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Ein Leben voll Liebe: Eine Pflegemutter erzählt
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Ein Leben voll Liebe: Eine Pflegemutter erzählt

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About this ebook

Als Vollwaise in christlichen Einrichtungen streng, aber wohlbehütet aufgewachsen, träumt Anna-Maria früh von einer kinderreichen eigenen Familie. Nachdem der Traum von einer Großfamilie nicht in Erfüllung geht, adoptieren Anna-Maria und ihr Mann zusätzlich zu ihren beiden leiblichen Kindern noch zwei weitere Söhne.
Obwohl das Leben nicht immer frei von Sorgen ist, bietet das Ehepaar in seinem "Haus am Schönblick" im Laufe der Jahre 49 Pflegekindern ein fürsorgliches Heim voll Liebe und Wärme.

Die Autorin erzählt die Geschichte einer Frau, die ihr Leben mit Leib und Seele ihren Kindern widmet.
LanguageDeutsch
Release dateMar 28, 2017
ISBN9783475546426
Ein Leben voll Liebe: Eine Pflegemutter erzählt

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    Ein Leben voll Liebe - Viktoria Schwenger

    Tages

    1. Kapitel

    Der Fall Mose

    Das Thema der verlassenen Kinder und ihrer Pflegemütter mag so alt wie die Menschheit sein, für die Betroffenen ist es immer neu und schmerzhaft.

    Schon in der Bibel wird von einem ausgesetzten und von einer Pflegemutter aufgezogenen Kind berichtet, dessen Name Mose ist.

    Es wird berichtet, dass zu dieser Zeit, vor tausenden von Jahren, das israelitische Volk unter der Knechtschaft des Pharaos in Ägypten lebte, der sie voller Unbarmherzigkeit zum Frondienst zwang und ihnen das Leben schwer machte. Die starke Vermehrung der Israeliten wurde ihm zusehends ein »Gräuel im Auge«. Er fürchtete einen für sein Volk gefährlichen Aufstand der Geknechteten, schon allein angesichts deren großer Überzahl.

    Im 2. Buch Mose steht geschrieben:

    »Da gebot der Pharao allem seinem Volk und sprach: Alle Söhne, [die von hebräischen Weibern geboren werden,] werft ins Wasser, und alle Töchter lasst leben.«

    Was für ein grausamer Befehl!

    Das Entsetzen muss unermesslich gewesen sein. In dieser Not suchte eine der hebräischen Frauen, sie war aus dem Hause Levi, verzweifelt nach einem Ausweg. Sie war schwanger und es gelang ihr, diese Schwangerschaft zu verbergen. Schließlich gebar sie heimlich einen Sohn und versteckte ihn drei Monate lang. Doch wie sollte es weitergehen? Wie könnte sie ihr Kind auf Dauer vor den Kindermördern des Pharao schützen? Nicht einmal der eigenen Sippe traute sie. Würde nicht eine der anderen Frauen, die mit ansehen hatte müssen, wie ihr Neugeborenes von den Soldaten des Pharaos ertränkt worden war, sie aus Neid und Missgunst verraten? Vor Verzweiflung wusste sie nicht ein noch aus.

    In der Bibel heißt es weiter:

    »Und da sie ihn nicht länger verbergen konnte, machte sie ein Kästlein von Rohr und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind darein und legte ihn in das Schilf am Ufer des Wassers. Aber seine Schwester stand von ferne, dass sie erfahren wollte, wie es ihm gehen würde.«

    Der Zufall wollte es, das just an diesem Tag die Tochter des Pharao mit ihrem Gefolge zum Fluss ging, um dort zu baden. Sie sah das Kästlein im Schilf und ließ es holen.

    »Sie öffnete es, sah das Kind und das Knäblein weinte. Da jammerte es sie und sie sprach: Es ist der hebräischen Kindlein eines.«

    Die Schwester des Säuglings, die diese Vorgänge aus ihrem Versteck heraus beobachtet hatte, rannte nun herbei und fragte, ob sie vielleicht eine der hebräischen Frauen holen solle, um das Kind zu säugen. Dann holte sie ihre Mutter, die die Mutter des Kindes war.

