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Jenseits auf Rezept: Kriminalroman
Jenseits auf Rezept: Kriminalroman
Jenseits auf Rezept: Kriminalroman
Ebook291 pages3 hours

Jenseits auf Rezept: Kriminalroman

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About this ebook

Mord an der schönen blauen Donau - ein verzwickter Fall für Major Paul Eigner
Sonja König, Männermagnet des neuen Therapiezentrums im Dorf, verdreht nicht nur zahlreichen Wachauern den Kopf, sondern weckt auch reichlich Eifersüchteleien. Als man sie schließlich tot aus der Donau fischt, hat Major Paul Eigner einiges zu tun. War es ein Verbrechen aus Leidenschaft? Hat sie einer ihrer Verehrer auf dem Gewissen? Oder ist alles doch ganz anders? Einen Unfall kann der Major jedenfalls ausschließen. Denn die Spuren an der Donau deuten eindeutig darauf hin, dass Sonja nicht ohne Kampf auf der Böschung ausgerutscht ist.

Krimivergnügen mit der richtigen Portion Atmosphäre
Umsichtig und klug ermittelt Major Eigner zwischen rivalisierenden Liebhabern, zerbrochenen Lebensträumen und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Hausarztes, der Sonja mehr als nur Chef war. Hinter der blankpolierten Fassade des neuen Therapiezentrums rumort es nämlich kräftig, denn nicht nur Sonja war in ihren Chef verliebt. Und dessen Mutter will von Problemen ihres Sohnes partout nichts wissen …

Ein Krimi aus dem Herzen des dörflichen Lebens, verpackt in eine spannende Handlung mit zahlreichen Verdächtigen - ein behagliches Lesevergnügen!

Weitere Bücher bei HAYMON tb:
- Mord im besten Alter
- Faule Marillen
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateApr 20, 2018
ISBN9783709938324
Jenseits auf Rezept: Kriminalroman

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    Book preview

    Jenseits auf Rezept - Lisa Lercher

    Verlag

    Roman

    Sie umklammert den Griff ihres Gehstocks. Was war das? Ein Stoß? Der Blick ihres Gegenübers ist kalt. Eine Hand greift nach ihr, packt sie am Arm. Sie öffnet den Mund, will protestieren, verschluckt sich am Schrei. Nur ein ängstliches Winseln entweicht ihren Lippen, als sie beim nächsten Stoß den Boden unter den Füßen verliert. Sie schlittert über glitschige Stufen in die modrige Kellerluft. Ihre Finger schrammen über raues Mauerwerk, die Schulter schlägt gegen die Wand. Vom Aufprall zur Seite geworfen, trudelt und kollert sie wie weggeworfenes Spielzeug hinunter zum gestampften Erdboden. Das Bewusstsein längst in tiefe Nacht entschwunden, kommt sie endlich zur Ruhe. Durch den geschundenen Körper geht ein sachtes Zittern, als mit dem letzten Lebenshauch auch ihr Geist erlischt.

    Ihre Begleitung, eben noch als Gast bewirtet, zögert noch einen Moment lang, bevor sie sich vorsichtig in die Tiefe tastet.

    Die Stille hat sich verändert, ist endgültig geworden. Aber vielleicht spiegelt dieses dichte Nichts, das ihr entgegenkriecht, auch nur die archaische Angst wider. Vor dem eigenen Verschwinden, der Auflösung, die folgt, wenn das Herz zu schlagen aufhört, die Organe versagen. Der Gast schüttelt die morbide Stimmung ab. Dafür ist jetzt keine Zeit. Es gibt Wichtigeres zu tun.

