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Impulse für die Zukunft: aus Waldorf- und Heilpädagogik
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Impulse für die Zukunft: aus Waldorf- und Heilpädagogik

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Die leitende Grundfrage eines in der Aus- und Weiterbildung von Pädagog*innen tätigen Instituts bezieht sich auf das dort inhärente Verständnis von Studium und damit einer zeitgemäßen Erwachsenenbildung. Zum einen gilt es, Inhalte zu vermitteln, und zum anderen persönliche Entwicklungsprozesse anzustoßen, sowie sich auch als Lehrende in der Begegnung weiterzuentwickeln. Fragen wollen immer wieder neu gestellt und beleuchtet, Antworten angepasst werden. Wie gestalten sich Bildungsprozesse für Menschen, die sich selbstverantwortlich in diese stellen, um sich umfassend vorzubereiten auf eine spätere berufliche Tätigkeit, welche dann die persönliche (Weiter-)Veränderung genuin in sich trägt?
Pädagog*innen gestalten Zukunft - in Verantwortung und immer neu.
MIT BEITRÄGEN VON: Christiane Adam, Ulrike Barth, Matthias Bunge, Ariane Clemens, Christiane Drechsler, Gisela Erdin, Johannes Kühl, Thomas Maschke, Sophie Pannitschka, Albert Schmelzer, Peter Schnell, Ha Vinh Tho, Johannes Wagemann, Götz W. Werner, Angelika Wiehl, Dirk Wollenhaupt und Studierenden
LanguageDeutsch
Release dateOct 26, 2018
ISBN9783748113447
Impulse für die Zukunft: aus Waldorf- und Heilpädagogik

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    Impulse für die Zukunft - Books on Demand

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort und Einleitung der Herausgeber*innen

    Lebendige Anthropologie als Grundlage der Waldorfpädagogik

    Albert Schmelzer

    Erziehung oder Freiheit?

    Die Entwicklung des Kindes im Spiegel unterschiedlicher Entwicklungstheorien

    Gisela Erdin

    Goetheanismus und Physik

    In welchem Sinne ergänzen sich Goetheanismus und konventionelle Naturwissenschaft?

    Johannes Kühl

    Bewusstseinsphänomenologische Bemerkungen zum Rhythmusmotiv in Rudolf Steiners Allgemeiner Menschenkunde

    Johannes Wagemann

    Erziehungskunst als Soziale Plastik

    Matthias Bunge

    Freiheit und Verantwortung – zum Berufsbild von Klassenlehrer*innen an Waldorfschulen

    Ariane Clemens und Thomas Maschke

    Motiv Entwicklung: Persönlichkeitsentfaltung für den Lehrer*innenberuf

    Sophie Pannitschka

    Lernen, ein künstlerischer Prozess?!

    Ein Essay

    Dirk Wollenhaupt

    Träumen – Denken – Wollen – Tun

    Über die Notwendigkeit einer Debatte über die Zukunft unseres Zusammenlebens. Ein Essay

    Götz W. Werner

    Wir brauchen eine neue Aufmerksamkeitskultur

    Angelika Wiehl im Gespräch mit Ha Vinh Tho, März 2018

    „Ich denke tiefgehender und gleichzeitig freier"

    Ergebnisse einer qualitativen Studierenden-Befragung

    Studierende von Akademie und Institut

    Interkulturelle Bildung: Waldorfpädagogik in der Migrationsgesellschaft

    Christiane Adam und Albert Schmelzer

    Motivation und Widerstand – Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention

    Ein Zwischenruf

    Christiane Drechsler

    Pädagogik aktiv und positiv gestalten: Individualität in Gemeinschaft – ohne Diskriminierungen

    Ulrike Barth und Thomas Maschke

    „Wir brauchen immer neue Ideen und Entwicklungen"

    Interview mit Peter Schnell

    Autoren*innen

    Einleitung der Herausgeber*innen

    Die Konzeptionierung und Herausgabe eines Buches, welches die Vielfalt der Themen und damit Arbeitsbereiche und Arbeitsfrüchte eines im pädagogischen Spektrum tätigen Instituts abbilden möchte, steht vor einer umfassenden Aufgabenstellung und vielen Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen.