    »Da sprach Pharaos Tochter zu ihr: Nimm das Kind und säuge es mir; ich will dir lohnen. Und das Weib nahm das Kind und säugte es.«

    Durch diese Fügung konnte die glückliche Mutter ihr Kind wieder in die Arme schließen. Aber das Glück währte nicht lange, denn als das Kind nach drei Jahren entwöhnt war, musste sie ihren Sohn an den Königshof bringen. Weiter steht geschrieben:

    »Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharaos und es ward ihr Sohn, und sie hieß ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.«

    So weit einer der ersten bekannten Berichte über eine Mutter, die gezwungen war, ihr Kind wegzugeben, um es am Leben zu erhalten; die Geschichte eines Kindes, das im Alter von drei Jahren von seiner Mutter getrennt und zu seiner Pflegemutter, der Tochter des Pharaos, gebracht und dort am Königshof aufgezogen wurde.

    Seit dieser Zeit hat sich dieses Drama unzählige Male und in den unterschiedlichsten Einzelschicksalen, wiederholt, denen man mit allgemeingültigen Floskeln nicht gerecht wird.

    Eines aber zeigt die Geschichte von Moses: Dass nämlich Mütter, die ihre Kinder weggeben, beileibe nicht immer »Rabenmütter« sein müssen, wie dies so oft – ausgesprochen oder auch nur unausgesprochen – vorherrschende Meinung ist. In vielen Fällen sind sie durch soziale Zwänge, wirtschaftliche Not oder Krankheit dazu gezwungen und leiden ein Leben lang darunter. Nicht jene Mutter ist die beste, die ihr Kind unter allen, auch den unmöglichsten Umständen behält, sondern die, die für ihr Kind das Beste will.

    Auf der anderen Seite waren und sind aber auch die Pflegemütter nicht immer die liebevollen, aufopfernden Wesen, als die sie allzu gerne gesehen werden. Vor allem in früherer Zeit trieb oft die pure Not Frauen dazu, Kinder gegen Kostgeld aufzunehmen, und nicht immer waren diese Kinder gut betreut oder gar geliebt. Sie waren schlicht eine Möglichkeit, durch das Kostgeld, das für sie bezahlt wurde, der Pflegemutter und deren Familie das Überleben zu sichern. Nicht mehr.

    Viele dieser so genannten »Kostkinder« hatten schrecklich unter diesen Umständen zu leiden, sie waren die Ärmsten der Armen und standen auf der sozialen Leiter ganz unten. Hinzu kommt, dass sie die frühkindliche Erfahrung, unerwünscht, ungeliebt und verlassen zu sein, ihr ganzes Leben lang mit sich herumschleppen mussten. Gerade in einer Lebensphase, in der Geborgenheit besonders wichtig ist, in der die Basis für das »Urvertrauen« oder aber lebenslängliches Misstrauen gelegt werden, mussten sie oft Lieblosigkeit, Ausbeutung und körperliche Gewalt ertragen. Wie schwer wird es da, Sicherheit und Selbstvertrauen zu entwickeln sowie die Fähigkeit, Liebe zu geben, wo sie diese Liebe doch selbst nie oder viel zu wenig empfangen hatten.

    Gottlob war und ist dies nicht immer so. Immer schon gab und gibt es Frauen, die mit einem Herz voll Liebe sich dieser armen, verlassenen Kinder angenommen und ihnen ein Heim voll Geborgenheit und Wärme gegeben haben. Oft unter eigenen Entbehrungen.

    Von solch einer »Mutter«, ihrer eigenen, ergreifenden Lebensgeschichte, ihren vielen Pflegekindern und deren Schicksalen soll in diesem Buch die Rede sein.

    Von einer Frau, die Pflegemutter aus echter Berufung ist.

    2. Kapitel

    »Und warum heiße ich Anna-Maria?«

    Die Glocke schrillte durch das kleine Schulhaus. Unterrichtsschluss!

    Das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen klappte sein Lesebuch zusammen. Sorgfältig wischte es mit dem feuchten Schwamm, der mit einer Schnur am Holzrahmen der Schiefertafel befestigt war, über die Tafel und versuchte dann, mit einem Lappen, den sie aus ihrem Schulranzen holte, die Fläche trockenzureiben.

    »Annamirl, Zuckerschnürl, flickt dem Bauern s Hosentürl!«

    Das war der freche Adi, der seinerzeit nach Adolf Hitler, dem »Führer«, benannt worden war. Jetzt, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, war man über diesen Namen nicht mehr recht begeistert, aber nun hieß der Bub so. Da war nichts mehr zu machen.

    »Adolf!« Der alte Lehrer, der die erste und zweite Klasse der kleinen Dorfschule unterrichtete, sah streng auf den Buben herab.