    Der Körper der Toten liegt gekrümmt auf dem kalten Boden. Ein feiner Blutfaden kriecht aus dem Ohr und verliert sich unter dem Ohrläppchen in einer Halsfalte. Die Finger der linken Hand sind zur Faust geballt. Die geblümte Kleiderschürze und der beige Rock sind nach oben gerutscht und geben den Blick auf seidig glänzende Stützstrümpfe frei. Der Gast muss Gewissheit haben. Er beugt sich über das Opfer, stößt es sacht mit der Schuhspitze an. Bückt sich schließlich hinunter, legt zwei Finger auf den Hals, forscht nach verräterischem Puls. Vergeblich. Auch die Handfläche vor dem Mund erspürt keine Atemluft. Der Schein der Taschenlampe zerstreut den letzten Rest von Zweifel. Der Blick der Toten ist gebrochen, die eben noch aufblitzende Gier aus den Augen verschwunden.

    Der Gast kann einen leisen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Ihm ist wohler, die Frau geborgen im Jenseits zu wissen. Er ist sich nicht sicher, ob er sie verletzt hätte liegen lassen können. Vielleicht hätte ihn dann ihr Geist heimgesucht, ihm Vorwürfe gemacht, dass sie noch hatte leiden müssen … Dann streift ihn kurz ein anderer Gedanke, seine Schultern verkrampfen sich. Nein, er hätte sie nicht einfach lebend zurücklassen können. Das Risiko, dass sie gefunden würde, mit ein paar Brüchen und Quetschungen davonkam und sich an die letzten Minuten erinnerte, wäre zu groß gewesen. Er hätte in jedem Fall … Er schiebt die Bilder, die sich ihm aufdrängen, energisch zur Seite und richtet sich auf.

    Er sieht sich um, erneut erleichtert, dass es so einfach gewesen ist, beinahe unspektakulär. Es war weder Zeit für Panik, noch für einen Fluchtimpuls. Nur ein verwirrtes Staunen, der Mund, der hatte protestieren wollen, die Hand, die keinen Halt fand. Dann ein unkontrolliertes Kollern, das wirbelnde Muster der Kleiderschürze – als ob man durch ein Kaleidoskop schaute, der dumpfe Aufprall im Finale vor der unheimlichen Stille, die ihn noch immer umfängt.

    Er hat sofort gewusst, dass sie den Köder schlucken würde. Er kannte die Sorte. Solche wie sie bekamen den Hals nie voll genug.

    Der Besucher wirft einen letzten Blick auf sein Opfer, gibt acht bei den Stufen. Sie sind rutschig, die Kanten scharf. Trotzdem muss er sich beeilen, sämtliche Spuren beseitigen. Alles soll auf einen Unfall hindeuten. Er schließt die knarrende Holztür, öffnet sie dann doch einen Spalt. Die Vorstellung, was streunende Katzen, Marder oder Ratten mit der Leiche anstellen werden, lässt Gänsehaut über seinen Rücken rieseln.

    ***

    Major Paul Eigner brühte seinen Shincha auf. So viel Zeit musste sein. Lieber hätte er den Grüntee vor dem Haus in der Morgensonne genossen. Der Wecker hatte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte gestreikt und Eigner damit einen hektischen Aufbruch beschert. Dabei war ihm Stress zuwider, erst recht gleich nach dem Aufstehen.

    Seine Kollegin, Beate Ringelmoser, hatte den Schauraum bereits geöffnet, als er mit einer Viertelstunde Verspätung eingetroffen war. Sie hatte sich jeden Kommentar verkniffen, ihn stattdessen freundlich gegrüßt. Inzwischen wusste sie, dass er kein Morgenmensch war.

    Während der Major das Sieb mit den Blättern in der hellgrünen Flüssigkeit schwenkte, bimmelte die Türglocke. Er seufzte. Nicht einmal der erste Schluck war ihm in Ruhe vergönnt. Die alte Frau, die an den Türen mit den Sicherheitsschlössern und an der Stellage mit den einbruchshemmenden Beschlägen vorbei in seine Richtung wuselte, begrüßte ihn mit einem gehetzten: „Guten Morgen Herr Inspektor! Ich hab Ihnen etwas mitbracht!" Eigners Kollegin, die mit gerunzelter Stirn von ihren Unterlagen aufgeschaut hatte, flüchtete mit einem entschuldigenden Lächeln in den Nebenraum.

