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MENSCHLICHES Maß gegen GIER und HASS: Small is beautiful im 21. Jahrhundert
MENSCHLICHES Maß gegen GIER und HASS: Small is beautiful im 21. Jahrhundert
MENSCHLICHES Maß gegen GIER und HASS: Small is beautiful im 21. Jahrhundert
Ebook341 pages4 hours

MENSCHLICHES Maß gegen GIER und HASS: Small is beautiful im 21. Jahrhundert

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"Small is beautiful" lautet der Titel des Hauptwerks von Ernst Friedrich Schumacher aus dem Jahr 1973, das prompt zum Weltbestseller avancierte. In der Denktradition seines Mentors Leopold Kohr, Staatswissenschaftler und Philosoph, entwickelte Schumacher eine ökonomische Alternative zur bestehenden Wachstumsdoktrin, die sozial- und umweltverträgliche Technologie postulierte.

Michael Breisky macht die hochaktuellen Thesen der beiden Vordenker zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Kohr und Schumacher dienen dem Globalisierungskritiker dabei als Leitbilder für seine Ideen zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die dem menschlichen Maß im Zeitalter von Gier und Macht den nötigen Stellenwert einräumt. In dieser Neuausgabe zeichnet Breisky mit politisch-philosophischer Finesse den Weg vor, der im Sinne der Postwachstumsökonomie eine strikte Regionalisierung sowie eine Reform der Geld- und Zinspolitik für ein gelungenes Leben einfordert. In diesem vielschichtigen Werk mit visionärem Anspruch verweist Breisky auf Haltungen und Wertvorstellungen, die der Gesellschaft von morgen schon heute als Maßstab dienen können.
LanguageDeutsch
Release dateOct 25, 2018
ISBN9783903236233
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    MENSCHLICHES Maß gegen GIER und HASS - Michael Breisky

    Salzburg

    1. Idee und Maß

    Zwei Szenarien

    Allein gelassen, reiten sich alle großen Ideen zu Tode; Mäßigung finden sie nur in der Begegnung mit etwas Anderem. Das ist ein ehernes Gesetz des Universums.

    Der Planet Erde im Sonnensystem der Milchstraße zeigt das sehr anschaulich: Dort hat die Spezies der Menschen – wohl mit leiser Ironie nannte sie sich „Homo sapiens, ja sogar „Homo sapiens sapiens – zunächst sehr unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt und dabei ein recht stabiles Gleichgewicht eingehalten. Das begann sich zu ändern, als man noch einige Jahrhunderte vor Beginn ihrer Zeitrechnung auf den eigenartigen Gedanken kam, dass Geist und Materie nichts miteinander zu tun hätten. Rund 2000 Jahre später wurde dieser Gedanke auf die Spitze getrieben, als die Bewohner eines kleinen, Europa genannten Erdteils begannen, ihren Verstand dem Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Umwelt zu entziehen und stattdessen eine Reihe von abstrakten Erfolgsprinzipien zu entwickeln. Sie nannten diese Epoche „Aufklärung und die neue Praxis „Ideen oder „Abstraktionen. Tatsächlich gelang es den Europäern und dann auch ihren Ablegern in Nordamerika und anderen Weltgegenden, mit dieser Art des Vernunftdenkens viel zu bewegen. Wissenschaft und Technik blühten auf, individuelle Menschenrechte und Demokratie wurden entwickelt. Wohl am deutlichsten war der Erfolg am enormen Bevölkerungswachstum ablesbar. So stand innerhalb von drei Jahrhunderten der gesamte Erdball unter den bestimmenden Einfluss dieser „Aufklärung. Aber: Mangels Begegnung mit ähnlich starken Prinzipien maßlos geworden, führte dieses Erfolgsprinzip zur Vernachlässigung der Umwelt und seit der Wende zum dritten Jahrtausend zu immer größeren Umweltkatastrophen.