    »Noch einmal, wenn ich dich so etwas sagen höre, dann setzt es ein paar Ohrfeigen!«

    »Und außerdem heiß’ ich Anna-Maria und nicht Annamirl.«

    Das kleine Mädchen sah den um fast einen Kopf größeren Buben trotzig an. »Und dem Bauern sein Hosentürl kannst selber flicken!«

    »Na, na, Kinder! Schluss jetzt! Und du, Annamirl, beeil dich. Schwester Engelburgis steht bereits draußen auf dem Gang und wartet auf dich.«

    Hastig packte das kleine Mädchen Buch, Tafel und Griffelkasten in ihren Ranzen, klappte den Sitz ihres Schreibpultes nach hinten, knickste artig vor dem Lehrer und lief hinaus auf den Gang.

    Dort ging es schon recht munter zu. Aus den verschiedenen Klassenzimmern lärmten Schulkinder jeden Alters und strömten, ihre Ranzen auf dem Rücken, dem Ausgang zu. In einer Ecke des Ganges stand eine Nonne in ihrem Ordensgewand, einem grauen, langen Kleid mit einem breiten, schwarzen Stoffgürtel und einer weißen, gestärkten Haube auf dem Kopf, deren Flügel seitlich abstanden, als hätte ein Windstoß sie weggeblasen.

    »Kommt, Kinder, kommt! Alle Kinder vom Heim hierher!«

    Die Kinder, die zu ihr gehörten, waren unter der Schar der Schüler leicht zu erkennen. Natürlich trugen sie keine Uniform, aber dennoch war ihr Erscheinungsbild recht einheitlich: Die Mädchen unter ihnen hatten saubere Kleider an, mit einer weißen Schürze darüber. Die Haare trugen sie zu Zöpfen geflochten; einige der größeren Mädchen hatten diese zu einem Kranz um den Kopf, andere mit einer Schleife zu Schlaufen gebunden, was man damals »Affenschaukeln« nannte.

    Auch den Buben konnte man ansehen, woher sie kamen: Mit ihren knielangen Hosen, den Kniestrümpfen, mit ihren Hemden und Pullundern und den gescheitelten Haaren (jetzt bei Schulschluss freilich nicht mehr ganz so ordentlich) hoben sie sich von der übrigen Bande ab.

    »Stellt euch in Reih und Glied auf, immer zwei miteinander!«, rief Schwester Engelburgis und klatschte in die Hände.

    Schnell beeilte sich Anna-Maria zu Inge, ihrer besten Freundin, zu kommen. Inge war mindestens einen Kopf größer als sie und ging bereits in die dritte Klasse. Die Mädchen nahmen sich an der Hand. Dann gab die Ordensschwester ein Kommando und es ging im Marschschritt aus dem Schulhaus, hinaus auf den Pausenhof und von dort, sorgsam von der Nonne geführt, über die Straße. Die anderen Kinder, die im Dorf wohnten, rannten hingegen laut und lärmend in alle Richtungen nach Hause, zu Vater und Mutter.

    Der Autoverkehr war in der Nachkriegszeit noch spärlich. Trotzdem empfand Schwester Engelburgis eine schwere Verantwortung, alle ihre Zöglinge unversehrt ins Heim zurückzubringen. Immer wieder witterte sie irgendeine Gefahr und blieb nervös stehen, um die kleine Herde zusammenzuhalten, bis sie endlich im Heim angekommen war.

    Nach einem Fußmarsch von ungefähr einer Viertelstunde kamen sie an dem großen Gebäudekomplex des »Kinderheimes St. Christophorus« an. Es war ein am Ortsrand des Dorfes gelegenes, großes, schlossartiges Gebäude in einem parkähnlichen Garten, von einer hohen Mauer umgeben.

    Als Schwester Engelburgis mit ihrer kleinen Schar das schwere, schmiedeeiserne Tor erreichte, kam von innen der Hausmeister herbei und schloss das Tor auf. »Schnell, schnell, Kinder! Beeilt euch! Es ist höchste Zeit zum Mittagessen!« Schwester Engelburgis trieb ihre kleine Herde wie Lämmer in den Hof, und der Hausmeister sperrte hinter ihnen das Tor wieder zu.