    Der Major stellte seine Teeschale zur Seite. Die Aussicht auf ein paar beschauliche Minuten, die er mit seinem Sincha hatte verbringen wollen, war nun endgültig dahin. „Die Frau Gebetspichler. Was verschafft uns die Ehre?", begrüßte er das kleine Weiblein, das ihn mit ihren flinken Bewegungen an eine Maus erinnerte. Er erhob sich halb aus seinem Schreibtischsessel. Vielleicht konnte er ihren Besuch ja abkürzen, wenn er ihr entgegenging?

    „Bleiben S’ ruhig sitzen!" Schneller, als er reagieren konnte, hatte sich die Frau auf dem Besuchersessel an der Seite seines Schreibtisches niedergelassen, kramte in der geräumigen Einkaufstasche und beförderte ein in Papier und Plastiksackerl gewickeltes Paket auf den Schreibtisch.

    „Ich hab gestern Krapfen gebacken. Sie sind mit Rosenmarillenmarmelade gefüllt. Die hab ich voriges Jahr bei Ihrer Schwester gekauft. Der Teig ist so schön aufgegangen, sonst muss ich mich nämlich oft einmal ärgern. Sie wissen eh, da hat man die Schüssel an einen warmen Platz gestellt, freut sich, dass der Germteig so gut aufgeht, und dann reißt einer die Tür auf und schon ist das Malheur passiert. Sie glauben nicht, wie schnell das …"

    Wann holte die Alte Luft?

    „… dann hat mich die Marianne angerufen und gesagt, dass die Rosl tot ist, und dann sind Sie mir eingefallen." Die hellen Äuglein im faltigen Gesicht der Greisin blinzelten ihn abwartend an.

    „Welche Rosl?", fragte er.

    „Die Nienführ Rosl. Die werden S’ nicht kennen. Die wohnt drüben, a bisserl außerhalb von Rossatz, Richtung Rossatzbach. Wissen S’ wo ich mein?"

    Eigner nickte, obwohl er keineswegs sicher war.

    „Jedenfalls ist die Rosl über ihre Kellerstiege g’stolpert und hat sich dabei den Hals gebrochen, hat die Marianne gesagt. Der Tonfall der Gebetspichlerin nahm eine Klagenuance an. „Es ist ein Jammer. Die Marianne kann einem wirklich leidtun. Als ob sie nicht schon genug eigene Sorgen hätt.

    Eigner interessierten die vielen Probleme der Frau Marianne, die er noch dazu nicht kannte, herzlich wenig. „Ein Unfall?", vergewisserte er sich.

    „Na freilich. Oder glauben S’, weil ich da bin …?, die Alte schüttelte tadelnd den Kopf. „Nein, nein. Der Doktor hat g’sagt, dass es wahrscheinlich ein Schwächeanfall war, und deswegen wird sie sich derhaspelt haben. Dabei hab ich ihr öfters gesagt, dass sie sich feste Schuhe anziehen soll, wenn sie im Garten draußen unterwegs ist. Sogar eure Broschüre über die Stolperfallen im Haushalt hab ich ihr vorbeigebracht. Dann hat sie eh den Teppich im Badezimmer weggeräumt und im Vorhaus nur mehr im Winter einen Fetzen aufgelegt. Frau Gebetspichler hatte den Mantel aufgeknöpft und das Halstuch gelockert. Den Fehler, nachzufragen, ob sie ablegen wolle, hatte Eigner nur einmal gemacht.

    „Und was kann ich …, versuchte Eigner nun endlich selbst die Regie zu übernehmen. Die Gebetspichlerin unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ein Unfall. Gott sei Dank. An was anderes mag ich gar nicht denken. Bei uns passiert sowieso schon genug. Denken S’ an den Klein Dürnspitzer Pfarrer, den man vor ein paar Jahren in dem Weingarten ausgegraben hat, oder an den Spitzer Bürgermeister, der mit den Zuckerln vergiftet worden ist …

    Eigner schaltete seine Ohren auf Durchzug und überlegte, wie er seine redefreudige Besucherin loswerden konnte. Er musste noch einige Termine vereinbaren und im Jugendzentrum nachfragen, ob der Sozialarbeiter, der ihn zu den Lehrlingen begleiten sollte, wieder gesund war.

