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Unser aller Erbe. Island-Krimi
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Ebook273 pages3 hours

Unser aller Erbe. Island-Krimi

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About this ebook

Seinen wohlverdienten Urlaub hat sich Kommissar Heinz Kelchbrunner anders vorgestellt: Erst stößt er beim Graben in seinem Garten auf menschliche Gebeine, dann beschäftigt ihn ein weitaus aktuellerer Todesfall in seiner freien Zeit: Anna Einsdóttir wird beim Spaziergang von einem Ast erschlagen – und das ist, wie sich herausstellt, nicht dem stürmischen Wetter geschuldet. Kelchbrunner und seine Kollegin Katharina Juvanic nehmen die Ermittlungen auf. Die Spur führt schließlich nach Island, die Heimat der Toten, und zum geplanten Bau eines Staudammes, der eine wertvolle Naturfläche akut gefährdet. Dass Kelchbrunner von oberster Stelle dorthin beordert wird, um weitere Nachforschungen anzustellen, kommt dem umweltbewussten Kommissar gerade recht.
Vielleicht gelingt es ihm, nicht nur Licht ins Dunkel zu bringen, sondern gleichzeitig seine eigenen Schlafstörungen und einen schmerzhaften Verlust zu überwinden. Kaum in Island angekommen, muss er sich jedoch gleich mit störrischen Behörden und verstockten bis feindseligen Einheimischen auseinandersetzen. Es scheint, als sei niemandem hier an der Auflösung des Falles gelegen …

LanguageDeutsch
Release dateMar 31, 2017
ISBN9783961520824
Unser aller Erbe. Island-Krimi

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    Unser aller Erbe. Island-Krimi - Torsten Jäger

    Kapitel 1

    Der Schweiß brannte ihm in den Augen und klebte in seinem Gesicht. Er wischte sich zum x-ten Mal über die Stirn. Frust und Trotz kämpften in seiner Brust, denn er hatte sich viel vorgenommen. Vielleicht zu viel? Seit annähernd drei Stunden hob er, mit Spitzhacke und Spaten bewaffnet, ein Erdloch aus. Das war inzwischen mehr als groß genug, um darin einen Menschen zu bestatten. Doch diese Größe reichte ihm noch nicht aus. In dem geplanten Erdloch konnten gleich mehrere Menschen ihre letzte Ruhestätte finden.

    Verbissen verdrängte er den Gedanken, es für heute gut sein zu lassen. Es war ein sehr warmer Augusttag, doch die Flamme in seinem Inneren loderte heißer. Widerspenstig stieß er umso fester mit dem Spaten in die lehmige Erde.

    Plopp.

    Der Hieb prallte an etwas ab.

    „So ein Mist aber auch!, fluchte er, beugte sich nach vorn. Er griff nach etwas Rundlichem und ... blickte in schockierend schwarze Höhlen. Angeekelt warf er das Fundstück in hohem Bogen weit durch den Vorgarten. Es verfehlte das „Zielgebiet Erdhaufen, rollte über das Stück Rasen. Dann kullerte es gegen den Zaun und blieb dort aufrecht liegen, die Augenhöhlen zum Gehweg gerichtet.

    „Morje", sagte die alte Frau Schaubruch, die dort schier in diesem Moment ging. Und sie beschleunigte beim Anblick des Funds kommentarlos verblüffend ihre Schrittgeschwindigkeit.

    „Was zur Hölle ...?" Er erkannte im Erdloch Teile vom Unterkiefer des zuvor weggeschleuderten menschlichen Schädels. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken runter. Flugs verließ er die Grube, zog die schmutzigen Schuhe aus, ging zum Telefon und wählte die altbekannte Nummer.

    „Kelchbrunner hier! Ich bräuchte bei mir mal Rechtsmedizin und SPUSI. Ich hab grad was gefunden, was definitiv nicht in meinen Garten gehört."

    Es dauerte nicht lang, und die Kollegen standen vor der Tür. Heinz Kelchbrunner hatte die Zeit genutzt, um sich gründlich die Hände zu waschen. Das hieß, er wusch sie noch immer, als die Kollegen ankamen. Beim Blick in den Spiegel entdeckte er lehmige Erde, die an den Stoppeln seines Dreitagebartes klebte, und wusch sich das Gesicht. Irgendwie wirkte sein Haar heute noch graumelierter als sonst.