    Das imposante, gelb gestrichene Gebäude, das wohl früher ein Schloss gewesen sein mag, bestand aus einem Mitteltrakt, der von zwei Türmen mit Dächern wie Zwiebelkuppen flankiert war. Dort befanden sich die Gemeinschaftsräume, das Musikzimmer, der Lesesaal, der Speisesaal der Kinder bis zu zehn Jahren, ein Kindergarten und die Verwaltung. Im linken, seitlich angebauten Flügel waren die Schlafsäle der Jungen und deren Erzieher, im rechten die der Mädchen und die Zellen der Nonnen.

    Noch vor nicht allzu langer Zeit, vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte das Anwesen einer reichen jüdischen Familie gehört. Doch dann, von einem Tag auf den anderen, war die Familie verschwunden, und niemand wusste wohin. Doch das hielt die Leute im Dorf natürlich nicht davon ab, die unterschiedlichsten Spekulationen kursieren zu lassen:

    »Sie werden schon nach Amerika gegangen sein«, beruhigte sich manch einer, obwohl man zumindest gerüchteweise gehört hatte, dass die Juden in Arbeitslager abtransportiert wurden; sogar noch schlimmere Geschichten machten die Runde, doch die erzählte man sich nur hinter vorgehaltener Hand.

    Nur wenige Tage nach dem Verschwinden der jüdischen Besitzer zogen ganz andere Gestalten in das Gebäude ein – solche, denen in jenen Tagen die Zukunft zu gehören schien. Man sah jetzt täglich protzige Limousinen und Militärfahrzeuge durch das große schmiedeeiserne Portal fahren. Schneidige Offiziere gingen ein und aus – aber auch hübsche, blonde, junge Frauen bevölkerten das Haus und vergnügten sich im Park. Auffallend viele von ihnen waren schwanger.

    In einem abgelegenen Trakt des Schlosses, der früher einmal als Stallung gedient hatte, wurde gebaut, und bald hieß es, es würde dort ein Kinderkrankenhaus mit einer Entbindungsstation entstehen. Auch die Bevölkerung könne dann kranke Kinder zur Untersuchung dorthin bringen.

    Als es schließlich so weit war, kam tatsächlich mal der eine oder die andere hinter die Mauern des Schlosses, neugierig darauf, was sich dort abspielte. Viel war es nicht, was sie herausfanden, aber sie konnten berichten, dass auch Kinder im Schloss wohnten. Das brachte die Gerüchteküche im Dorf vollends zum Brodeln.

    »Das wird schon eine von Hitlers Zucht-Anstalten sein«, mutmaßten die Männer am Stammtisch und machten derbe, zotige Witze.

    Man hatte schon Mitte der 30er Jahre vage davon gehört, dass Hitler so genannte »Lebensborn«-Heime errichten ließ, in denen ledige Mütter »arischer« Abstammung ihre Kinder austragen, zur Welt bringen und nach Wunsch von parteitreuen SS-Familien adoptieren lassen konnten.

    Später dann, so ab 1939, wurden für das Projekt »Lebensborn« neue Erlasse herausgegeben. Männliche Angehörige der Polizei und der nicht minder gefürchteten »SS« wurden aufgefordert, auch »über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus« für Nachkommen zu sorgen. Gleichzeitig wurde zugesagt, dass die SS für alle von ihren Mitgliedern gezeugten Kinder – ob ehelich oder unehelich – die Vormundschaft übernehmen würde, sollte der Vater »auf dem Felde der Ehre fallen«.

    Es waren diese direkten Aufforderungen zur Zeugung unehelicher Kinder, die nach dem Krieg den »Lebensborn«-Anstalten den Ruf einbrachten, »Zuchtanstalten« des Regimes gewesen zu sein. Orte, an denen planmäßig »arische Herrenmenschen« gezeugt und aufgezogen wurden.

    Der Grund für eine solche Maßnahme des Regimes lag auf der Hand. Der zunächst geplante und dann tatsächlich angezettelte Krieg verschlang Millionen von Menschen, vor allem Männer, und da hielt man es wohl nötig, vorausschauend für Bevölkerungsnachschub zu sorgen.

    Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war dieser Spuk im Schloss freilich schnell vorbei. Zurück blieb nur das Kinderkrankenhaus mit Entbindungsstation, das sich in der Nachkriegszeit in der Gegend einen guten Ruf verschaffte. Darüber hinaus wurde in dem Haus ein Kinderheim der Caritas eingerichtet.

    Die Kleinkinder, die in diesem Heim lebten, bekam man im Dorf kaum zu sehen; fast hermetisch waren sie von ihrer Umwelt abgetrennt. Wenn sie jedoch in das schulpflichtige Alter kamen, mussten sie die Gemeindeschule besuchen und kamen wenigstens auf diese Weise einmal raus. Doch auch das hatte mit Freiheit nichts zu tun, denn sie wurden – so wie heute von Schwester Engelburgis – geschlossen zur Schule gebracht und hinterher wieder abgeholt.