    „… oder an den Buben, der mitten im Supermarkt erschossen worden ist. Stellen Sie sich vor – die haben einen Film aus der Geschichte gemacht. Die Tochter meiner Nichte hat als Komparsin mitgespielt", die Alte lächelte einen Moment lang verklärt.

    „Frau Gebetspichler, ich muss dann …", startete Eigner einen halbherzigen Versuch. Die alte Frau ließ sich nicht unterbrechen. Er sah hilfesuchend zu seiner Kollegin hinüber, die mit einem Packen Handzettel ins Büro zurückgekommen war und diese nun in einen Kasten räumte.

    „Drogensüchtige hamma auch genug. Die vielen Nadeln, die im Park herumliegen. Fast hätt sich meine Axi da einmal gestochen, das arme Viecherl. Herr Inspektor, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Lücke so ein Tier hinterlässt. Es vergeht kein Tag …", war die Alte bei einem ihrer Lieblingsthemen angekommen.

    „Ich stör ungern, mischte sich Eigners Kollegin nun doch ein. „Aber gleich kommt eine Schulklasse. Wir müssen den Schauraum herrichten und da brauch ich die Hilfe von einem starken Mann. Sie nickte in Eigners Richtung.

    „Ich muss sowieso weiter, sagte die Alte merklich verstimmt. „Aber vorher müssen wir noch einen Termin ausmachen.

    „Einen Termin?"

    „Sicher. Ich bin schließlich nicht zum Vergnügen da. Die Alte griff nach ihrer Einkaufstasche und zog eine verknitterte Zeitung hervor. „Ihr machts Werbung für eine Spezialberatung, begann sie, „ich hab es in der Wachau-Post gelesen." Frau Gebetspichler hatte inzwischen die richtige Seite in dem Gratisblatt, das als Postwurfsendung an die Haushalte ging, gefunden. Sie tippte auf die Anzeige, die das jüngste Pilotprojekt des kriminalpolizeilichen Beratungsdienstes bewarb.

    „Sie hätten also gern, dass jemand bei Ihnen vorbeikommt und Ihnen Tipps für die Sicherheit in den eigenen vier Wänden gibt?", fragte Eigner

    „Nicht irgendjemand, berichtigte ihn die Frau. „Ich hätte gern, dass Sie kommen. Schließlich geht es bei sowas ums Vertrauen. Sie bedachte Inspektorin Ringelmoser mit einem giftigen Seitenblick. „Hätten S’ morgen Zeit?"

    Eigner schüttelte den Kopf und griff nach dem Tischkalender. Nach kurzem Hin und Her hatten sich die beiden auf einen Termin geeinigt.

    „Ich wohne nämlich allein, müssen S’ wissen. Da ist es manchmal schon ein bisserl unheimlich. Hören tu ich auch nicht mehr so …"

    „Die Schulklasse", brachte sich Eigners Kollegin in Erinnerung und tippte mahnend auf ihre Armbanduhr.

    Frau Gebetspichler erhob sich ächzend. „Ich komm ein anderes Mal, wenn Sie mehr Zeit zum Plaudern haben", sagte die Alte und wandte sich zur Tür.

    „Da freu ich mich aber", murmelte Eigner in seinen Schnauzbart.

    „Mit so einer müssen S’ Deutsch reden, sagte Beate, als die Tür hinter der Gebetspichlerin ins Schloss gefallen war. „Die sitzt sonst bis Dienstschluss da, weil ihr daheim fad ist.

    Beate Ringelmoser hatte sich neben seinem Schreibtisch aufgepflanzt. Ihre blauen Augen blitzen belustigt. Mit dem flotten Kurzhaarschnitt und dem spitzbübischen Grinsen im Gesicht wirkte sie wie höchstens Mitte vierzig. Dabei hatte sie den Fünfziger bereits vor zwei Jahren überschritten, wie Eigner aus dem Personalverzeichnis wusste. Beate hatte die Ärmel der Uniformbluse aufgekrempelt, die Jacke hing über der Lehne des Schreibtischsessels. „Meine Mutter war auch so eine. Ich weiß, wovon ich rede", fügte sie hinzu.