    Die alles leitende Grundfrage bezieht sich auf das dort inhärente Verständnis von Studium und damit einer zeitgemäßen Erwachsenenbildung. Zum einen gilt es, Inhalte zu vermitteln, und zum anderen persönliche Entwicklungsprozesse anzustoßen sowie sich auch als Lehrende in der Begegnung weiterzuentwickeln. Fragen wollen immer wieder neu gestellt und beleuchtet, Antworten angepasst werden. Wie gestalten sich Bildungsprozesse für Menschen, die sich selbstverantwortlich in diese stellen, um sich umfassend vorzubereiten auf eine spätere berufliche Tätigkeit, welche dann die persönliche (Weiter-)Veränderung genuin in sich trägt?

    Hier ist die Ebene der Persönlichkeitsentwicklung im Sozialen ebenso berührt, wie die Frage nach bildenden Inhalten und adäquaten Lehrmethoden. Einige Kolleginnen und Kollegen sowie Freunde der Akademie für Waldorfpädagogik und des Instituts für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule machen sich in ihren Beiträgen darüber Gedanken, wie sie sich zu Inhalten und Methoden, Fragen und Wegen im Themenkomplex einer Ausbildungsstätte von Heil- und Waldorfpädagogik stellen.

    Fragen, als „Vorboten von Antworten (Maschke) stehen neben Beobachtungen und Überzeugungen, Möglichkeiten und Ideen. Tätige Menschen geben einen Einblick in ihr „inneres Atelier (das hier über einen Satz aus dem jeweiligen Beitrag repräsentiert wird):

    „Und wie können wir Kompetenzen für etwas entwickeln, was wir noch nicht kennen (Wollenhaupt)? „Kann man sich auf eine solche Aufgabe [als Klassenlehrer*in] überhaupt ‚gut genug‘ vorbereiten – und wenn ja, wie (Clemens/Maschke)? „Die gute Nachricht dabei ist: Dadurch, dass wir sie [die Systeme unserer Gesellschaft] in jedem Augenblick unseres Lebens mitgestalten, können wir sie auch ändern (Ha Vinh Tho). „Diese Kinder haben gelernt, dass Verschiedenheit etwas Gutes ist. Mit Glück werden sie ihr Leben entsprechend gestalten (Drechsler).

    „Wie und warum funktioniert Waldorfpädagogik? Lässt sich dieses Funktionieren von den als rätselhaft oder auch als Zumutung empfundenen Anschauungen Rudolf Steiners ablösen (Wagemann)? „Damit wird die Frage nach der Freiheit zu einer nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Geht man dieser Frage nach, so stößt man auf zwei Faktoren: Wahrnehmung und Denken (Schmelzer). „Anliegen dieses Beitrags ist es zu beschreiben, wie zum einen der Goetheanismus das Verständnis der konventionellen Physik vertiefen kann, aber auch umgekehrt Kenntnisse aus der Physik goetheanistische Gesichtspunkte beleuchten können (Kühl). „Wie Künstler*innen, so sind auch Pädagog*innen auf die notwendige Einbildungskraft als produktives Erkenntnis- und Darstellungsvermögen angewiesen (Bunge).

    „Als Diskriminierung kann auch die systematische De-Thematisierung von Erfahrungen und Wissen bestimmter Gruppen bezeichnet werden, wie sie in Bildungseinrichtungen und anderen gesellschaftlichen Organisationsformen häufig zu finden ist (Adam/Schmelzer). „Stellen wir uns eine Gesellschaft, ein soziales Gemeinwesen vor, in dem alle Bürgerinnen und Bürger – egal welchen Alters und welcher Herkunft, welchen Geschlechts und welchen Glaubens – in förderlichen (unterstützenden, ‚geschwisterlichen‘ = solidarischen) Beziehungen miteinander leben (Barth/Maschke).

    Aber, „wie gelingt es unser Zusammenleben so zu gestalten, dass jede*r erlebt, dass es auf ihn und sie ankommt – egal wie der soziale Status ist (Werner)? „Entwicklungstheorien versuchen, die Entwicklung des Kindes zu erklären. Wie ist es möglich, dass das Kind etwas Neues aus sich hervorbringt (Erdin)? „Daher ist es bei Lehrenden ein „Entwicklungswille [der zu entwickeln ist], der diesbezüglich ein Leitstern für den eigenen Habitus und das Rollenverständnis ist (Pannitschka).

