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Die Signora will allein sein: Roman
Die Signora will allein sein: Roman
Die Signora will allein sein: Roman
Ebook320 pages4 hours

Die Signora will allein sein: Roman

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About this ebook

Eine aussergewöhnliche Geschichte, die das Leben schrieb. Vor mehr als hundert Jahren. Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern haben nach dieser langen Zeit noch einmal das Wort. Ihre Überlegungen rund um die Themen Eigenmacht, Abhängigkeit, Freiheit oder Verbindlichkeit sind heute noch so aktuell wie damals. Es ist dies die Geschichte einer gescheiterten Emanzipation, wie sie beispielhafter kaum erfunden werden kann. Ein Buch, das berührt, gerade weil die beiden Erzählenden nicht der Fantasie entspringen. Lebensnah und authentisch zeichnet die Autorin die beiden Figuren. Diese gewähren Einblick in ihre Vorstellungen und Abgründe, und trotz der dieser Zeit angemessenen Sprache ist der Text gegenwartsnah und die Problematik zeitgemäss. Auch ohne den Stoff zu kennen – die Protagonisten werden nie namentlich genannt – ist der Inhalt nachvollziehbar. Der Roman bringt die Thematik der Selbstbestimmung lebendig und ergreifend auf den Punkt.
LanguageDeutsch
Release dateNov 2, 2018
ISBN9783907146101
Die Signora will allein sein: Roman

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    Die Signora will allein sein - Stef Stauffer

    befreien.

    Jetzt bin ich also angekommen, und die Begleiter sind gegangen.

    Ein wahrlich imposantes Haus und durchaus angemessen,

    inmitten eines grossen Parks, sehr ruhig auch gelegen.

    Zwar ist es nur ein Übergang, ich werde hier nicht bleiben.

    Doch besser ist es allemal, als im Hotel zu weilen.

    Es sei ein Kloster, sagte man, mit vorzüglicher Bewirtung.

    Es ist ein ansprechender Ort, um mir das Warten zu erleichtern.

    Ich fühle mich hier aufgehoben.

    Die angenehme Ambiance, die grosszügigen Zimmer –

    sogar mit Baderaum und Wanne – sowie der Villa traute Stille,

    die mich umgibt wie eine Decke. Dies stärkt meine Zuversicht.

    Fast ständig ist jemand zugegen, um meine Wünsche zu erfüllen.

    Einerseits zuvorkommend und andrerseits mit einer fast

    ehrfürchtigen Zurückhaltung werde ich rege umsorgt,

    was mir manchmal etwas viel ist. Denn allein sein möchte ich.

    Wenigstens zeitweilig. Doch immerzu ist jemand da,

    als könnte man mich nicht einmal für einen einzigen Moment

    aus den Augen lassen.

    Es fehlt mir nichts. Ich darf nicht klagen. Es wird wohl nicht lange dauern,

    bis Karl wieder bei mir ist. Man wird ihn aus der Haft entlassen,

    da es sich ja nur um einen dummen Irrtum handelt.

    Wir haben freilich nichts getan, was ungesetzlich wäre.

    Wir sind frei und in der Absicht, uns die Zukunft anzueignen.

    Daran kann uns niemand hindern. Unrecht ist es darum nicht,

    wie wir gehandelt haben.

    Ungewöhnlich und nicht üblich mag es zweifellos erscheinen,

    unser Bruch mit dem Gewohnten. Warum nicht einmal mutig sein

    und etwas tun, das wir uns schon so lange Zeit erträumten?

    Es liegt so vieles hinter uns, doch noch mehr steht uns bevor.

    Die Pläne haben wir gemacht. Sie wollen nun verwirklicht werden.

    Die Zeit dafür ist nun gekommen.

    Ich erwarte ihn mit Freude, meinen Wegbegleiter.

    Darum will ich schreiben.

    Um mich selber zu erklären.

    Vielleicht eher mir als allen, die um mich herum sind.

    Denn ich stehe mittendrin in ungewisser Gegenwart.

    Ich lasse die alltägliche Vergangenheit weit hinter mir.

    Doch fehlt mir jede Sicherheit zu wissen, was nun sein wird.