    „Sie tut mir halt leid", bekannte Eigner.

    „Geh, jemand wie die Gebetspichlerin findet auch woanders Unterhaltung, und wenn sie sich dafür beim Doktor ins Wartezimmer setzt. Seine Kollegin lachte auf. „Wissen S’, was mein Vater immer über solche Leute gesagt hat? Sie machte eine kurze Pause. „Dass man bei denen das Mundwerk extra erschlagen muss, wenn sie gestorben ist."

    Eigner schnaubte. Er kannte den Spruch. „Wann kommt die Schulklasse?"

    Inspektorin Ringelmoser hob erstaunt die Augenbrauen. „Schulklasse? Kommt eine?"

    Der Major schüttelte den Kopf. „Sie schwindeln eine arme, alte Frau an? Nun grinste auch er. „Wollen S’ vielleicht einen Krapfen?

    „Ich muss auf die Linie schauen." Beate Ringelmoser strich sich mit einem koketten Augenaufschlag über die Hüften.

    „Aber geh. Sie sind genau richtig", widersprach Eigner und griff nach dem Packerl, das seine Besucherin gebracht hatte. Die Mehlspeise kam ihm als Vormittagsjause gerade recht.

    ***

    Auf der Zufahrt zur Donaubrücke ging es nur im Schritttempo voran. Ein Radfahrer in kurzen Hosen zischte über den Zebrastreifen. Die Vorboten sind schon da, registrierte der Major. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Touristen die Radwege unsicher machten. Dann musste man als Autorfahrer wieder besonders aufpassen, wenn einzelne Pedalritter gedankenverloren mitten auf der Straße anhielten, um ein mittelalterliches Haus zu fotografieren.

    Er warf einen Blick auf den Fluss, der sich heute steingrau zeigte. Eigners Beziehung zur Donau war zwiespältig. Er hatte Respekt vor den Fluten, die bei Hochwasser Häuser mit Schlamm füllten, der hart wie Beton wurde, wenn er trocknete. Er würde nie vergessen, wie der Vater die bettlägerige Großmutter huckepack ins obere Stockwerk geschleppt hatte. Das ängstliche Wimmern der alten Frau klang ihm noch manchmal in den Ohren. Doch wenn der Fluss sich von seiner anderen Seite präsentierte – glitzernd und übermütig glucksend – und er zu einem erfrischenden Bad eintauchte, gab es keinen Ort, an dem er lieber gewesen wäre. Vielleicht war auch das ein Grund gewesen, warum es ihn nach seinem Herzinfarkt zurück zu seinen Wurzeln gezogen hatte.

    Er blinkte, als er den Kreisverkehr in Richtung Römerhalle verließ. Tor zur Wachau, nannte sich Mautern, die kleine Stadt am rechten Donauufer, ein Stück flussabwärts von Krems gelegen. Der Major hatte zugestimmt, die neuen Informationsbroschüren auf seinem Heimweg gleich selbst ins Gemeindezentrum zu bringen. Beate Ringelmoser hatte ihn in ihrer praktischen Art zu dem kleinen Umweg überredet. Es sparte Steuergelder und außerdem schätzten es die Bürger, wenn die Behörde serviceorientiert war, hatte sie behauptet. Ein Lächeln glitt über Eigners Gesicht, als er an seine Kollegin dachte.