    Gleichzeitig kam eine größere Katastrophe aus dem Bereich, in dem die Abstraktionen am weitesten getrieben wurden, nämlich aus dem Finanzwesen. Dieses hatte in der menschlichen Gesellschaft zwar schon immer eine große Rolle eingenommen, war aber nun derart komplex geworden und von den Bedürfnissen der Menschen entrückt, dass schon ein vergleichsweise nichtiger Anlass seinen Zusammenbruch auslöste. Durch die zentrale Rolle der Finanz wurden umgehend auch alle anderen Tätigkeitsbereiche getroffen, darunter vor allem die über Großorganisationen abgewickelte Versorgung dicht besiedelter Regionen mit Nahrung, Energie und Information. Ihr Zusammenbruch hatte Hunger, Chaos und Gewalt zur Folge, dann auch Flüchtlingsströme, Seuchen und noch mehr Gewalt.

    Um das Elend voll zu machen, traten dann auch die Anhänger eines anderen, ins Unmaß getriebenen Erfolgsprinzips auf: Religiöse Fundamentalisten jubelten über diese Endzeitstimmung, verübten immer schrecklichere Terrorakte, schafften sich Zugriff auf Nuklearwaffen und setzten sie schließlich auch ein. Ein großer Teil der Weltbevölkerung ging dabei zugrunde, und auch die wenigen Überlebenden konnten keine Erholung erreichen. Wegen der verseuchten Umwelt samt Klimaerwärmung waren andere Spezies Gewinner dieser Megakatastrophe, nämlich zuerst die Ratten und dann die Termiten.

    So ungefähr könnte ein Bericht außerirdischer Wesen über die Schicksale von Erde und Mensch aussehen. Aber zunächst zwei Vorfragen, bevor diese Thematik näher beleuchtet wird: Glauben Sie auch, lieber Leser, dass der konkrete Mensch im Zentrum der Politik stehen soll?

    Und soll man sich dann nicht auch dem demokratischen Ideal verpflichten und jede Fremdbestimmung mit all ihren offenen oder verdeckten Formen ablehnen – sei es nun mächtige Ausnahmepersönlichkeiten, Experten oder Eliten, die sich immer feudalistischer geben und zu Oligarchien mausern? Wenn Sie die beiden Fragen nicht mit einem klaren Ja beantworten können, werden Sie mit „Menschliches Maß" wenig anfangen können – sparen Sie sich daher die weitere Lektüre dieses Buches und machen Sie sich einen schönen Tag – es könnte ja Ihr letzter sein!

    Nach dieser Verabschiedung von Demokratiegegnern kehren wir naive Idealisten zurück zum Katastrophenszenario: Es mag unserem Bauchgefühl widersprechen, sein Eintritt ist aber nach den Regeln der Vernunft höchst wahrscheinlich; ist es doch die logische Fortschreibung der bisher klar zutage getretenen Trends – und es entspricht ja auch ganz den Erfahrungen der biologischen Evolution mit ihrem Auf und Ab der Spezies.

    Der Vernunft zum Trotz muss es aber doch nicht ganz so schlimm kommen. Mit „G.G." – das je nach Weltanschauung für gigantisches Glück oder göttliche Gnade stehen mag – könnte ein zukünftiger, aber durchaus irdischer Bericht über die Folgen der Finanzkrise etwa so ausschauen:

    Die 2008 offen zutage getretene Finanzkrise wurde zu einer schweren Dauerkrise, der sich keine Weltgegend entziehen konnte. Zwar wurde ein Totalabsturz des Finanzsystems verhindert, es gelang aber nicht, Gesellschaft und Wirtschaft wieder auf gesunde Beine zu stellen. Grund dafür war vor allem die Schwäche demokratisch gewählter Regierungen: Sie wussten zwar, dass einschneidende Reformen notwendig waren, die hauptsächlich zu Lasten der Finanzwirtschaft gehen mussten; sie fürchteten aber, den Konflikt mit der übermächtig gewordenen internationalen Hochfinanz nicht gewinnen zu können – jedenfalls nicht innerhalb einer Legislaturperiode. Vor allem um ihre Wiederwahl besorgt, verweigerten sie diese Reformen und verausgabten sich weiter mit Symptomkuren. Immerhin blieb dabei die öffentliche Sicherheit trotz zahlreicher Ausschreitungen verarmter und arbeitsloser Massen weitgehend aufrecht, was auch die notdürftigste Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Energie und Information ermöglichte.