    Dann ging er in den Garten und sah, wie der Rechtsmediziner Kunze den gefundenen Totenkopf bereits inspizierte.

    „Und?"

    „Hm ... Warten Sie, lassen Sie mich noch mal schauen ..." Er begutachtete den Fund von allen Seiten.

    „Also, wenn mich nicht alles täuscht, würde ich sagen, er ist tot."

    „Nein, das ist ja brillant. Ich wusste schon immer, dass Sie ein Genie sind."

    Kunze hob den Zeigefinger. „Das heißt, ganz so klar ist das jetzt nicht."

    „Ich will Ihnen ja nicht den Tag versauen, aber ein Totenschädel lebt nicht mehr, wie der Name schon sagt."

    Kunze verdrehte die Augen. „Es ist nicht klar, ob der Schädel von einem Er oder einer Sie stammt."

    „Tja, dann sollten wir einfach mal weitergraben. Vielleicht finden wir eine Handtasche, und dann wissen wir Bescheid."

    Kunze strich durch seinen dicken, schwarzen Schnauzbart. Bisher hatte er nur ein einziges Mal über Kelchbrunner geschmunzelt. Und das war, als dieser bei Eis und Schnee ordentlich auf den Hintern gefallen war. Über einen seiner Witze zu lachen – diese Genugtuung wollte er ihm nicht geben.

    „Die SPUSI wird weitergraben müssen. Aber ich hab schon immer geahnt, dass Sie eine Leiche im Keller haben."

    „Was heißt denn hier eine? Das sind gleich mehrere. Und wissen Sie, was die alle gemeinsam haben? Es waren Rechtsmediziner, die glaubten, dumme Sprüche loswerden zu müssen."

    „Ja, ja, ja ..." Kunze schlurfte unbeeindruckt davon.

    „Wenn die SPUSI schon mal beim Graben ist, kann sie gerne die Form des Teiches noch ein bisschen mehr rausarbeiten. Willi wird sich freuen."

    „Was träumt der denn nachts?!, rief ein Kollege der SPUSI, die gerade eingetroffen war. Bei näherem Hinsehen wollte es keiner von ihnen gewesen sein. Allerdings drehte Kunze um und ging zurück zum Kommissar. „Der ist ja richtig gut angekommen! Also, ich glaub, ich kann mir die weiteren Untersuchungen sparen. Ich hab die Todesursache schon herausgefunden. Er streckte Kelchbrunner den Totenschädel entgegen. „Ich glaube, Sie haben einen Witz erzählt, und er hat sich totgelacht!"

    „Suchen Sie erst mal nach der Handtasche, ehe Sie Hypothesen aufstellen!"

    Kunze winkte ab und verabschiedete sich.

    Kelchbrunner beobachtete, wie die Kollegen der Spurensicherung in das Erdloch kletterten. Seine Arbeit am Teich musste nun erst mal ruhen, bis alle Spuren gesichert waren. Und irgendwie kam ihm das gar nicht so ungelegen bei dieser Affenhitze. Andererseits hoffte Kelchbrunner, dass er sein erstes größeres Naturschutzprojekt bald fertigstellen konnte. Es standen bereits einige Wasserpflanzen in den Startlöchern. Und auch Willi, der Goldfisch, sollte bald nicht nur ein deutlich größeres Terrain, sondern auch einige Artgenossen bekommen. Jener Fisch, den er nach dem berühmt-berüchtigten Bienenmord-Fall bei sich aufgenommen hatte.

    Seit dem Tod seines Neffen Patrick waren einige Wochen vergangen. Die Wunde auf Kelchbrunners Seele wandelte sich zunehmend zur Narbe. Eine Narbe, die regelmäßig schmerzte, wenn ihn etwas an den jungen Patrick erinnerte. Wenn Kelchbrunner mit seiner Schwester sprach, in deren Ehe es schon während der Leukämieerkrankung ihres Sohnes gekriselt hatte ... Oder wenn man in den Medien mal wieder die Atomenergie als Klimaretter pries. Wie konnte denn über Jahrtausende strahlender und krebserregender Abfall eine Lösung für ein Umweltproblem darstellen? Gehäufte Krebserkrankungen rund um Atomkraftwerke und Kinder, die an Leukämie erkrankten und starben, konnten nach Kelchbrunners Meinung selbst durch die gewieftesten Fürsprecher der Atomenergie nicht mehr als Zufall abgetan werden.