    Es formt sich ein Anbeginn von irgendetwas Neuem,

    doch ohne einen Blick darauf und ohne das Verständnis

    für das, was ich zurückgelassen – immer bleibt es ein Versuch –,

    ist das Bild von einem neuen Leben viel zu fern, um zu erkennen,

    wie es einmal sein wird, wie man es gestalten will.

    Kann ich hier von Wollen sprechen? Habe ich denn eine Wahl?

    Ist nicht vieles unausweichlich, und was wird erwartet?

    Wie viel wird mir vorgeschrieben? Wer ist es, der die Weichen stellt?

    Manche nennen es womöglich Schicksal, eine höhere Macht.

    Demnach soll man darauf vertrauen, dass es etwas Grosses ist,

    was Vorfälle, Begegnungen herbeiführt, und sie glauben,

    dass schon alles vorbestimmt ist und wir nichts zu lenken haben.

    Ich kann diese Sicht nicht teilen.

    Es fällt mir schwer, mich vorbehaltlos einzufügen, mich zu schicken,

    ohne selber zu bestimmen, wie es weitergehen soll.

    Ich stelle mich nicht gegen Gott.

    Soll es ihn ruhig geben, für alle, die sich daran halten

    und sich darauf stützen wollen. Mir ist des Menschen eigenes Wirken

    von grösserer Bedeutung.

    Jetzt mehr denn je.

    Selbst eine Frau soll Einfluss nehmen, wohin ihr Weg sie führen soll,

    hat sie doch ihren Willen. Und auch Wünsche, Vorstellungen,

    nach denen sie sich richten soll.

    Ich habe meine Träume und will sie auch verwirklichen.

    Das gebe ich nicht aus der Hand. Ich überlasse mich nicht länger

    dem Geschick des Himmels, an den ich gar nicht glauben kann.

    Der sogenannte Liebe Gott, falls ein solcher existiert,

    hätte wohl recht viel zu tun mit allen seinen Schäfchen.

    Wie könnte er das Treiben hier auf Erden überblicken?

    Das Gerangel um Macht, um Geld und den Kampf um den Frieden,

    dann das Ringen gegen Armut, gegen Krankheit und den Tod?

    Das kann nicht einem Einzigen allein wohl überlassen sein.

    Deshalb gibt es vielleicht Kirchen, Räte und Gerichte.

    Als Helfer und als Unterstützung beim Regeln der Gesellschaft,

    damit die Welt regierbar bleibt und nicht auseinanderfällt.

    Man nehme, so ist es geboten, die Bibel, ein Gesetzesbuch

    und lese nach, was richtig ist.

    Ich ziehe mein Gewissen vor als die Instanz, die mir den Weg weist,

    den für mich richtigen. Schliesslich geh ich diesen selber.

    Sogar in Gesellschaft.

    Und am Ende bin ich wieder ganz allein auf mich gestellt.

    Denn sterben muss ein jeder selber. Doch warum ans Sterben denken?

    Kommt man vielleicht so zum Anfang, indem man ans Ende denkt?

    Es ist längst noch nicht so weit. Ich lebe, und das ziemlich gern.

    Nur weiss ich nicht, auf welche Weise.

    Dass Emil sich nicht abgewendet hat, ist ihm hoch anzurechnen.

    Ich nehme mit Erleichterung zur Kenntnis, dass dem so ist.

    Und nicht ohne Verwunderung.

    Aber eben, er ist anders. Nicht vergleichbar mit den meisten.

    Er zeigt löbliches Verhalten unter widrigsten Umständen.

    Welcher Ehegatte wird – nach eigener Betrachtungsweise –

    betrogen, zeigt sich trotzdem noch besorgt, sogar fürsorglich?

    Schickt sogleich nach einem Arzt, der sich um der Gattin Wohl

    bemüht und ihm bestätigt, diese sei rundum gesund?

    Natürlich hat es mich gewundert, dass man mich untersuchen wollte,

    da mir doch nichts fehlte. Aber meinem Mann zuliebe

    liess ich es geschehen.

    Den Umzug in die Villa hier hielt man darauf für angebracht,

    aus dem Grunde, dies entspräche besser meinem Stand.

    Für eine Dame sei unziemlich, allein im Gasthaus zu verbleiben.

