitsmäßig schnell ihre Handtasche vom Beifahrersitz zu nehmen und sie sich umgehängt zu haben. Die anderen Sachen waren nicht so wichtig.

    Kurz vor dem Ende des Platzes blieb er stehen, vor einem Auto, das den Namen auch wirklich verdiente.

    »Na, was sagst du dazu? Nicht zu groß, schnell und gut aussehend.«

    Voller Bewunderung schaute er es an. Ja, das verdiente wirklich den Namen »Auto«, und dann auch noch in Rot, Lauras Lieblingsfarbe, was wollte man mehr?

    »Und davon trennst du dich, es ist doch sicherlich dein eigenes?«

    »Kannst du Gedanken lesen?«, stutzte Achmed, »du hast recht, es ist meins, aber ich gebe es dir, oder besser gesagt, ich verkaufe es dir zu einem wirklich günstigen Preis. Sag ja, und du kannst gleich damit weiterfahren.«

    Laura lächelte, die Verlockung war groß. Das rote Golf Cabrio besaß noch mehr Extras, als man auf den ersten Blick erkennen konnte: ein Automatikgetriebe und sicherlich mehr PS unter der Motorhaube. Sie vertraute Achmed; wenn er sagte, das Auto wäre in Ordnung, dann stimmte das auch. Immerhin galt das auch für den Panda.

    Achmed deutete Lauras Schweigen als Zustimmung.

    »Also gut, mach alles fertig, ich kaufe ihn dir ab, nun schau nicht so enttäuscht, ich zahle ihn dir, wenn ich wieder zurück bin, und dann handeln wir noch ein bisschen. Aber überprüfe ihn vorher noch, er muss schon genauso zuverlässig sein wie der Panda.«

    Laura wusste, dass es nicht ohne Verhandeln ging. Achmed war eben durch und durch Araber.

    »Aber nur, weil du es bist. Willst du ihn jetzt schon mitnehmen, oder soll ich dir, wie immer, ein Taxi rufen?« Von der Werkstatt aus fuhr sie stets mit einem Taxi weiter, kam mal nach einem Tag oder auch erst nach zwei bis drei Wochen wieder zurück. Er belästigte sie nie mit Fragen, und Laura verriet ihm nur so viel, dass sie ab und zu unterwegs sei, um Geschäfte zu erledigen, eine Aussage, die er kommentarlos akzeptierte.

    »Ein Taxi, wie immer. Ich nehme ihn«, sie deutete auf den Golf, »auf dem Rückweg mit. Ich weiß aber noch nicht, wann das sein wird. Ich gebe dir auf jeden Fall eine Anzahlung.«

    Die weitere Fahrt dauerte nicht allzu lange. Sie ließ sich zu einem modernen Gebäudekomplex fahren, stieg nahe dem Eingang aus, zahlte den Fahrer und wartete, bis sich das Taxi weit genug entfernt hatte. Die Hitze nahm zu. Die erste Etappe ihrer Reise fand gleich ein Ende. Gott sei Dank, dachte sie nur. Laura ergriff mal wieder ihre drei Taschen und lief ein Stück weiter, bis sie zu einem wunderschönen, frisch restaurierten Altbau kam. Dieses Gebäude mit Flair wurde von ihr geliebt, hier fühlte sie sich wohl. Das Gepäck trug sie zur Haustür, die aber von innen sofort von dem Pförtner geöffnet wurde, als sie sich näherte.

    Er begrüßte sie freundlich: »Hallo, auch wieder mal hier? Eine gute Reise gehabt? Ich hoffe, sie war nicht zu anstrengend. Er steht übrigens auf Nummer sieben.«

    »Selber hallo, Dennis«, gab sie freundlich und gut gelaunt zurück, »es ging, nur dass es heute so warm geworden ist, finde ich nicht gut. Ich werde ihn schon erkennen, danke.«

    Dennis wollte ihr noch bei den Taschen helfen, aber sie winkte ab und ging zum Aufzug.

    »Sie wissen doch, Dennis, ich reise nur mit leichtem Gepäck, daher schaffe ich es auch noch alleine bis hoch in die Wohnung. Übrigens, hat jemand nach mir gefragt? Sind Fremde da gewesen?«

    Dennis schüttelte den Kopf. Er griff in das Postfach hinter sich, zog einige Unterlagen heraus und reichte sie ihr.