    „Ich mach bei diesem ganzen perversen Spiel um Geld und Profit nicht mehr mit", hatte er seiner Schwester während einem ihrer Gespräche geschworen. Er war zum Ökostromanbieter gewechselt, hatte sich übers Energiesparen informiert. Und er hatte sich zudem den aktiven Naturschutz auf die Fahnen geschrieben, hatte es sich nach dem Tod seines Neffen geschworen: Schluss mit dem grünen Rasen, her mit einem Feuchtbiotop.

    „Du hast bald viel mehr Platz", sagte er entschlossen zu Willi im Goldfischglas.

    Die Spurensicherung hatte nach zwei Stunden Arbeit alle Knochen beisammen. Wirkliche Spuren hatte sie allerdings nicht finden können. Auch keine Handtasche ... Dafür aber jede Menge Aufmerksamkeit. In Nackenheim sprach sich ein Knochenfund schnell herum. Vor allem, wenn man die Knochen auf dem Grundstück eines Kriminalkommissars gefunden hatte. Die Ortsblättcher, wie man die Tratschen hier nannte, kreisten wie die Geier um den Ort des Geschehens. Immer auf der Suche nach einem Stück speckigen Fleisches eines Skandals. Viele wetzten sicher schon ihre Zungen, um mögliche Täter und Opfer in passende Stücke zu zerreden.

    Kelchbrunner warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits nach vier. Die Geschehnisse des Donnerstags, gepaart mit der noch immer unerträglichen Hitze, führten zu einem klaren Entschluss: Er würde es für heute gut sein lassen und morgen am Teich weiterarbeiten.

    Am Freitagmorgen hatte Rechtsmediziner Kunze noch keine Ergebnisse vorzuweisen. Die Tratschen Nackenheims waren ihm hierbei um Längen voraus und hatten ihre Theorien bereits überall verbreitet. Beim Bäcker, in Kelchbrunners Nachbarschaft und im Zeitschriftenladen.

    Die einen glaubten sich an eine überlieferte Geschichte über einen alten Fischer zu erinnern, der im Sommer 1910 plötzlich verschwunden war. Sein Fischerboot war am Rheinufer festgemacht gewesen, der Fang hatte sich unberührt an Bord befunden. Nur der Fischer selbst war wie vom Wasser verschluckt gewesen. Vielleicht hatte Kelchbrunner ja tatsächlich dessen Gebeine ausgegraben?

    Andere, sie waren in der Mehrheit, spekulierten über die alte Frau Becker, von der Kelchbrunner das Haus nach ihrem Tod geerbt hatte. Ihr Mann, so hatte sie immer erzählt, sei vom Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgekommen, sondern in Russland gefallen. Doch einst hatte man auch gemunkelt, Frau Becker habe nur auf Druck ihrer Eltern geheiratet. Alles, um das Hab und Gut des Mannes und seiner Familie zu erhaschen. Mit der Treue habe sie es nicht sehr ernst genommen und sei in noch jungen Jahren mit einem Burschen aus Mommenheim in flagranti im Heuhaufen erwischt worden. Zunächst habe sie sich nicht an der Empörung gestört. Doch plötzlich sei der Bursche über Nacht verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Schier zu der Zeit, als die ersten Soldaten aus russischer Gefangenschaft heimkehrten ...

    An dieser Stelle gingen nun die Theorien auseinander: Die einen mutmaßten, Kelchbrunner habe gestern die sterblichen Überreste des unerwünschten Ehemanns gefunden, der doch aus dem Krieg heimgekommen war, um dann den Tod durch den Rivalen zu finden. Und der Mörder aus Mommenheim habe sich aus dem Staub gemacht. Andere waren der Meinung, es seien die Gebeine des Mommenheimer Liebhabers, der vom Ehemann gelyncht wurde, nachdem der ihn nach Kriegsrückkehr mit der Ehefrau ebenso im Heuhaufen erwischt hatte.