    Das einzusehen fiel mir leicht. Darum bin ich also hier.

    Und die Begleiter sind gegangen.

    Jetzt erwarte ich nur sehnlich alle meine Koffer.

    Dass sie in Kürze hier eintreffen, hat man mir versprochen.

    Zugesichert wurde mir auch eine eigene Zofe,

    die sich leichttut mit Obliegenheiten einer Dame.

    Die Mädchen hier, so scheint es mir, sind etwas unbeholfen.

    Ich brauche eine Angestellte, welche weiss, was sie zu tun hat,

    ohne dass ich ihr erst alles auseinandersetzen muss.

    Dann werde ich gerüstet sein und wieder in der Lage,

    Besuche zu empfangen und die Villa zu verlassen.

    Nichts beschämt mich mehr als dieses eine Reisekleid,

    das ich schon seit Tagen trage, da es mir an Garderobe

    und Toilette mangelt, um mich meiner angemessen

    fein zu präsentieren. Mir fehlt sogar ein Mantel.

    Wo er wohl geblieben ist?

    Ging ich ohne ihn auf Reisen? Habe ich ihn hängen lassen?

    Nein, ich bin es nicht gewohnt, auf so etwas zu achten.

    Denn gewöhnlich reise ich nicht ohne meine Zofe.

    Das Kleid hat man mir zwar gewaschen und in die Form gebügelt.

    Doch keine Möglichkeit zu haben, mich zum Essen oder Bummeln

    anders anzuziehen, ist mir recht unangenehm.

    Weil ich nicht im immergleichen Rock mich zeigen kann,

    lasse ich mein Essen lieber auf das Zimmer bringen.

    Ich gehe nicht in den Garten. Auch wenn ich im Süden bin

    und mich also niemand kennt, ziemt es sich nicht für eine Dame,

    ohne Mantel auszugehen. Ausserdem ist jetzt November.

    Daher manchmal etwas kühl. Ich muss auf die Gesundheit achten,

    sorgsam mit den Kräften sein.

    Es kommt noch so viel auf uns zu.

    Vorerst an diesem Ort zu sein hat wohl seine Richtigkeit.

    Hier kann ich zur Ruhe kommen, habe weiter nichts zu tun.

    Nichts, was zu erledigen ist oder zu entscheiden.

    Es wird wohl zwei, drei Wochen dauern, bis Karl wieder hier ist

    und wir zusammen weitergehen. Bis dahin werde ich mich ordnen.

    Regeln, was zu regeln ist.

    Die Scheidung kann vollzogen werden, das wird nach Emils Willen sein.

    Dass diese Angelegenheit sich nicht gross in die Länge zieht,

    liegt mir sehr am Herzen. Es soll ihn nicht belasten.

    Schliesslich kann er nichts dafür, mein Mann, der er noch immer ist.

    Das habe ich ihm aufgeschrieben. Und hinterlassen in Florenz.

    Das ganze schöne Protokoll, dazu die beigelegten Briefe.

    Sie lassen keine Fragen offen.

    Ich habe ihn nicht hintergangen. Nicht in meinem Sinne.

    Offen habe ich die Fakten alle auf den Tisch gelegt.

    Dass es um mich geht, nicht um ihn. Dass ich ihn nicht verletzen will.

    Auch Betrug soll es nicht sein. Denn so ehrlich, wie ich bin,

    schrieb ich alles auf. Er wird also lesen können, wie es um mich steht.

    Und verstehen. Und auch wissen, was genau zu tun ist.

    So liegt es nun in seiner Hand, die Dinge gut voranzutreiben.

    Auf ihn ist Verlass.

    Gewiss wird sich bald alles weisen, auch wenn ich hier in diesem Haus

    in meiner Einsamkeit nicht eben viel ausrichten kann.

    Nicht einmal reden kann ich hier. Ich wüsste nicht, mit wem.

    Darum habe ich nach Feder und Papier gefragt.

    Briefe will ich schreiben. Doch nicht nur das.

    Es gehen mir so viele Worte durch den Kopf. Denn noch mehr als eine Zofe

    fehlt mir eine Freundin. Ein offenes Ohr für alle diese

    Fragen und Gedanken, die in einem Geist sich formen,

    wenn sich Veränderung ergibt.