    »Danke.« Dennis dachte, sie wäre eine Berühmtheit, die nicht erkannt werden wollte. Selbstverständlich ließ sie ihn in dem Glauben. Der Aufzug hielt ganz oben, und sie stieg aus.

    Endlich wieder zu Hause, dachte sie, nachdem sie die Tür aufgeschlossen und das Gepäck hineingestellt hatte. Ihre obligatorischen drei Taschen stellte sie im Flur ab, sie benötigte diese morgen früh wieder und entschloss sich, erst einmal die Fenster zu öffnen. Die frische Luft, die nun hereinströmte, tat gut. Zwei Monate hatte die Wohnung leer gestanden. Heute Nacht würde sie hier schlafen. Das war doch etwas anderes als das kleine Zimmer im Haus von Brigitte. Einige Gebäude auf der Insel, selbstverständlich auch das, in dem sie wohnte, und auch diese Wohnung, eigentlich das gesamte Gebäude, befanden sich im Eigentum einer Holding. Wer hinter dieser Konstellation steckte, das wussten nur Oliver, Brigitte, sie und einige wenige Eingeweihte. Es gab zu viele verschlungene Wege, denen man nachgehen müsste, wollte man den eigentlichen Eigentümer herausfinden. Oliver erwies sich in dieser Hinsicht als Künstler.

    Obwohl erst früher Nachmittag, hatte sie fast alles erledigt. Jetzt nur noch zum Verlag, dachte sie, ihr neuestes Manuskript abgeben, und dann konnte es losgehen. Der Kühlschrank befand sich im Zustand der Leere, aber im Gefrierfach lagerte noch Essbares. Das musste genügen. Immer unter der Prämisse, sie könnte auf der Flucht sein oder die Wohnung nicht verlassen, standen im Abstellraum große Mengen an Getränken. Nur Brigitte und Oliver wussten, dass es noch eine andere Möglichkeit gab, in das Penthouse zu gelangen: durch die darunterliegende Wohnung. Es gab eine Verbindungstreppe. Die modern eingerichtete Wohnung in diesem mit Flair behafteten Gebäude befand sich leider oder gottlob im obersten Stock. Einerseits hatte sie Bedenken, so hoch oben zu wohnen, aber der Ausblick war einmalig. Wie schnell gelangte man in die Tiefgarage oder erreichte den Ausgang im Erdgeschoss? Dennis und ein weiterer Pförtner wechselten sich alle paar Stunden im Eingangsbereich ab. Beide ließen keine Fremden ungefragt ins Haus. Auch ein positiver Aspekt!

    Trotzdem bestand die Möglichkeit, dass der Eingangsbereich kurzzeitig nicht unter der Kontrolle der Pförtner stand. Eine vollkommene Überwachung gab es nicht. Brigitte hätte es lieber gesehen, wenn sie auf einem rundum eingezäunten und bewachten Grundstück wohnen würde, am besten ein Haus in der Mitte, nur über eine Zugbrücke erreichbar und ein tiefer Graben rund herum. Laura zog sich die Schuhe aus, eine kleine Nachlässigkeit bei der Wärme, aber eine wohltuende. Während sie durch die Wohnung streifte, Fenster und Türen kontrollierte, fuhr sie bereits den Computer hoch, eine automatische Handlung, genauso wie das Einschalten der Kaffeemaschine und das Herausnehmen eines Fertiggerichtes aus der Truhe. Der Kaffee war genauso schnell fertig wie der Computer hochgefahren. Zügig kontrollierte sie ihre Mails. Richtig, die letzte Mail hatte den Empfänger erreicht. Eine Antwort wartete schon in ihrem Mailbriefkasten. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben wusste, dass sie sich im Anmarsch befand. Sie wollte dieser Person erst mitteilen, was sie vorhatte, wenn sie sich gegenüber standen und in den Armen hielten.