    Auch im Supermarkt war der Knochenfund das Top-Thema. Während der Kommissar im Nudelregal nach einer eifreien Alternative suchte, hörte er die Stimmen von zwei besonders aktiven Plappermäulern, wobei ein drittes die Mutmaßungen ergänzte. Freitags so um fünfzehn Uhr konnte man die beiden hier meist antreffen.

    „Ist schon komisch, dass diese Leiche ausgerechnet beim Kelchbrunner gefunden wurde."

    „Jo, do haste schon recht. Ich moon, des kimmt jo net von ungefähr! Ich glaab, der hängt doo irschendwie mit drin. Hot jo aach des Haus geerbt von de Alt."

    „Meinste? Also, ich glaub des ja net. Warum sollt der donn die Leiche ausgrabe? Wenn der gewusst hat, dass die da liegt, hätt er doch bestimmt net gegrabe an der Stell."

    „Stimmt. Aber vielleicht schauspielert der jo nur, um irschendwas noch Schlimmeres zu vertusche. Vielleicht war de Doode en unbekannte Erbe von der Alt? Des habbe se jo domols schon gesaat, und die Annemarie vis a vis hot aach von eme Buu verzählt, der ab un zu zu de Alt kumme is. Vielleicht is der des joo. Also glaabt mer’s. Jeder hot e Leich im Keller. Aach der! Un vor allem is der doch bei de Polizei un kann des alles vetusche."

    Kelchbrunner warf ein Päckchen Nudeln in den Einkaufswagen und steuerte zu den drei Damen. Wie beiläufig schritt er an ihnen breit grinsend vorbei.

    „Ach, die Damen ... So, so, jeder hat eine Leiche im Keller? Sie also auch? Da bin ich ja mal gespannt!"

    Die Ertappten sahen dem Kommissar verdutzt hinterher, und der steuerte amüsiert zum Mehl-Regal, während er sich fragte, wer die Dritte im Bunde der Tratsch-Gesellschaft war.

    Er fand es lustig, wie dieser Fall die Phantasie der Menschen beflügelte. Aber natürlich ließ auch ihn die Frage nicht los, wie diese Gebeine in seinen Garten gekommen waren. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Becker in einen Mord verwickelt war. Dazu war sie einfach zu herzlich und nett gewesen.

    Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie das Grundstück mitsamt der darauf befindlichen Bruchbude ihres Großonkels geerbt. Das alte Gebäude glich mehr einer Ruine, als sie es nach dem Krieg abtrug und ihr Haus nach und nach errichtete.

    Aber vielleicht war ja der Großonkel der Mörder, und der angeblich verschollene Rhein-Fischer war tatsächlich das Opfer.

    Kelchbrunner sah es schon vor seinem geistigen Auge ...

    Beckers Großonkel hatte einen Fisch gekauft und hatte sich mit dem Fischer in die Haare bekommen.

    „Doin Fisch stinkt!"

    „Was? Moin Fisch stinkt net!"

    „Un ob! Doin Fisch stinkt! Der is net frisch!"

    „Net frisch?! Ich waas, wenn en Fisch frisch is, un wenn net!"

    „Schoinbar net. Sonst deedst en net vekaafe fer daier Geld."

    „Daier? Ich hab nur zwanzig Penning genumme!"

    „Des is viel Geld fer en stingische Fisch."

    „Der Fisch stinkt net, du dreggischer Bongert! Ich waas, wenn en Fisch stinkt. Doo warst du noch gar net uff de Welt, doo hun ich schon Fisch gefange!"

    „Un von domols is der Fisch schoinbar noch. Ich will moi Geld zerick."

    Beckers Großonkel griff nach dem Geldbeutel des Fischers, und als der nicht loslassen wollte, zog er ihm eins mit dem stinkigen Fisch über. Der Fischer verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf auf einen Stein, was sein Ende war. Beckers Großonkel wusste sich nicht anders zu helfen, schleppte den Alten in einer Nacht- und Nebelaktion in seinen Garten und verscharrte ihn dort vor der Eiche.