    „Ich denke tiefgehender und gleichzeitig freier (Studierendenbefragung). „Also muss man sich um die junge Generation kümmern, nicht um zu indoktrinieren, sondern um den vollen Entfaltungswillen der nachwachsenden Generation zu fördern (Schnell).

    Am 26. und 27. Oktober 2018 feiern die Akademie für Waldorfpädagogik und das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule, dass seit 40 Jahren in Mannheim Waldorflehrer*innen und Heilpädagog*innen ausgebildet werden. Wir haben aus diesem Anlass Freund*innen und Kolleg*innen um Beiträge gebeten, die das inhaltliche Spektrum unserer Forschungs- und Lehrtätigkeit repräsentieren und im vorliegenden Band erscheinen – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

    Wir möchten an dieser Stelle all jenen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, von Herzen danken. Neben den Autor*innen gilt unser Dank Heike Fangrat, Ute Wieckhorst und Valerie Zoth: Sie haben dem Buch sein Aussehen und seine Gestalt verliehen. Ein besonderer Dank geht an Michael Schröder: Er gibt uns immer das Gefühl, frei arbeiten zu können, – und schafft durch seinen Einsatz die Bedingungen, die unsere Arbeit ermöglichen.

    Mannheim im Oktober 2018

    Ulrike Barth, Ariane Clemens, Thomas Maschke, Sophie Pannitschka

    Albert Schmelzer

    Lebendige Anthropologie als

    Grundlage der Waldorfpädagogik

    „Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichts sein. Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen" (Steiner, 1919/1961, S. 37).

    Diese Sätze, die Rudolf Steiner im Sommer 1919, wenige Wochen vor der Begründung der ersten Waldorfschule, geschrieben hat, deuten in programmatischer Schärfe auf eine „wahrhaftige Anthropologie als Quelle der Waldorfpädagogik hin. Was ist mit dieser Formulierung gemeint? Steiner hat sich, angefangen von seinen frühen philosophischen Werken bis hin zu den späten medizinischen Schriften und Vorträgen, während seines ganzen Lebens intensiv um eine Erkenntnis des Menschen bemüht; die von ihm entwickelte Anthroposophie möchte dem Menschen ein „Bewusstsein seines Menschentums (Steiner, 1923/1974, S. 76) geben. Die Entfaltung einer Anthropologie, genauer: einer anthroposophisch orientierten Anthropologie, steht somit im Zentrum von Steiners Werk. Damit stellt sich die Frage, wie sich eine solche Menschenkunde zur wissenschaftlichen Anthropologie verhält. Diese Frage ist bis heute für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs über die Waldorfpädagogik von erheblicher Bedeutung. Denn während die Praxis der Waldorfpädagogik im Allgemeinen anerkannt wird, stehen zahlreiche Erziehungswissenschaftler ihrer theoretischen Grundlage skeptisch gegenüber; sie sei als vorwissenschaftlich, mythisch, anachronistisch, kurz: als fragwürdige Ideologie zu betrachten (Prange, 1985; Ullrich, 2015; Skiera, 2010).

    In diesem Kontext wird wenig beachtet, dass Rudolf Steiner 1917 in seinem Buch „Von Seelenrätseln die nach normalen wissenschaftlichen Standards arbeitende Anthropologie und die Anthroposophie miteinander verglichen hat (S. 11-33). Dabei weist er darauf hin, dass die Anthropologie aufgrund ihrer Orientierung an der Naturwissenschaft auf der Grundlage empirisch erhobener Daten arbeite, während der anthroposophische Zugang innere, seelische Beobachtungen einbeziehe. Beide Erkenntniswege seien unverzichtbar, der eine könne den anderen nicht ersetzen. Doch seien sie widerspruchslos miteinander kompatibel und könnten sich in einer vermittelnden „Philosophie über den Menschen miteinander verständigen und wechselseitig anregen. Steiner selbst hat eine Fülle von Ansätzen für eine solche „Philosophie über den Menschen" entwickelt und dabei anatomische, physiologische, psychologische, philosophische und theologische Aspekte ineinander verwoben. Einige dieser Ansätze, die als theoretische Grundlage der Waldorfpädagogik angesehen werden können, seien im Folgenden vorgestellt; sie sind – wie jede andere pädagogische Anthropologie auch – den Beurteilungskriterien der modernen Erziehungswissenschaft zugänglich. Allerdings ist zu beachten, dass Steiner vielfach mit lebendigen, offenen, lebensweltlichen Begriffen arbeitet; er zieht das Charakterisieren dem Definieren vor und scheut sich auch nicht, künstlerische Ausdrucksmittel wie Metaphern und imaginative Bilder zu verwenden (Kiersch, 1990).