    Dann setzte sie sich mit der zuvor gekochten Tasse Kaffee auf die Terrasse. Die Nervosität ließ drastisch nach, daher genoss sie es, ruhig hier oben zu sitzen, zu essen und dazu noch genüsslich den Kaffee zu trinken. Sie schenkte sich sogar noch eine zweite Tasse ein. Sie vermutete selbst ihren ansonsten zu hohen Blutdruck im grünen Bereich. Hätte ich diese Entscheidung eher treffen sollen?, fragte sie sich zum wiederholten Male. Sie schüttelte den Kopf.

    »Nein«, sagte sie diesmal laut, »der Zeitpunkt ist genau richtig. – Mist.« Sie verstummte sofort wieder, als sie bemerkte, dass sie Selbstgespräche führte. Das muss sofort aufhören. Entschlossen trank sie ihren Kaffee aus, räumte Teller, Besteck und die Tasse in die Spülmaschine ein und machte sich fertig, um endlich zum Verlag zu kommen. Alles sollte geregelt sein, damit sie in aller Frühe losfahren konnte. Diesmal nahm sie den versteckten Weg, der sie über die im Flurschrank, hinter einer Abtrennung verborgenen Treppe in die darunterliegende Wohnung führte.

    Unten angekommen, öffnete sie die Vertäfelung und stand im Dielenschrank. Sie kletterte zwischen Eimer und Besen heraus, um dann in der Diele zu stehen. Hier überprüfte sie ebenfalls die Fenster und Türen. Alles machte auf den ersten Blick einen sicheren Eindruck. Seit ihrem letzten Aufenthalt hier in Hamburg schien niemand die Wohnung betreten zu haben. Es gab kleine Tricks, die es ihr ermöglichten, zu erkennen, ob ein Unbefugter die Räume durchsucht hatte. So hatte sie eine kleine Glasscherbe innen vor der Korridortür platziert. Wäre die Tür von außen geöffnet worden, müsste die Glasscherbe jetzt verschoben oder kaputt sein. Da sie nun aber von der anderen Seite auf die Tür zukam, erkannte sie, die Scherbe lag noch genauso da, wie sie sie platziert hatte. Auch hing ein Bild im Eingangsbereich nur ganz leicht schief. Vor langer Zeit hatte sie beobachtet, dass man automatisch und ungewollt gerade diese minimale Schieflage korrigierte. Aber das Bild hing noch immer etwas schräg. Hatten ihre Gegner aufgegeben? Sie glaubte nicht daran. Die saßen sicherlich gespannt wie eine Katze vor dem Mauseloch und warteten, bis sie das Versteck verließ. Es war zu lange ruhig geblieben, und mit diesen Gedanken kehrte ihre innere Unruhe zurück. Auf einmal und ganz plötzlich fühlte sie sich beobachtet.

    Ihr siebter Sinn signalisierte Gefahr. Da sie die Verlagsunterlagen und ihre Handtasche mit allen wichtigen Papieren nebst Schlüsseln dabeihatte, verließ sie die untere Wohnung durch die dazugehörige Wohnungstür, natürlich nicht, ohne sich vorher davon überzeugt zu haben, dass sich niemand im Treppenhaus befand. Im zum Glück leeren Aufzug fuhr sie bis zur Tiefgarage durch. Dort ging sie schnell zu einem der hinteren, lediglich nummerierten Stellplätze. Ein Außenstehender konnte nicht erkennen, zu welcher Wohnung das Fahrzeug gehörte, das dort auf dem Platz Nummer sieben parkte.

    Am Auto angekommen, stieg sie ein und legte ihre Unterlagen auf den Beifahrersitz. Der schwarze Voyager fiel nicht sonderlich auf. Er war zwar groß, hatte getönte Scheiben, aber galt als träge Familienkutsche, also genau das, was sie brauchte: ein unauffälliges Fortbewegungsmittel, dennoch geräumig und, was keiner ahnte, äußerst komfortabel mit vielen Extras und mit seinen 180 PS sehr schnell. Das perfekte Auto für längere Strecken. Dennis stellte ihn ab und zu auf einen anderen Parkplatz, dadurch war für Außenstehende nicht ohne Weiteres festzustellen, ob das Fahrzeug zu ihr gehörte oder zu einer anderen Wohnung, da er auch benutzt wurde, wenn sie nicht da war. Wieder schweifte ihr Blick durch die Tiefgarage, bevor sie losfuhr. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr zur Gewohnheit geworden war, in jedem Schatten, hinter jeden Pfeiler und auch hinter sich Gefahr zu vermuten. Aber alles schien ruhig, kein Mensch weit und breit zu sehen, als sie die Ausfahrt hochfuhr. Die Unruhe, die sie oben befallen hatte, verflüchtigte sich.