    In dem Maße, wie die Unfähigkeit der Politik zur Entschärfung der Krise immer deutlicher wurde und die allgemeine Stimmung in stille Verzweiflung abrutschte (obwohl sich manchmal einzelne Schwalben statistischen Wachstums zeigten, blieben sie nicht lange genug, um einen Wirtschaftssommer verkünden zu können), suchten vor allem Arbeitslose und Globalisierungsverlierer Abhilfe außerhalb etablierter Politik – und wurden bei sich selbst fündig. Sie übernahmen viele Ideen und Methoden der Zivilgesellschaft, wie sie sich mit dem Siegeszug des Internets entwickelt hatte; konkret gingen sie zu Kooperationsmodellen über, bei denen das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorläufig offen bleiben konnte. So gründeten sie die verschiedensten Tauschkreise und darauf aufbauend bald auch Alternativwährungen in der Form zinsfrei zirkulierender Gutscheine. Zunächst konnte mit diesen primitiv anmutenden Methoden nur ein Überleben auf sehr bescheidenem Niveau erreicht werden. Nach einiger Zeit änderte sich das jedoch überraschend schnell zum Besseren als Folge zweier Entwicklungen:

    Zum einen zog man aus dem distanzierten, aber leidlich funktionierenden Nebeneinander von Finanz- und offener Tauschwirtschaft die richtigen Schlüsse: Jedes der beiden Systeme hatte seine besonderen Stärken und Schwächen. So entwickelte sich allmählich ein konstruktives Spannungsverhältnis. Weil dies den menschlichen Bedürfnissen offenbar bestens entsprach, entdeckte man bald auch den Reiz, in gleicher Weise mit anderen übersteigerten Erfolgsprinzipien umzugehen: Man setzte auch sie in ein Spannungsverhältnis mit anderen Prinzipien, die auf den ersten Blick konträr zu sein schienen, tatsächlich aber sich ergänzten: Marktversorgung mit kooperativer Eigen-Versorgung, kapitalintensive Hochtechnologie mit arbeitsintensiver „mittlerer" Technologie, Quantität mit Qualität, Toleranz mit Identität, repräsentative mit direkter Demokratie – aber auch Demokratie mit Hierarchie. Dabei steckte in fast allen dieser Spannungsverhältnisse der Gegensatz zwischen linearer Effizienz und ganzheitlicher Resilienz.

    Kurz: Die praktischen Vorteile des Menschlichen Maßes wurden mehr und mehr überschaubar und erleichterten damit die politischen Entscheidungen.

    Zum anderen entdeckte man die schon vergessen geglaubte Urfreude an Selbstgeschaffenem und an der Freiheit von undurchschaubaren Strukturen. Ein Geist der Verbundenheit machte sich unter den Anhängern dieser Einstellung breit, der bald auch nach außen ausstrahlte: Wo diese Freude auftauchte und die allgemeine Düsternis der Dauerkrise so deutlich durchbrach, regte sie immer mehr Menschen zur Nachahmung an – jeder wollte nun mehr singen und lachen, mit seinen Nachbarn im großen Palaver lang und theatralisch debattieren, Kinder um sich haben, gut gärtnern, kochen und essen sowie besseren Sex haben – und mit dem Menschlichen Maß war das alles durchaus möglich geworden!

    Spätestens jetzt muss klargestellt werden, dass apokalyptische Katastrophen mit anschließender langer Dauerkrise nicht nur aus einem exzessivem Finanzwesens heraus entstehen können. Genauso möglich ist, dass Cybercrime, Terror oder auch nur die Dummheit von Akteuren andere Bereiche höchster Komplexität wie das Internet oder den internationalen Strom-Verbund zum Entgleisen bringen – wobei als krasse Dummheit auch gelten muss, wo man glaubt in fernen Regionen „begrenzte Kriege" beginnen zu können.

    Wie auch immer, ich bin überzeugt, die Bedrohung der Menschheit liegt heute in der Maßlosigkeit dessen, was sie als ihre großen Ideen und Erfolgsprinzipien ansieht; und wirklich menschenwürdig kann ein Überleben nur sein, wenn wir den überall wehenden Geist der Verbundenheit wieder finden und stärken; er ist es ja, der Qualität über Quantität stellt und Kooperation über Wettbewerb; und der damit den Weg zu gelungenem Leben weist. Damit sich dieser Geist entfalten kann, braucht er jedoch äußere Strukturen, die im Rahmen des Menschlichen Maßes liegen. Daher muss es zuerst darum gehen, eine praktikable Methode zu entwickeln, die solche Strukturen fördert. Das gelingt am besten, wo wir uns ein überschaubares Umfeld schaffen. Es ist aber auch dort möglich, wo wir darüber hinaus gehen müssen und uns nun an abstrakten Erfolgsprinzipien orientieren, solange wir diese Prinzipien in einem lebendigen Spannungsverhältnis halten; wo wir also Erfolgsprinzipien mit ihren gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Prinzipien konfrontieren und dann versuchen, beide in konkreten Situationen im Gleichgewicht zu halten.