    1 Die Freiheitsfähigkeit des Menschen

    Als eine erste Facette der angedeuteten „Philosophie über den Menschen" ist zweifellos seine Freiheitsfähigkeit zu betrachten, sie wird in Steiners frühen Schriften Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (Steiner, 1886/2003) und Die Philosophie der Freiheit (Steiner, 1894/1995) begründet. Freiheit – so der Ausgangspunkt der Argumentation – bedeutet, die Gründe für das eigene Handeln durchschauen zu können. Damit wird die Frage nach der Freiheit zu einer nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Geht man dieser Frage nach, so stößt man auf zwei Faktoren: Wahrnehmung und Denken.

    Wir sind unentwegt mit einer Fülle von Sinneseindrücken konfrontiert, deren Zusammenhang wir denkend herzustellen haben. Dabei drängt die Wahrnehmung sich auf, das Denken haben wir aktiv hervorzubringen. Beobachten wir nun das Denken, so werden wir bemerken, dass die Begriffe, mit denen es geschieht, in gesetzmäßige Zusammenhänge hineinführen: Der Begriff der Ursache steht mit dem der Wirkung, der Begriff des Organismus mit denen eines gesetzmäßigen Wachstums und des Einklangs der Teile mit dem Ganzen in innerer Verbindung. Das Denken erweist sich als besondere Erfahrung in der Erfahrung: Während die Wahrnehmungswelt als ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten erscheint, finden wir im Denken den Zusammenhang, der uns über die Welt aufklären kann. Im Erkenntnisprozess fügen wir beide Elemente, Wahrnehmen und Denken, zusammen; in der Wissenschaft verbindet der Mensch die Sinnen- und Gedankenwelt zu einer ungetrennten Einheit.

    Damit ist deutlich: Die Wirklichkeit ist nicht einfach gegeben, sondern wird vom erkennenden Menschen tätig hervorgebracht. Das geschieht allerdings nicht in willkürlicher Weise; vielmehr hat der urteilende Mensch Einsicht in die Gründe, warum er in einem Wahrnehmungsurteil einen bestimmten Sinneseindruck mit einem Begriff verbindet, warum er in einem Begriffsurteil zwei Begriffe ineinander fließen lässt. Diese Erfahrung der Einsichtsfähigkeit ist die Quelle menschlicher Freiheit: Wir machen die seelische Beobachtung, dass wir als Erkennende nicht von außen gezwungen, sondern durch innere, nachvollziehbare Gründe bewegt werden.

    Das gilt auch für das menschliche Handeln. Frei werden wir in dem Maße, in dem es uns gelingt, die Motive und Antriebe unseres Tuns nicht von außen bestimmen zu lassen, sondern angesichts einer konkreten Situation durch moralische Intuition zu ergreifen:

    „Ich erkenne kein äußeres Prinzip meines Handelns an, weil ich in mir selbst den Grund des Handelns, die Liebe zur Handlung gefunden habe. Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist; ich vollziehe sie, weil ich sie liebe. Sie wird ‚gut’, wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnen steht; ‚böse’, wenn das nicht der Fall ist" (Steiner, 1894/1995, S. 162).