    Einige Minuten später erreichte sie den Verlag. Man kannte sie hier und erwartet sie bereits, daher wurde sie am Empfang freundlich begrüßt.

    »Hallo Laura, gehen Sie einfach durch, Sie werden schon erwartet.«

    »Ja, danke, Doris, sollen wir gleich noch einen Kaffee zusammen trinken?« Die Frau am Empfang, etwa in ihrem Alter, winkte sie nochmals zurück, als sie schon fast die Treppe erreicht hatte und flüsterte ihr zu: »Spannendes Buch diesmal? Haben Sie es noch mal für mich ausgedruckt?« Verschwörerisch nickte Laura ihr zu: »Beim Kaffee in der Kantine, gleich.« Laura gab Doris jedes Mal, wenn sie im Verlag ein weiteres Manuskript abgab, ebenfalls eine Kopie zu lesen. Im Lektorat wurde sie schon mit einem herzlichen Hallo begrüßt. Ihre Lektorin Barbara riss ihr das Manuskript förmlich aus der Hand: »Warum hat es diesmal solange gedauert? Hattest du keine Lust, es fertigzuschreiben, oder wolltest du mich leiden lassen?« Laura hatte ihr vor einigen Wochen nur die ersten einhundert Seiten geschickt, die so spannend waren, dass Barbara wöchentlich anrief, um endlich die Fortsetzung zu lesen. »Ich wollte dich etwas leiden sehen«, meinte Laura grinsend, »hier ist der Rest, den Schluss erhältst du erst, wenn ich einen Kaffee bekommen habe.« Sie holte noch einen kleinen Stapel Blätter aus ihrer großen Umhängetasche und winkte zu ihr rüber, ohne die Seiten aus der Hand zu geben.

    »Das ist Folter«, stöhnte Barbara auf, »gemeine Folter! Wie geht es denn aus?« Barbara stand aber schon auf, um Laura einen Kaffee einzuschenken.

    »Selber lesen!«, meinte Laura lapidar und tauschte die Seiten gegen die Tasse Kaffee, die ihr Barbara entgegenhielt. Sie besprachen noch einige Einzelheiten, und Laura erklärte Barbara, dass sie die nächsten Wochen nicht übers Handy zu erreichen sei, sondern nur über ihre Mailadresse. Das war nichts Neues, und Barbara stellte keine weiteren Fragen.

    »Hast du auch einen Ausdruck für Doris dabei?«

    »Selbstverständlich, ich werde ihn ihr gleich unten in der Cafeteria geben. Sie hat mittlerweile von all meinen Büchern das zweite Manuskript. Das erste habt ihr ja in euren Unterlagen. Vielleicht werden sie mal wertvoll?«, lachte Laura, die ihren Kaffee ausgetrunken hatte und nun aufstand und sich von Barbara verabschiedete.

    In der Cafeteria wartete Doris schon. Da sie wusste, wie lange es bei Barbara dauern würde, hatte sie schon zwei Tassen Kaffee bestellt, die gerade gebracht wurden, als sich Laura zu ihr setzte. Laura griff in ihre Tasche, holte ein weiteres Manuskript heraus und reichte es Doris.