    Er bog in die Rathausgasse ein, während er wieder einmal über sein Leben sinnierte. Es hatte sich alles gefügt: seine Rückkehr in die Wachau, wo er sich in dem von der Anna-Tant geerbten Häuschen eingerichtet hatte, der intensive Kontakt zu seiner Schwester Hanni, mit der er sich schon immer gut verstanden hatte und die Nähe zu seinem pflegebedürftigen Vater, der im Haushalt der Schwester lebte. Auch beruflich hatte er einen neuen Platz gefunden. Dass er bei der Kremser Kriminalpolizei eine ruhigere Kugel als auf dem Wiener Kommissariat schob, störte ihn nicht. Die Entscheidung, beim kriminalpolizeilichen Beratungsdienst auszuhelfen, hatte er auch noch nicht bereut. Die kleine Außenstelle war wegen Personalmangel nur tageweise besetzt, und als man erfahrene Beamte gesucht hatte, hatte er sich sofort gemeldet. Der Kontakt mit den Menschen, die sich Sicherheitsschlösser erklären ließen oder staunten, wie schnell und lautlos ein Einbrecher eine Balkontür öffnen konnte, machte ihm Spaß. Nur mit Schulklassen hatte er sich anfangs schwer getan. Das ruppige Auftreten pubertierender Burschen ging ihm auf die Nerven. Doch inzwischen wusste er, dass sie sofort interessiert zuhörten, wenn er erzählte, wie er einen Täter, der vom Balkon im dritten Stock nach draußen sprang, durch eine Kleingartensiedlung verfolgt, oder einen Schmuckdieb beim Duschen in einem Einfamilienhaus überrascht hatte.

    Er stellte den Wagen vor dem Rathaus ab und trug den Karton mit den Foldern durch die Arkaden zum Gemeindeamt. Dort hielt er sich nicht lange auf, weil er auf seinem Heimweg auch noch beim Hausarzt Broschüren abgeben sollte.

    Die Arztpraxis war in einem ehemaligen Winzerhof untergebracht. Die mächtige Linde auf dem Platz davor war mehr als dreihundert Jahre alt. Der Pächter der Café-Konditorei Lindenblick gegenüber stellte, sobald es warm genug war, Tische und Sessel im hinteren Teil des Platzes auf. Sein cremiges Schokoladeeis, das Erdbeersorbet, das nach frischen Früchten schmeckte, und die riesigen Eisbecher mit dem großen Berg Schlagobers waren über die Ortsgrenzen hinaus bekannt. An heißen Tagen musste man oft sogar warten, bis endlich ein Tisch frei wurde.

    Heute parkten nur wenige Autos auf dem Platz. Eigner ging über Stufen zum geschnitzten Eingangstor hinauf. Sein Blick blieb am Messingschild neben dem Klingelbrett hängen. „Dr. med. Peter Donabaumer, Arzt für Allgemeinmedizin, ÖAK-Diplom für manuelle Medizin, alle Kassen" war darauf graviert. Darunter fand sich ein Hinweis auf die Öffnungszeiten. Die Rampe für Rollstuhlfahrer, Mütter mit Kinderwägen und Menschen, denen das Stufensteigen schwerfiel, war bei seinem letzten Besuch vorigen Herbst noch nicht da gewesen. Dem jungen Arzt, der sich erst vor zwei Jahren in dem kleinen Ort niedergelassen hatte, eilte ein guter Ruf voraus. Er selbst hatte sich fachmännisch betreut gefühlt, als er den neuen Arzt wegen seiner schmerzenden Schulter aufgesucht hatte. Besonders gefallen hatte ihm das Verständnis des Mediziners für Eigners Hausmittelvorliebe – er nutzte vor allem Hochprozentiges, das man sowohl innerlich als auch äußerlich anwenden konnte. Zum Arzt ging er nur, wenn er mit seinem eigenen Latein am Ende war oder seine Schwester ihn sehr bestimmt dazu drängte.

    Das Tor war nicht versperrt. Der lange Flur dahinter war mit gelben und braunen Fliesen ausgelegt. In einer verglasten Schautafel fand man Informationen über die Folgen von Zeckenbissen, die nächsten Impftermine und die Kontaktdaten für die Mutter-Kind-Treffen. Die Tür zum Wartezimmer stand weit offen, ebenso die Klotür gegenüber.