    Stellt man Steiners Freiheitsphilosophie in den Kontext der philosophischen Positionen, so mag deutlich geworden sein, dass er – ähnlich wie Kant und Fichte – den naiven Realismus überwindet und die Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess betont. Aber im Unterschied zu Kant und Fichte bleibt das Subjekt nicht in seinen eigenen Vorstellungen gefangen, ohne zum „Ding an sich durchzustoßen zu können. Vielmehr sieht Steiner im Anschluss an Goethe die Möglichkeit, das sich an eine sorgfältige Wahrnehmung anschließende Denken so zu schulen, dass in ihm die gleichen Kräfte und Gesetze wirken wie in der Natur. Diese Fähigkeit, die Goethe die „anschauende Urteilskraft nennt, schlägt die Brücke vom Subjekt zum Objekt und stellt seinen Weltbezug her.

    Im Jahre 1911 hat Steiner bei einem Vortrag auf einem philosophischen Kongress in Bologna diese Position noch schärfer umrissen. Er weist darauf hin, dass das Subjekt den gesetzmäßigen Zusammenhang der mathematischen Formeln innerhalb des eigenen Bewusstseins gewinnt. Dennoch ließen sich diese in reiner Innerlichkeit gewonnenen Gesetze in der äußeren Welt physikalisch anwenden. Das aber bedeute, dass das Ich geistig in den Weltgesetzen lebe und der Leib nur ein Spiegel sei, der „das außer dem Leibe liegende Weben des Ich" (Steiner, 1911/1965, S. 139) bewusst mache. Eine solche Sicht, zunächst hypothetisch als erkenntnistheoretisch denkbar genommen, würde die Subjekt-Objekt-Spaltung überwinden. Zwei Jahre später, in seinem Buch Rätsel der Philosophie, hat Rudolf Steiner diese Auffassung eines „peripheren Ich" weiter präzisiert: Es lebe nicht nur in den Gesetzen der Welt, sondern auch in den Sinneserscheinungen:

    „Wenn ich eine Farbe sehe, wenn ich einen Ton höre, so erlebe ich die Farbe, den Ton nicht als ein Ergebnis des Leibes, sondern ich bin als selbstbewusstes Ich mit der Farbe, mit dem Ton außerhalb des Leibes verbunden. Der Leib hat die Aufgabe, so zu wirken, dass man ihn mit einem Spiegel vergleichen kann" (Steiner, 1914/1968, S. 606).

    Erst in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist durch die Entdeckung des Systems der Spiegelneuronen im Gehirn eine solche Ansicht in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses getreten. Ausgangspunkt war die Entdeckung eines italienischen Forscher*innenteams um den Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma, dass bestimmte Neurone im Gehirn von Menschenaffen nicht nur dann „feuerten, wenn der Affe selbst nach einer Nuss griff, sondern auch schon dann, wenn ein*e Forscher*in nach der Nuss griff und der Affe diese Handlung nur beobachtete. In der Folge zeigte sich schnell, dass solche Neurone auch im menschlichen Gehirn vorhanden sind und dass sie nicht nur Handlungen, die sich in unserem Umkreis abspielen, sondern auch Gefühle spiegeln. In Deutschland wurden die Entdeckungen durch den Neurologen Joachim Bauer von der Universitätsklinik Freiburg in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: „Warum ich fühle, was du fühlst (Bauer, 2005) verbreitet.

    Auch die anthropologische Forschung, die dem phänomenologischen Ansatz des Brentano-Schülers Edmund Husserl folgt, nähert sich dem Ansatz eines sphärischen Ich an. In seinem im Jahr 2000 erschienenen grundlegenden Werk „Leib-Raum-Person" stellt der Mediziner und Philosoph Thomas Fuchs fest:

    „Gerade im leiblich-sinnlichen Erleben besteht ursprünglich keine Gegensätzlichkeit von Subjekt und Objekt, sondern ein partizipierendes Welt- und Naturverhältnis. […] Das seelische Erleben – unsere Empfindungen, Triebregungen, Gefühle, Wahrnehmungen etc. – ist als solches nicht irgendwo im Raum unseres Körpers lokalisierbar, auch nicht im Gehirn. Es ist überhaupt nicht nur etwas in uns. Seelisch sind wir bei den Dingen und Menschen, die wir wahrnehmen […]" (Fuchs, 2000, S. 20f.).