    »Hier, wieder mal eins für Ihre Sammlung«, meinte sie lächelnd, »hoffentlich haben Sie es nicht morgen früh schon ausgelesen, denn ich kann nicht so schnell schreiben, wie Sie meine Bücher verschlingen.«

    »Ich muss heute noch einige Überstunden machen, ich komme vor morgen Abend nicht dazu, aber Barbara meinte, es wäre sehr spannend. Sie waren ja so gemein, ihr nur die ersten hundert Seiten zu schicken«, Doris schüttelte missbilligend den Kopf, »das war richtig fies, wir sollten nicht mehr mit Ihnen reden. Das können Sie nur wieder mit einem weiteren, spannenden Krimi gutmachen.«

    Laura lächelte, da sie wusste, wie Doris es meinte. »Bald!«, erklärte sie verschwörerisch, »ich schreibe schon seit einiger Zeit an einer sehr spannenden Geschichte und bemühe mich, sie bald zu beenden. Ich bin übrigens in den nächsten Wochen nur über E-Mail erreichbar.« Doris nickte nur, auch das kannte sie schon. Sie verabschiedeten sich, und Laura verließ das Verlagshaus, nicht ohne wieder mal die nähere Umgebung mit Blicken zu kontrollieren.

    Zügig fuhr sie zurück, stellte den Wagen in der Tiefgarage ab und nahm die Treppe bis zum Eingangsbereich, wo Dennis seinen Dienst versah. Sie schaute zu ihm rüber, er schüttelte den Kopf: »Alles ruhig, nichts Ungewöhnliches.« Sie ging weiter zum Aufzug und fuhr hoch zum Penthouse.

    Kapitel 4

    Soweit schien alles geregelt. Sie packte nur noch die wenigen Sachen zusammen und plante, morgen früh die Stadt zu verlassen. Aber vorher wollte sie nochmals die untere Wohnung gründlicher durchsuchen. Wieder benutzte sie die versteckt liegende Treppe.

    Sekundenlang blieb sie regungslos im Flur stehen und lauschte. Nichts, absolute Stille. Vorsichtig schlich sie weiter in das große, spärlich möblierte Wohnzimmer. Auch hier keinerlei Geräusche oder etwas Ungewöhnliches. Bildete sie sich alles nur ein? Sie schaute sich um und nahm die zwei Bilder von der Wand, eins nach dem anderen und schaute sich die Rückseite an. Hinter dem ersten Bild: nichts, hinter dem zweiten ... Richtig, dort erkannte man, bei genauem Hinsehen, dass der Rahmen manipuliert worden war. Jemand hatte die Leinwand vom Rahmen gelöst und wieder daran befestigt. Sie holte ein Messer, mit dem sie die Leinwand vom Rahmen löste. Ein kleiner, runder Gegenstand, nicht größer als ein Knopf, wäre fast herausgefallen. Also doch, man hörte diese Wohnung ab! Mit ihrem Handy fotografierte sie die Wanze, steckte sie zurück und hängte das Bild wieder an seinen Platz. Leise ging sie in die Penthousewohnung und durchsuchte diese ebenfalls gründlich, sah hinter jedem Bild nach, schaute in jede Lampe, griff unter die Tische und Schubladen und kontrollierte alle erdenklichen Stellen, fand aber nichts. Warum nur in der unteren Wohnung? Zufall? Von der Dachterrasse aus rief sie per Handy Brigitte an, erzählte ihr flüsternd, was sie entdeckt hatte, und schickte ihr per Handy das Foto von der Wanze. Brigitte riet ihr, die Wohnung augenblicklich zu verlassen und ihre Reise sofort anzutreten, gegebenenfalls unterwegs irgendwo zu übernachten, nur schnell weg. Um alles Weitere wollten sie und Oliver sich kümmern.

    »Gut, ich gebe dir die neuen Zahlen durch, sobald ich sie habe«, teilte Laura ihrer besten Freundin kurz und bündig mit. Brigitte wusste Bescheid und würde den Rest erledigen.

    Mit wenigen Handgriffen packte Laura ihre drei Taschen, verließ die Wohnung, zog den Teppich im Eingangsbereich so dicht vor die Tür, dass man sofort erkennen konnte, wenn jemand sie betreten hatte, denn dann müsste man den Teppich zurückschieben. Sie wäre gerne noch über Nacht geblieben, denn sie liebte diesen Ort, aber es ging nicht. Vielleicht wäre nach fünfzehn Jahren bald ein Ende in Aussicht. Wieder fuhr sie mit dem Lift hinunter und informierte Dennis über ihre Abreise. Er nickte. In der Tiefgarage stieg sie in den Chrysler. Ihr Handy und die Papiere verstaute sie wie immer in den Innentaschen ihrer Jacke. Falls es nötig sein sollte, konnte sie den Wagen sofort verlassen, ohne vorher nach wichtigen Unterlagen greifen zu müssen. Am späten Nachmittag verließ das Fahrzeug die Tiefgarage.

    Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann, der ihr verblüfft nachsah.

    Kapitel 5

    Innerhalb von zehn Minuten erreichte sie die Autobahn Richtung Süden. Die Fahrt gestaltete sich angenehmer als vermutet. Sie wurde noch nicht erwartet, also ließ sie sich Zeit. Nach einigen Stunden erreichte Laura Köln. Von der Autobahn aus erblickte sie das große Verwaltungsgebäude des Allander Konzerns. Es stach imposant zwischen den anderen Gebäuden hervor. Weiter hinten, fast in einem Wald gelegen, stand ein großes Haus, das von den jetzigen Eigentümern bewohnt wurde. Die wunderschöne Villa lag in einer parkähnlichen Gartenanlage und hatte noch vor fünfzehn Jahren von erlesenem Geschmack gezeugt. Wie sie heute aussah, konnte man von der Autobahn aus nicht erkennen.

    Nachdenklich fuhr sie weiter. Das gesamte, gut gesicherte Gelände wurde bewacht, fast wie eine uneinnehmbare Festung, aber eben nur fast. Es gab einige Schwachstellen, die nur Insidern bekannt waren, die ein Betreten des Areals, ungesehen, ermöglichten. Die Schwachstellen schienen den jetzigen Bewohnern nicht bewusst zu sein. Allerdings: Wissen bedeutete in diesem Fall Macht. Der Inhaberwechsel an der Konzernspitze des alteingesessenen Allander Konzerns war vor fast vierzehn Jahren erfolgt. Ein großer, aufsehenerregender Prozess hatte Deutschland erschüttert. Fakt war: Der ehemalige Inhaber, mittlerweile verstorben, wurde durch betrügerische Machenschaften abgesetzt, zwei neue Inhaber übernahmen den Konzern und auch, leider, das Vermögen, die Patente, die Beteiligungen an anderen Unternehmen und die äußerst guten Verbindungen nach Mittelamerika. Gerichtlich konnte daran nicht gerüttelt werden. Es lagen eidesstattlich beglaubigte Dokumente vor, welche die Unterschriften auf den Übertragungsurkunden bezeugten. Alles rechtens, wie es schien. Datiert auf einen Zeitpunkt, an dem der Vorbesitzer offiziell noch lebte. Dokumente, die eigentlich die direkten Nachkommen des Vorbesitzers als Erben legitimierten, existierten plötzlich nicht mehr, neue Unterlagen tauchten auf. Leider verschwand der Besitzer im fernen Mittelamerika, Monate später fand man angeblich die Leiche. Er war brutal ermordet worden, hingerichtet mit einem Kopfschuss. Es gab keine Zeugen für den Mord, also konnte niemand angeklagt werden ...

    Die noch lebenden Eltern des ermordeten Besitzers erhielten seine Urne aus El Salvador zugeschickt. Da sie fünf Jahre zuvor den Konzern ihrem einzigen Sohn überschrieben hatten, versuchten sie nach seinem Tod die Hintergründe zu erforschen. Es gelang ihnen leider nicht, und sie stießen auf eine Mauer des Schweigens. Ihr Enkel, der Nächste in der Erbfolge, ging leer aus, da kurz zuvor auf mysteriöse Weise beglaubigte Urkunden und ein Testament vor Gericht eingereicht worden waren, die etwas Gegenteiliges besagten. Hatte dieser Betrug – denn davon gingen die Eltern aus – etwas mit dem Vermögen der Allanders zu tun? Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Im Gegenteil, es wurde für die Eltern gefährlich, sie entgingen nur knapp einem Mordanschlag. Für sie blieb nur eins: Sie nahmen das Gerichtsurteil an, tauchten unter und fanden sich mit den Gegebenheiten ab. Ihr privates Vermögen reichte aus, um weiterhin äußerst komfortabel zu leben, warum etwas riskieren? Aber, warum haben sie nicht weitergekämpft? Hatten sie Angst um den Enkel? Nein, denn wie sich noch während der Gerichtsverhandlung herausstellte, gab es keinen legitimen Erben. Der einzige Enkel war, wie sich nach einem vom Gericht bestellten DNA-Test herausstellte, nicht das leibliche Kind des Ermordeten, also auch nicht erbberechtigt, wie es das Testament des Urgroßvaters vorsah. Das rief großes Aufsehen in der Presse hervor. Der angebliche Enkel nebst Mutter verschwand auf Nimmerwiedersehen, die Eltern lebten sehr zurückgezogen und trauerten um ihren ermordeten Sohn. Man hörte nichts mehr von ihnen.