    Der Kommissar schüttelte den Kopf über sich selbst. Immer diese kriminalistischen Phantasien. Die waren definitiv schon sowas wie eine Berufskrankheit ...

    Doch sollte an der Theorie etwas dran sein: Frau Becker hätte die Knochen des Fischers jedenfalls niemals gefunden. Denn soweit er wusste, waren auf dem Gelände keine größeren Grabungen an dieser Stelle vorgenommen worden. Der Fundort lag deutlich weit vom Haus entfernt, und ganz in der Nähe hatte lange Zeit diese uralte Eiche gestanden. Das war zwar kein Beweis, dass man an dieser Stelle nie gegraben hatte. Aber zumindest hätte Frau Becker keinen Grund gehabt, sich ausgerechnet durch die Wurzeln zu graben. Da hätte es einfachere Plätze gegeben.

    Heute zeugten von dem Baum nur noch ein vermodertes Stück Stamm und einige Bilder. Und genau das war die Idee. Nachdem Kelchbrunner nach Hause gekommen war und die Einkäufe verstaut hatte, ging er ins Wohnzimmer und kramte aus dem Schrank das Fotoalbum der alten Frau Becker hervor. Er hatte es nicht nur als Andenken an sie aufbewahrt. Vor allem hatte das Album mit seinem geschnitzten hölzernen Einband einen unwiderstehlich antiken Charme. Immer wenn er es aufschlug, überkam ihn ein Gefühl der Ehrfurcht. Bereits auf der ersten Seite prangte ein Bild von Kaiser Wilhelm II. Mit seiner preußischen Uniform wirkte er genauso pompös wie weitere Würdenträger, die auf pappdicken Schwarzweißfotografien zu sehen waren. Manche trugen derart dichte, lange, graue Bärte, dass sie glatt als Druiden durchgehen konnten.

    Kelchbrunner blätterte weiter und stieß auf die neueren Fotografien. Ein Bild vom Jahre 1940 zeigte einen uniformierten Soldaten. Mein Schatz zieht in den Krieg, stand darunter geschrieben.

    Ein Foto daneben stammte aus dem Jahr 1944 und trug den Untertitel Mein Schatz kehrt wieder heim. Zu sehen war die Fotografie eines großen Kranzes.

    Langsam näherte er sich den Nachkriegsjahren. Vorbei zogen längst verblichene Gesichter, vergangene Idyllen und Zeiten.

    Das Schlachtfest, das man auf dem zugefrorenen Rhein in den 50er Jahren zelebriert hatte; das Bild eines Rheinhochwassers; die Fotografie vom Amiche, einer Bimmelbahn, die einst zwischen Bodenheim und Alzey verkehrte. Längst war diese Strecke stillgelegt, die Stimmen der Reisenden und das letzte Bimmeln verhallt ...

    Endlich stieß der Kommissar auf ein Bild der Eiche im Garten, an deren Stamm eine Bank stand. Frau Becker, auf dem Bild vielleicht Mitte vierzig, saß darauf und biss herzhaft in einen Apfel. Das Bild ließ in Schwarzweißtönen zwar nur die Farbe ihres Kleides erahnen. Doch Kelchbrunner wusste aus Erzählungen, dass es weinrot gewesen war.

    Er vergewisserte sich noch einmal, wann der Baum gefällt wurde, und fand als Untertitel des Bildes Mein Freund, der Baum ... lebt nicht mehr! – Gesät vom Sturm, geerntet vom Sturm!

    Ja, es war einer der Orkane Mitte der 90er Jahre gewesen, denen der Baum zum Opfer gefallen war. Große Äste waren abgebrochen, und Frau Becker hatte sich schweren Herzens entschlossen, ihn fällen zu lassen. Zum Ausgleich hatte sie eine Eibe gepflanzt, die heute noch im Garten stand.

    Das Klingeln des Telefons riss Kelchbrunners Blick aus dem Album. Er griff nach dem Hörer und bemerkte nicht, dass sich das Telefonkabel am Album verheddert hatte. Das antike Stück rutschte zur Tischkante, Kelchbrunner griff hektisch hinterher, und stieß das Album vom Tisch. Es raste dem Holzdielenboden entgegen, schlug unter lautem Gepolter auf. Dabei löste sich der Holzeinband ein Stück ab.