    Ich bin also unterwegs. Weiss nicht, wohin die Reise,

    die ich in Gedanken mache, mich am Ende führen wird.

    Die Räder drehen sich im Kopf. Es geht immer weiter,

    als fahre ich auf neuen Schienen in mir unbekanntes Land.

    Der Rhythmus trägt mich immer weiter, und die Worte folgen ihm.

    Es ist wie in der Eisenbahn. Man sitzt und kommt doch vorwärts.

    Nun schreibe ich in diese Hefte und finde so Gehör.

    Vielleicht werde ich verstanden, später, falls dies jemand liest.

    Das ist meine Hoffnung.

    Denn die Gedanken einer Frau sind anderen oft unergründlich.

    Wohl hauptsächlich aus dem Grund, dass nicht die Hälfte, was gedacht,

    auch jemals ausgesprochen wird. Das tut eine Dame nicht.

    Doch deswegen hört das Denken nicht auf einmal auf.

    Zum Nachdenken ist immer Zeit. Vielleicht oft sogar zu viel,

    denn der Geist ist unterfordert ohne Konversation.

    Viel zu selten hatte ich doch für Gespräche und Geschäfte

    in letzter Zeit Gelegenheit. Auch jetzt weiss ich nicht, was zu tun ist,

    ausser zu sinnieren und in Notizen festzuhalten,

    was als halbes Leben ich schon hinter mich gebracht

    und jetzt zurückgelassen habe.

    Es gibt so vieles, von dem niemand irgendetwas weiss.

    Denn darüber spricht man nicht. Eine Frau ist immer ganz allein auf ihrem Weg,

    wenn sie ihn nicht in der Art geht, wie man es sich wünscht.

    Denn gelenkt wird sie bekanntlich von dem Urteil und dem Anspruch,

    den die anderen an sie stellen. Nur bin ich nicht eine Frau,

    die sich fügen und Erwartungen genügen kann,

    ohne darauf achtzugeben, was ihr selber wichtig ist.

    Wie schnell erscheint man renitent, wenn man sich nur erklären möchte.

    Wer hat zum Beispiel je gefragt, warum gerade Emil mir

    der Liebste war von allen?

    Solches wage ich zu schreiben.

    Ohnehin, wo nichts mehr so ist, wie es einmal war.

    Mein Ehemann wird bald nicht mehr mit mir zusammen sein.

    Doch steht dies nicht mit meiner Wahl, die ich getroffen habe,

    in einem Zusammenhang. Man hat schon damals nicht verstanden,

    warum ich mich so entschied, war dafür und dagegen,

    dass ich mich vermählte. Alle hatten ihre Gründe.

    Ich hatte den meinen. Und das ist der einzige, den ich gelten lasse.

    In Emils Blick lag keine Gier, als wir uns erstmals trafen.

    Dies vom ersten Tage an.

    Das ist nun bald zehn Jahre her.

    Er meinte mich, wenn er mich ansah. Nicht den Vater, nicht das Geld.

    Wir sprachen über dies und das. Sehr zögerlich noch zu Beginn.

    Da sprach er wenig. Es schien fast, als fehlten ihm die Worte.

    Dann formten sie sich jedoch langsam zu wohlbedachten Sätzen.

    Niemals formulierte er, um mir zu imponieren.

    Er sagte, was er meinte, und dies immer in Bescheidenheit.

    Seine Unaufdringlichkeit, so denke ich noch heute,

    entsprang der inneren Schüchternheit. Oder dem Respekt?

    Für ihn war ich nie eine Frau als minderwertiges Geschöpf.

    Er sah in mir, da bin ich sicher, ein gleichgestelltes Gegenüber.

    Er wollte meine Meinung wissen, nahm sie immer ernst.

    Und dadurch mich.

    Und sein Interesse schien mir niemals unglaubhaft zu sein.

    Ich fühlte mich ihm ebenbürtig, überlegen vielleicht gar,

    wenn die Gedanken mir manchmal davonzulaufen drohten

    und ich mich richtig bremsen musste, um ihn nicht in Verlegenheit

    zu bringen, wenn ich plauderte und er nur immer stiller wurde.