    Die beiden neuen Inhaber bezogen die Villa, verfügten über das Vermögen, strukturierten die Firma um, entließen alle Mitarbeiter in den Führungsetagen und stellten ihre eigenen Leute ein. Alles völlig legal, man konnte nichts mehr machen. Die Besitztümer in El Salvador, nebst den dortigen Firmen, übernahmen die Betrüger ebenfalls. An all das erinnerte sich Laura, als sie dort vorbeifuhr.

    Kurz vor dem Ziel verließ sie die Autobahn und fuhr zehn Minuten später auf einen abseits gelegenen Parkplatz, stieg aus, verschloss den Wagen, ging mit der Zeitschrift zu einer Bank und setzte sich. Einige Jugendliche joggten an ihr vorbei, aber keiner beachtete sie. In ihre Zeitschrift vertieft, schien sie nicht zu bemerken, dass sich ihr ein junger Mann, durchtrainiert, mit kurzen, blonden Haaren, von hinten langsam näherte. Sie erschrak seltsamerweise nicht, als sich zwei Hände von hinten auf ihre Schulter legten.

    »Hallo, großes Mädchen«, sagte die Stimme.

    »Hallo, mein Sohn«, antwortete Laura und bemerkte, wie sich die Hände auf ihrer Schulter für einige Sekunden versteiften, um dann aber wieder lockerer zu werden.

    Der junge Mann setzte sich zu ihr auf die Bank und fragte: »Wie viel Uhr haben wir?«

    Laura schaute auf ihre Uhr: »Ungefähr sechs«, dann deutete sie auf seine Hose und fragte: »Wo sind denn deine hellen Jeans und der dunkelblaue Pullover geblieben?«

    »Ach, die habe ich da hinten gelassen«, kam die Antwort. Er stand auf, drehte sich um und war gerade im Begriff, zurückzugehen, als auch Laura sich langsam erhob und ihm folgte. Noch immer in der Zeitung blätternd, schien sie nicht darauf zu achten, wohin sie lief, denn ihr Weg führte sie nicht dem jungen Mann hinterher, sondern schweifte etwas ab. Sie schüttelte den Kopf, als sie aufblickte und ... als ob sie jetzt erst merke, dass sie sich verlaufen hatte, schwenkte sie um und folgte dem anderen. Sie kamen an einigen Bäumen vorbei, Laura nun hinter dem Jungen, dann passierte sie eine mit dem Rücken zu ihnen stehende Person. Die beiden gönnten sich einen Blick, schwenkten um und hatten den fremden Mann innerhalb von wenigen Sekunden eingekreist und mit einem merkwürdigen Handgriff bewegungsunfähig gemacht. Die Person war so perplex, dass sie vor Staunen nichts sagte, sondern mit offenem Mund einfach nur den jungen Mann anstarrte. »Verdammt noch mal«, rief Laura erbost, »Sie schon wieder!«

    »Du kennst den?«

    »Ja, von der Insel.«

    Die beiden hielten Tom Kling immer noch so fest, dass er sich nicht rühren konnte.

    »Das ist ja beeindruckend«, stammelte er verwundert. »Alex!«

    Das war alles, was er sagen konnte.

    »Woher kennen Sie mich?« Lauras Sohn staunte nicht minder.

    »Nein, ich kenne Sie nicht, aber Sie sehen jemandem ähnlich, der schon lange tot ist ...«

    »Sie kannten meinen Vater?«

    »Ja, er kannte ihn«, schaltete sich nun Laura in das Gespräch ein, »er war ein sehr guter Freund deines Vaters, sein bester Freund. Wenn wir dich jetzt

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