    Wie rasch dieser Weg sich auch durchsetzen kann, ist freilich eine andere Frage. Horrorszenarien werden die Menschen wohl kaum dazu veranlassen können. Auch auf die Politik – also auf „von oben verordnete Maßnahmen – wird man kaum warten wollen. Wie gesagt, vor die Wahl gestellt zwischen etwas Neuem, dessen positive Wirkung erst nach den nächsten Wahlen allgemein sichtbar wird, und eingefahrenen Praktiken des puren Machterhalts, werden sich Politiker regelmäßig für Letzteres entscheiden. Die Umkehr muss daher „von unten kommen, anfangs ganz an der Politik vorbei und klein, dabei ganz auf sich selbst gestellt, soll es das Erleben von schöpferischer Freude sein, das den Durchbruch schafft: Aus den ersten Erfolgserlebnissen der Arbeitslosen, „dem System ein Schnippchen geschlagen zu haben, soll sich die Aussicht auf ein „gutes Leben entwickeln – denn genau das ist ja durchaus in Reichweite wirklich selbst-bewusster Menschen. Ist dieser Wagen einmal gut in Fahrt, kann man sicher sein: Die Politiker werden sich sogleich aufs Trittbrett schwingen und gerne die notwendigen legistischen Maßnahmen ergreifen.

    Nun kann ich auch zum Zweck dieses Buches kommen: Wie gesagt, wird bis zum allgemeinen Wirksamwerden des Menschlichen Maßes wohl einige Zeit vergehen müssen. Dass dieser Zeitraum möglichst kurz bleibt und auch für den Fall des Zusammenbruchs aller gängigen Finanzsysteme ein Sicherheitsnetz da ist – dafür soll hier ein Beitrag geleistet werden. Ich bin auch überzeugt, dass dies schneller geht, und das Vertrauen in den Geist der Verbundenheit rascher hergestellt sein wird, als es sich die meisten „Realisten" unserer Zeit vorstellen können.

    Auf der Suche nach dem richtigen Feindbild

    Zunächst eine persönliche Bemerkung: Von meinem schönen Diplomatenberuf habe ich einige Erfahrungen mitgenommen, die sich auch „im normalen Leben" bewähren. Neben Aufrichtigkeit und Höflichkeit ist das vor allem: ganzheitlich denken, immer im Gespräch bleiben, und deswegen allen Gesprächspartnern – und vor allem sich selbst – einen Notausgang offen lassen.

    Das mag alles vernünftig und pragmatisch sein und einer friedlichen Konfliktlösung dienen, aber ich gebe gerne zu, dass Diplomaten damit auch oft den Eindruck erwecken, dass hinter dem ständigen „einerseits – andererseits", Vernunft-Appellen und ausgesuchter Höflichkeit oft wenig Substanz zu sehen ist. Allerdings gibt es auch für Diplomaten Momente, wo sie den Anschein polemischer Vereinfachung erwecken müssen, um aus verfahrenen Situationen ausbrechen zu können.

    Dank maßlos überzogener Ideen steht heute die ganze Menschheit in einer solchen Situation. Eine totale Katastrophe ist keineswegs unwahrscheinlich, wie ich schon gezeigt habe; und auch die Voraussetzungen für die optimistischere Variante scheinen heute nicht und nicht wirksam werden zu wollen. Kurz: Außer nach unten geht offenbar nichts weiter.

    Wir – also der an einem menschenwürdigen Überleben interessierte Teil unserer Spezies – brauchen daher eine Art Motto oder Metapher, mit der wir in polemischer Vereinfachung einerseits so viel Emotionen wecken, dass die resignierend schweigenden Mehrheiten aufgerüttelt werden; und ist einmal genug Veränderungswille gegeben, darf diese polemische Vereinfachung andererseits nicht einem vernünftigen Diskurs im Wege stehen. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die gewünschte Emotionalisierung mit Feindbildern besser gelingt als mit Idealen.