    In dem beginnenden Gespräch über ein „Umkreis-Ich liegt ein Beispiel vor, wie – ganz im Sinne von Steiners Differenzierung in „Von Seelenrätseln – „anthropologische und „anthroposophische Forschung einander befruchten können. Wir halten fest: In Kontinuität zu Steiners Frühschriften erscheint in Steiners pädagogischer Anthropologie das tätige, erkennende Ich als Zentrum des Menschen und Quelle seiner Freiheit.

    Für die Waldorfpädagogik ist der Ich-Begriff in seiner Spannung von Subjektorientierung und Weltteilhabe von fundamentaler Bedeutung. Denn zum einen wird schon das Kind als eigentätiges Subjekt gesehen, das die Anregungen der Erzieher*innen und Lehrer*innen individuell aufgreift und verarbeitet: „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes" (Steiner, 1923/1989, S. 131). Im Lernprozess wacht der junge Mensch sukzessive zu den eigenen Interessen auf, die sich idealerweise gegen Ende der Schulzeit zu individuellen Lebensmotiven verdichten. Zum anderen ist die Waldorfpädagogik so angelegt, dass sich dieser Prozess der Selbstfindung in einer intensiven Weltbegegnung vollzieht. Im Handarbeits-und Werkunterricht, im musikalischen Üben und plastischen Gestalten, in der Eurythmie und im Sport setzen sich die Heranwachsenden tätig mit den Materialien, Farben, Tönen und Formen der Welt sowie den Gesetzen der eigenen Leiblichkeit und des Raumes auseinander; in den gedanklichen Fächern ereignet sich Weltteilhabe durch innere Erfahrungen. So lässt sich die Waldorfpädagogik als eine Erziehung zur Freiheit in einem doppelten Sinn verstehen: als Anregung zur Selbstfindung und als Weg der Fähigkeitsbildung für das Handeln in der Welt.

    2 Die Lehre von den Wesensgliedern

    Eine weitere anthropologisch-anthroposophische Grundlage der Waldorfpädagogik ist Steiners Auffassung von der Gliederung des Menschen nach Leib, Seele und Geist sowie deren weitere Differenzierung in verschiedene Schichten – in der Sekundärliteratur zumeist „Wesensglieder" genannt –, wie sie in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts etwa von Max Scheler und Helmuth Plessner vertreten worden ist (Pleger, S. 145-160). Rudolf Steiner hat diese Anschauung systematisch in seinen Büchern Theosophie (Steiner, 1904/2013) und Die Geheimwissenschaft im Umriss (Steiner, 1910/2013) entwickelt.

    Unter Leib versteht Steiner die Körperlichkeit des Menschen, durch die er mit den Naturreichen verwandt ist; er ist dreifach gegliedert. Der physische Leib ist der mineralischen Welt verwandt; wie diese ist er von einer materiellen, Raum erfüllenden Stofflichkeit durchzogen. In die Lebensprozesse eingebunden ist der Mensch durch den Lebens- oder Ätherleib; er organisiert – wie bei den Pflanzen – Wachstum, Fortpflanzung und Formverwandlung und ist Träger der Rhythmen. Der Seelenleib oder Astralleib ermöglicht die Empfindungsfähigkeit des Leibes, der wie die Tiere über die Sinne Eindrücke der Außenwelt aufnehmen und – mit dem Nervensystem als leibliche Grundlage – innerlich verarbeiten kann.

    Der Begriff Seele verweist auf die psychische Innerlichkeit des Menschen; in ihr kann das Ich in unterschiedlicher Weise wirken. Die Empfindungsseele entsteht, indem die durch den Seelenleib vermittelten Sinneseindrücke empfindend durchlebt und qualifiziert werden, wie das etwa beim Anhören eines Konzerts oder beim Betrachten eines Bildes geschehen kann. Demgegenüber ist die Verstandes- oder Gemütsseele darauf ausgerichtet, die Eindrücke gedanklich zu verarbeiten. Dabei dient die Verstandesseele der zweckrationalen Einrichtung des Lebens, während die Gemütsseele flüchtige Emotionen zu dauerhaften Gefühlen vertiefen kann. Die Bewusstseinsseele schließlich ist die Schicht des Seelischen, in der das Ich sich selbst ergreift und seiner Autonomie bewusst wird.