    Zu den Dorfkindern hatten die Heimkinder deshalb außerhalb der Schule auch nur wenig Kontakt, und das lag ganz in der Absicht der Schwestern. Denn gegenseitige Besuche hätten nur gestört und Unruhe in den geregelten Ablauf des Heimes gebracht.

    Die kleine Dorfschule bestand aus zwei einander gegenüberliegenden Häusern; das eine war das so genannte Buben- und das andere das Mädchenschulhaus. Dazwischen lag der gemeinsame Schul- und Pausenhof.

    Bis hinauf zur achten Klasse wurden jeweils zwei Jahrgangsstufen in einem Raum unterrichtet, so dass eine Lehrkraft in einem Raum zwei komplette Jahrgänge zu unterrichten hatte. Dabei ließ man in den unteren Klassen die Jungen und Mädchen noch beieinander. Ab der fünften Klasse erfolgte dann eine Aufteilung nach Geschlechtern.

    Klassenstärken von bis zu fünfzig Kindern waren dementsprechend keine Seltenheit – aber auch kein größeres Problem, denn Disziplin und Gehorsam wurden ohne jedes Wenn und Aber durchgesetzt. Kinder hatten in erster Linie zu gehorchen. Körperliche Züchtigung wie eine Kopfnuss, eine Ohrfeige, strammes Ziehen an den Ohren oder Tatzenhiebe mit dem Rohrstock über die auszustreckenden Fingerspitzen, waren üblich, wenn jemand schwätzte, unruhig war oder gar die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

    Für die Mädchen gab es leichtere Strafen, etwa das Ziehen an den Haaren und Zöpfen oder auch gelegentlich ein leichter Wangenstreich. Doch dies war für die Gezüchtigte schon schlimm genug, denn in erster Linie bedeutete solch eine Strafe eine große Schande, zu der die anderen Kinder das ihre beitrugen, indem sie zu Hause schadenfroh von den Ereignissen berichteten. Sicher taten sie das, weil sie eigentlich nur froh waren, dass sie – zumindest diesmal – nicht zu den Gemaßregelten gehörten. Aber menschlicher wurde das System aus Gehorsam und Strafe dadurch natürlich auch nicht.

    Schwester Engelburgis war mit ihren Zöglingen im Haus angekommen. Ordentlich aufgereiht standen sie in der großen Halle. »Schnell, schnell, auf eure Zimmer und dann im Waschsaal die Hände waschen! Das Essen steht schon im Speisesaal bereit!«

    Eilig rannten die Kinder davon, die Buben nach links, die Mädchen nach rechts, um in den Schlafsälen die Schulranzen abzulegen, sich im Waschsaal die Hände zu waschen und möglichst schnell wieder unten im großen Speisesaal zu sein.

    Es dauerte keine Viertelstunde, bis ein jedes ordentlich hinter seinem Stuhl stand.

    »Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, Amen!«, betete eines der größeren Mädchen, das für diese Woche Gebetdienst hatte, vor, und die Kinder sprachen das Gebet nach. Dann wurden geräuschvoll die Stühle nach hinten gezogen, und alle setzten sich.

    Ab jetzt herrschte absolutes Sprechverbot bis zum Ende der Mahlzeit und dem Abschlussgebet.

    Die Nonnen, die für den Speisesaal zuständig waren, gingen, unterstützt von einigen größeren Mädchen, die Küchendienst hatten, von Tisch zu Tisch und teilten das Essen aus. Suppe und dann meist Nudeln mit Soße oder eine Mehlspeise und als Nachtisch den obligatorischen Apfel. Mit einem stummen Kopfnicken dankten die Kinder für das Essen.

    Fleisch gab es nur an Sonn- oder Feiertagen und freitags, der katholischen Tradition entsprechend, Fisch, bei dessen Geruch die meisten der Kinder angewidert das Gesicht verzogen. Doch es gab kein Pardon, jeder Teller musste leer gegessen werden.

    Not mussten die Kinder des Christophorus-Heimes immerhin nicht leiden. Da hatte so manches Kind im Dorf weniger oder Schlechteres zu essen, vor allem, wenn der Vater im Krieg geblieben war und die Mutter allein für mehrere hungrige Mäuler

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