    Die maßlos überzogenen Ideen

    Das Feindbild muss klug gewählt sein. Daher muss man zunächst abklären: Wo liegen jeweils die tieferen Gründe für die zunehmende Frustration über das „Versagen von zentralen Ideen und Werten, die bisher höchst erfolgreich waren, sei es nun Demokratie, Toleranz, Säkularismus, Nationalstaat – ja auch Buchgeld, Wirtschaftswachstum und Effizienz? Da diese „typisch westlichen Ideen und Werte erst mit der Aufklärung groß geworden sind, müssen offenbar grundlegende Dinge dieser Denkungsart in Schieflage geraten sein. Der Hang zur Maßlosigkeit wurde ja schon diskutiert, aber es muss wohl auch darüber hinaus eine treibende Kraft geben, die es zu benennen gilt: Was könnte das sein?

    Dazu eine weitere Vorfrage: Wo genau liegen die konkreten Exzesse? Sozusagen der Erstgeborene auf der Kehrseite der Aufklärung ist die extreme Wissenschaftsgläubigkeit; also das, was die Philosophie den Szientismus nennt. Es ist die materialistische Überzeugung, dass sich mit naturwissenschaftlichen Methoden alle sinnvollen Fragen beantworten lassen; Geist wirft mehr Fragen als Antworten auf, ist von der Materie getrennt und darf in einem „vernünftigen Diskurs" keine Rolle spielen.

    Daher fordern Szientisten auch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden in nahezu allen gesellschaftlichen Teilbereichen, nicht zuletzt auch in der Politik. Sie ignorieren jedoch, dass die zahlreichen Kritiker des Szientismus – von Hegel über Friedrich v. Hayek und Ludwig Wittgenstein zu Karl Popper u.a. – stets auf die Unterschiede zwischen dem der wissenschaftlichen Prüfung Zugänglichen und dem Unzugänglichen hinweisen; vereinfacht ausgedrückt, also zwischen linearem Wissen und ganzheitlichem Verstehen.

    Als Zweitgeborener der Aufklärung wäre der Glaube an steten Fortschritt und unendliches Wachstum zu nennen: Weil wir durch den Vernunftgebrauch immer klüger werden und die Natur immer besser zu verstehen glauben, sollte es uns auch gelingen, natürliche Ressourcen immer besser zu nutzen und dabei gesellschaftliche Fehler zu vermeiden.

    Und so kann man im Bewusstsein des ständigen, nur von kurzen und lehrreichen Rückschlägen unterbrochenen Fortschritts auch an ein unendliches Wachstum von Konsum und Wohlstand glauben. Dieser Glaube dient dann der Politik als Allheilmittel für fast alle Probleme; suggeriert er doch selbst den ärmsten Bevölkerungsschichten, dass sich früher oder später auch bei ihnen der Wohlstand einstellen wird. Ignoriert wird aber, das der Lauf der Geschichte offen ist, und der Mythos vom ewigen Wachstum zu schwersten Umweltsünden geführt hat; ist er doch mit den begrenzten Ressourcen der Erde und den Gesetzen der Thermodynamik unvereinbar – es sind ja schon heute die im Laufe eines ganzen Jahres nachwachsenden natürlichen Ressourcen bereits nach acht Monaten verbraucht.¹

    Beide Arten von Gläubigkeit haben ihrerseits eher inzestuöse Kinder gezeugt: Sei es der Monetarismus, für den der einzige Wert auf der Welt der Geldeswert ist. Sei es der extreme Individualismus; er ist zwar in seinem Urverständnis unser wertvollstes Erbe der griechischen Antike und war in dieser Form auch eine zentrale Säule der Aufklärung. Er hat aber schon im 19. Jahrhundert den Begriff des Privateigentums radikal erweitert, indem er die Rechte des Grundbesitzers, des Arbeitgebers und des Kapitalisten jeder sozialen Verantwortung enthoben und damit verabsolutiert hat – was dann zu Landflucht und wachsendem Industrieproletariat geführt hat, mit all den bis heute ungelösten sozialen Problemen.² Oder sei es das Wettbewerbsprinzip, das uns von der biologischen Evolution bis zur Demokratie viel erklären kann, das aber nicht zuletzt im Sozialdarwinismus krass ins Unmaß geraten ist. Und Wettbewerb ist schließlich auch das zentrale Thema des marktwirtschaftlichen Prinzips, in dem sich auch die anderen hier aufgezählten Ideen der Aufklärung wiederfinden – im maßvoll Guten wie auch im exzessiv Bösen.