    Die sich anschließenden geistigen Glieder des Menschen entstehen dadurch, dass das Ich durch Bildung und Selbstbildung die natürlich gegebenen Schichten umwandelt. Durch Bearbeitung von Lust und Unlust wachsen die Anteile des Geistselbst, durch die Verwandlung von Temperament und Charakter die des Lebensgeistes, durch die Auswirkungen des inneren Lebens auf die Stoffe und Kräfte des physischen Leibes der Geistesmensch.

    Damit ist - in aller Kürze - die von Steiner in seiner theosophischen Phase zwischen 1904 und 1910 konzipierte neungliedrige Auffassung vom Menschen skizziert, wobei das „Ich ganz im Sinne Fichtes als geistiger Kern und als Aktivitätszentrum verstanden, in das Seelische und Geistige hervorbringend und gestaltend hineinwirkt. Obwohl Steiner teilweise in der Theosophie übliche Termini verwendet und zu manchen indischen Traditionen Bezüge hergestellt werden können (Schmitt, 2015, S. 25--36), ist doch deutlich, dass das Konzept eine originäre Leistung Steiners darstellt; das mit „Ich oder „Bewusstseinsseele Gemeinte hat in der indischen Philosophie eine völlig andere Konnotation. Viel eher lassen sich Parallelen zu abendländischen Traditionen aufzeigen: Die natürlichen Wesensglieder finden sich – wenn auch mit anderen Bezeichnungen – schon bei Aristoteles (Pleger, 2013, S. 137-144), den Ich-Begriff hat Steiner in entscheidenden Aspekten im Alter von 18 Jahren in Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichtes „Wissenschaftslehre gefasst (Lindenberg, 1997, S. 82); zu der Gliederung der Seele in Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele hat er sich durch Immanuel Hermann Fichte, den Sohn des bekannten Philosophen, anregen lassen (Teichmann, 1990, S. 25-34). Der Geistbegriff wiederum ist in der aristotelischen Tradition vielfältig ausgestaltet worden – auf Scheler und Plessner wurde schon hingewiesen.

    Im Blick auf die pädagogische Relevanz dieser Anschauungen sei auf einen Aspekt aufmerksam gemacht: Der Begriff des Lebensleibes ist ein Schlüssel zum Verständnis des kindlichen Organismus und damit zu seiner Gesundheit. Steiner hat eindringlich betont, dass diese Dimension einer gesunden Entwicklung von der Pädagogik zu berücksichtigen ist; Ziel der Waldorfpädagogik sei es, „in der freiesten Weise das Physisch-Leibliche des Menschen zu entwickeln und dem Geistig-Seelischen gewissermaßen die Möglichkeit zu bieten, sich aus sich selbst heraus zu entfalten (Steiner 1922/1978, S. 215). Das Ideal sei, „den Menschen so in die Welt hineinzustellen, dass er seine individuelle Freiheit entfalten kann, dass er an der Entfaltung dieser individuellen Freiheit in seinem Leibe kein Hindernis hat (Steiner 1922/1978, S. 216). Aus diesem Anliegen ist die breite salutogenetische Ausrichtung der Waldorfpädagogik hervorgegangen. Sie umfasst Bereiche wie die ästhetische Gestaltung der Schularchitektur und der Klassenräume, die Vermeidung von Schulstress durch den Verzicht auf Prüfungen und Selektion in der Unter- und Mittelstufe, die Rhythmisierung des Tageslaufs durch den Wechsel zwischen kognitiven, künstlerischen und handwerklich-praktischen Fächern und gesundheitsfördernde Interventionen durch Rezitation und Singen sowie durch Sport und Eurythmie (Zdrazil, 2000, 2010; Marti, 2006).

    3 Die Dreigliederung des Menschen

    Der Begriff der physiologischen, psychologischen und pneumatologischen Dreigliederung des Menschen kann als Kernstück der Steiner‘schen Anthropologie betrachtet werden; er stellt nach Steiners eigener Aussage das Ergebnis eines 35 Jahre dauernden Forschungsprozesses dar und wurde von ihm erstmals 1917 im sechsten Anhang seines Buches

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