    „Verdammter Mist aber auch! Er hielt den Hörer schon am Ohr und schob ein verärgertes „Kelchbrunner? hinterher.

    „Na, Heinz! Es war Kollegin Katharina Juvanic. „Was ist los? Ist was passiert?

    „Ach, mir ist nur was runtergefallen. Alles okay." Kelchbrunner entschied sich, den Schaden später zu begutachten.

    „Ich muss schon sagen: Das ist wirklich der Hammer! Welcher Kommissar bringt es bitte fertig, im Urlaub im Garten zu graben und dabei auf einen Toten zu stoßen?"

    „Hat der Kunze mal wieder geplappert?"

    „Nein, es war Sanchez von der Spurensicherung. Du weißt doch: Wir machen ab und zu zusammen Qi Gong."

    „Ah, stimmt. Diese chinesischen Entspannungsübungen."

    „Ja, dadurch findet man zur inneren Mitte."

    „Hör mir bloß auf! Gefunden hab ich für diese Woche schon genug. Und das muss ich jetzt erst mal aufklären, bevor ich noch was anderes suche. Ich fahre später in die Rechtsmedizin und hör mir an, was es Neues gibt."

    „Was denn – im Urlaub willst du arbeiten?"

    „Tja, du weißt ja ... Der Mord macht keine Ferien."

    Kelchbrunner sah kurz zum Album am Boden. Was war das? Von dort aus blickte ihm Hindenburg auf einer Briefmarke entgegen, die auf einem Briefumschlag klebte. Der steckte wiederum größtenteils im abgelösten Holzeinband. Vorsichtig zog er den vergilbten Umschlag hervor.

    „Wie weit bist du eigentlich mit dem Teich gekommen, und was macht dein Goldfisch?"

    „Hm? Ah, der Fisch fühlt sich pudelwohl. Die Arbeiten am Teich mussten erst mal ruhen, weil ja dieser Knochenkopf aufgetaucht ist."

    „Na, dann hoffen wir mal, dass du bald fertig wirst. Ich bin schon gespannt auf das erste Froschkonzert."

    „Die Nachbarn erst ..."

    „Ach, was mir gerade einfällt. Du hast mir auch noch einen auszugeben!"

    „Ich? Wieso denn das?"

    „Na, das letzte Spiel von den 05ern. Ich hab dir gesagt, dass wir gewinnen, aber du ..."

    Ja, Kelchbrunner hatte seine Niederlage nicht fassen können. Schon oft hatte er auf einen Sieg der 05er getippt. Und sie hatten immer verloren. So erschien es ihm jetzt risikolos, gegen sie zu wetten. Aber da hatte er die Wette ohne die 05er gemacht. Die hatten gegen den FC Bayern gespielt und gewonnen.

    „Schon gut, schon gut! Wann und wo?"

    Es gab Schlimmeres, als mit Katharina essen zu gehen.

    „Das werd ich mir noch überlegen. Ich hätte gern mal wieder ein Vier-Gänge-Menü ..."

    Kelchbrunner spürte das Flunkern.

    „Okay, dann machen wir’s so: ein Candlelight-Diner. Ich schick die Limousine vorbei, sobald ich einen Tisch reserviert hab."

    „Das ist ja wohl das Mindeste ...! So, dann genieß noch den Urlaubstag. Und vor allem das Treffen mit Kunze."

    „Oh ja, das wird das absolute Highlight."

    Als sie das Gespräch beendet hatten, platzte Kelchbrunner fast vor Neugier. Was war das für ein Umschlag, der aus dem Einband herausgerutscht war? Er war an Ernestine Becker gerichtet.

    Nach kurzem Zögern zog er aus dem Umschlag ein Foto hervor, das einen jungen Mann zeigte. Seine Haut schien weiß und glatt wie Porzellan. Verträumt lächelte er in die Kamera. Wer war das? Ihr Mann war es jedenfalls nicht. Und Kelchbrunner hatte ihn nie zuvor auf anderen Fotografien gesehen. Auf der Rückseite war nur der Aufdruck des Foto-Ateliers zu erkennen. Er prüfte, ob noch etwas im Umschlag zu finden war.

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