    Ich kann nicht oft genug wiederholen: Selbstverständlich war die Aufklärung gut und für das Überleben einer wachsenden Weltbevölkerung absolut notwendig; sie ist aber unvollständig geblieben, weil sie sich bis heute nicht mit der Frage des richtigen Maßes ihrer Erkenntnisse befasst hat. Schon der große Philosoph Leopold Kohr (1909-1994) – von dem leider immer noch nicht viel mehr bekannt ist als das fälschlich ihm zugeschriebene, tatsächlich jedoch von seinem Freund E.F. Schumacher stammende „small is beautiful" – meinte daher, dass das Paracelsus-Wort „Jede Arznei ist Gift – entscheidend ist nur die Dosis auch für alle „großen Ideen und Ideologien Gültigkeit habe.³ Wissenschaft, Wachstum und Fortschritt, Individualität, Privateigentum, Wettbewerb wie auch Geld und Markt bleiben daher durchaus wichtige und für unser Zusammenleben unverzichtbare Ideen und Werte, sie sind aber ins Unmaß geraten. Konkret bilden sie heute in ihrer Übersteigerung die Grundlage, die einem natürlichen Urinstinkt so viel Antrieb und vorgebliche Rechtfertigung gegeben hat, dass er in abstoßendes Unmaß gesteigert wurde: nämlich das zur Gier mutierte Erwerbsstreben, seinerzeit wohl aus dem urbiologischen Fresstrieb entstanden.

    Der Mammon …

    So kursiert das böse Schlagwort von der Gier schon seit der Finanzkrise von 2008. Sie soll schuld sein an sinnlosem Horten von Geld und Geldeswert, allseits galoppierender Korruption, am Bodenverlust der Börsenzocker und vielem anderen mehr. Für ein Feindbild ist die Gier jedoch nicht geeignet – auch sie ist, wie gesagt, „nur" ein ins Unmaß gekippter Ur-Instinkt, also eine im Prinzip durchaus nützliche Eigenschaft des Menschen. Immerhin weist aber die Gier den Weg zu einem brauchbaren Feindbild, und so sei hier sein Name genannt: Es ist der Mammon.

    Im Mammon sehe ich eine Politik maßloser Übertreibung, genauer gesagt die Bündelung und weitere Steigerung von Exzessen guter Ideen im Zeichen der Gier. Der Mammon ist laut Wikipedia „ein unredlich erworbener Gewinn oder unmoralisch eingesetzter Reichtum, wenn er etwa zur lebensbestimmenden Maxime wird." In Volksglaube und Literatur wurde er „als personifizierter Reichtum zu einem Dämon, der den Menschen zu Geiz und Habgier verführt." Und so kennt man ihn als die goldglänzende Figur, die in Hugo von Hofmannsthals „Jedermann alljährlich auf dem Salzburger Domplatz aus der Geldtruhe springt, sich rühmt, den Jedermann „wie einen Hampelmann tanzen zu lassen, ihn aber in der Todesstunde allein lässt. Schon in der Bibel ist er zum Begriff geworden: „Niemand kann zwei Herren dienen. […] Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon."

    Ganz einfach: Mammon ist der Ungeist, der der Gier freie Bahn schafft und die dazu notwendigen Strukturen und Verhaltensmuster fördert. Egal, ob man Mammon als einen aus der Welt des Geistes kommenden, parasitären Ungeist sieht; oder ob man zu seiner Erklärung naturgesetzliche Phänomene der Selbstorganisation (Autopoiesis)⁵ heranzieht, man tut gut daran, Mammon als eine sich organisch verhaltende, also voll lebendige Idee zu verstehen. Sowohl deren Rechtfertigung als auch ihre zunehmende Dynamik ruht, wie gesagt, auf Exzessen großer Ideen der Aufklärung – mögen sie nun aus dem Bewusstsein verdrängt worden sein oder nicht.