    Über das knochige Hinterteil, das sich in sein Blickfeld drängte, spannten sich ausgewaschene Leggings. Eigner kannte die Frau, die sich über den Putzkübel beugte und dabei den Fetzen auswrang, bevor sie weiter das grüne Linoleum aufwischte. Er hatte Mitzi Weißenböck seit dem Vorfall damals nur mehr selten gesehen. Und wenn, hatte sie die Straßenseite gewechselt oder demonstrativ weggeschaut. Jedes Mal wenn er sie traf, nagte dieses leise Schuldgefühl an ihm, und er wusste ganz genau, wie er die Sache heute angehen würde, könnte er die Zeit zurückdrehen.

    Er wollte sich eben bemerkbar machen, als die Tür zum Behandlungszimmer geöffnet und die Rückansicht einer Frau im weißen Kittel sichtbar wurde. „Du weißt doch selber, dass sie simuliert. Ich seh nicht ein, dass uns so jemand die Zeit stiehlt. Und wenn, musst du ein Extrahonorar verrechnen."

    „Ich werd schon mit ihr fertig. Mach dir keine Sorgen", antwortete eine dunkle Männerstimme.

    „Eben nicht. Sobald so eine vor dir sitzt, geht der barmherzige Samariter mit dir durch. Das ehrt dich, aber du musst auch ein bisserl auf den Umsatz schauen. Die Zeiten werden härter und du hast Angestellte, die sich auf dich verlassen." Damit wandte sich die Frau um und ging auf Zehenspitzen über den noch feuchten Boden hinter die Empfangstheke, die die Anmeldung vom Wartebereich trennte. Auch heute war sie, obwohl sie bestimmt einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich hatte, tipptopp beisammen, stellte Eigner fest. Die Frisur saß perfekt, als hätte Frau Donabaumer ihre halblangen Locken gerade eben erst neu arrangiert. Unter dem aufgeknöpften Arbeitsmantel lugte ein adrettes Kleid hervor, dazu trug sie Pumps mit flachen Absätzen. Die Perlenkette um ihren Hals unterstrich die damenhafte Erscheinung. Der einzige Schmuck an ihren langen schmalen Fingern war der Ehering, den sie noch immer trug, obwohl Donabaumer Senior schon vor ein paar Jahren gestorben war. Soviel Eigner wusste, war die Mutter des jungen Arztes seither allein geblieben und half ihrem Sohn in der Ordination.

    Mitzi Weißenböck hatte, als Frau Donabaumer den Warteraum betrat, nur für einen Moment aufgeschaut, sich aber nicht bei ihrer Arbeit stören lassen. Inzwischen war sie bei der Türschwelle angelangt und stellte den Eimer mit dem Wischwasser auf die Fliesen im Vorraum. „Jessas! Sie stieß erschrocken gegen den Eimer, sodass Lauge auf den Boden spritzte. „Wollen S’, dass ich einen Herzkasperl krieg?, fauchte sie Eigner an.

    Der Major entschuldigte sich.

    „Frau Mitzi? Elisabeth Donabaumer kam zur Tür. „Ein Notfall? Wir haben eigentlich schon zu!, sagte sie, als sie Eigner bemerkte.

    Inzwischen war auch der junge Arzt auf die Störung aufmerksam geworden. „Der Herr Major! Ist etwas passiert?"

    „Nein, nein, alles in bester Ordnung."

    „Dem Vater geht’s besser?"

    „Der wird schon wieder. Unkraut vergeht nicht!" Eigner wich zur Seite, um Mitzi Weißenböck vorbeizulassen, die mit dem Kübel zum Klo marschierte und das schmutzige Wasser in die Muschel kippte. Neben der Arztwitwe wirkte die Putzfrau mit ihren ausgewachsenen Dauerwellen, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, derb. Dabei war Mitzi in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen, wie Eigner von alten Fotos im Album seiner Schwester wusste. Auch wenn der Altersunterschied zwischen den Frauen nicht groß war, lagen Welten zwischen den beiden.

    „Ihre Schwester schaut auch gut auf ihn", fuhr Donabaumer

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