    … und seine Diener

    Die Figur des Mammon ist stark in ihrer dämonischen Aussage, aber gleichzeitig so abstrakt, dass sich kein Mensch direkt angesprochen fühlen muss, und sich auch keine klassischen Verschwörungstheorien daran festmachen lassen. Was es aber gibt, ist eine kleine Gesellschaftsschicht – man kann sie auch einen neuen Stand oder Kaste nennen – die man als besonders effiziente Diener Mammons sehen sollte; auch sie betreiben allem Anschein nach keine umfassenden Verschwörungen, verhalten sich aber – wiederum den Grundsätzen der Selbstorganisation folgend – erstaunlich einheitlich und situationselastisch. Gemeint ist hier die Fehlentwicklung vieler großer Organisationen durch ihr Führungspersonal. Als Manager sollten diese servant leaders zwar nur Treuhänder sein, agieren aber zuvorderst als Nutznießer in eigener Sache – ein Phänomen, das von Manfred Höfle für den Bereich der Unternehmensführung beschrieben wurde, der diesen Menschentyp „Manageristen" nennt.⁶ Ihr Kennzeichen ist die Pervertierung von Führungsfunktionen durch Maximierung ihrer persönlichen Vorteile – Stichwort: exzessive Bonuszahlungen – bei gleichzeitiger Minimierung, ja gänzlichem Ausschluss ihrer Verantwortung, ganz zu schweigen von ihrer persönlichen Haftung. Höfle spricht hier von einer „Selbstprivilegierung".

    Manageristen im Dienste Mammons manipulieren mit ihren Netzwerken ganze Märkte, große Teile des Finanzwesens, Konzernen der Industrie und des Dienstleistungssektors, ganz abgesehen von der Vereinnahmung von Publikumsgesellschaften. Als „Schattenmächte" – wie Fritz Glunk diese transnationalen Netzwerke in seinem gleichnamigen Buch⁷ nennt – gelingt es ihnen sogar die demokratische Gesetzgebung auszuhebeln: Viele globale Standards und Normen werden von ihnen festgelegt und dann von den Parlamenten nur mehr abgenickt und in Gesetze überführt. In typischer Selbstorganisation der Interessen erfolgt Zusammentreffen, Ablauf und Beschlussfassung völlig freiwillig. Wichtigstes Beispiel dafür ist im Finanzwesen der „Basler Ausschuss für Bankenaufsicht; er soll zur Einführung hoher und möglichst einheitlicher Standards in der Bankenaufsicht beitragen, seine „Empfehlungen treten nun regelmäßig als EU-Richtlinien in Kraft. In der Industrie scheint vor allem der Pharmabereich mit solchen informellen Netzwerken zu operieren. Glunk schätzt, dass weltweit etwa 2000 Gruppierungen dieser Art bestehen

    Wo Manageristen in Konzernen tätig waren, gelang ihren corporations über die Kapitalmärkte die völlige Anonymisierung von Eigentum, womit der Anteilsschein – etwa an einer AG – zum Spekulationspapier gewandelt und das Verständnis vom Eigentum mit seinen sozialen Bindungen entwertet wurde – Loyalität wurde da zum Fremdwort. Fonds, insbesondere die Hedge- und Private Equity-Varianten, wurden dadurch zu anonymen, aber höchst einflussreichen Kapitalsammelstellen, einzig am shareholder value ausgerichtete corporate governors. Überhaupt haben Manageristen großen Anteil an der Umkehrung der Verhältnisse in der Marktwirtschaft: Kam früher der wertschaffenden Realwirtschaft die Führungsrolle zu, so liegt diese nun ganz offenkundig bei der Finanzwirtschaft.

    So wie bei weitem nicht alle Wirtschaftsmanager Manageristen sind, so finden sich Manageristen auch in anderen Bereichen, insbesondere der Politik; dort sind sie besonders gerne in Interessenvertretungen tätig, also in Parteiorganisationen, Kammern, Gewerkschaften und ähnlichen Verbänden. Zwar scheint da die Gier mehr auf Macht als auf Geld zu zielen, doch wird auch hier Mammon geopfert – ganz abgesehen davon, dass die vordergründig angestrebte politische Macht oft nur die Vorstufe für spätere, höchst lukrative Positionen in

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