    In seiner Nähe war mir wohl. Er gab mir seine Wertschätzung,

    in allem, was ich bin und nicht bin.

    Den Hof hat er mir nie gemacht

    und schickte keine Karten, Blumen

    oder gar Präsente, wie die anderen dies taten

    und sich fast überschlugen mit lächerlichen Bücklingen.

    Und sich um die Tänze rissen an den vielen Bällen,

    den Vater immerzu im Auge. Ihm wollten sie Eindruck machen.

    Nicht mir. Genau dies Imponieren hatte Emil niemals nötig.

    Und wohl dachte er vorerst nicht einmal an Hochzeit.

    Sein Handeln schien mir absichtslos. Ohne Hintergedanken.

    Er schätzte die Zusammentreffen, so, wie sie sich ergaben.

    Allmählich kamen wir uns näher. Aber niemals wie Verliebte.

    Es war nicht so, dass ich mich jemals wirklich nach ihm sehnte.

    Und wenn, dann mehr nach guter, ebenbürtiger Gesellschaft.

    Sein Erscheinen war mir lieb, auch seine Gegenwärtigkeit.

    Emil war ein schöner Mann.

    Ist es natürlich immer noch.

    Mit erlesenem Geschmack und immer tadellos gekleidet,

    den Umständen stets angepasst. Er wählt die Kleidung mit Bedacht,

    und früher hatte ich mich oft gefragt, wer ihn dabei beriet.

    Heute weiss ich, dass es gar nicht nötig ist. Denn meinen Rat

    hat er nur selten eingeholt. Es scheint, als sei ihm dies gegeben,

    der ungetrübte Blick fürs Schöne. Klug ist er dazu.

    Jedoch niemals aufgeblasen, wie man dies erwarten könnte

    bei einer solchen Herkunft. Eher schien sein grosser Vater

    ihn zu schmälern. Stand er doch in dessen Schatten und trug trotzdem

    dieses Leuchten in sich, dieses sanfte, unscheinbare,

    das man erst bemerkt, wenn man ihn gut kennt.

    Bescheidenheit kann man es nennen.

    Manch einer fand, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz fehlten ihm.

    So war es wohl auch bei Papa. Für mich aber war genau dies

    seine wahre Grösse. Nie war er Täuschung oder Schein.

    Ohne sich zu überschätzen, wusste er um sein Niveau.

    Er machte sich nichts vor und auch den anderen nicht.

    Das hatte er nicht nötig.

    Ihm haftete nichts Falsches an. Oder gar Berechnendes.

    Ehrlichkeit ist seine Art, daher kann ich ihn nicht betrügen.

    Wir waren immer aufrichtig einander gegenüber.

    Das will ich auch weiter sein. Ich schätze diesen Mann noch immer.

    Auch wenn wir in Bälde nun nicht mehr als Eheleute gelten.

    Als Freund will ich ihn nicht verlieren. Und er mich wohl nicht als Vertraute.

    Darf ich auf seine Güte zählen, nach allem, was geschehen ist?

    Die Tinte fliesst auf das Papier.

    Die Gedanken springen mir zum Fenster raus und in den Park.

    Wie grün er ist, jetzt im November.

    Die Zypressen stechen in den Himmel und die Pinien

    spannen ihre weiten Schirme aus, auch jetzt im Herbst noch,

    wo Schatten gar nicht nötig ist.

    Der Hauch des Fremden liegt vor mir, und doch scheint es so vertraut.

    Vielleicht, weil ich als Heimat wählte, was Mama immer lieb war?

    Ich bin in Rom, das wird mir erst allmählich recht bewusst.

    Die Tage sind so schnell vergangen, dass ich nicht wirklich ankam.

    Die Wochen in Florenz und kurz darauf die lange Reise,

    dann der Umzug. Alles nicht von langer Hand geplant,

    wie mir dies Gewohnheit ist. Und bald kommt der nächste Tag,

    das ist morgen auch nicht anders.

    Wie schnell mir doch die Zeit vergeht, indem sich Sätze fügen.

    Ich spüre mich zurück, gleichzeitig auch darüber nach,

    wo die Weiche umgestellt und mein Zug abgebogen ist

    und nicht mehr länger diesem Ziel, das am vorgesehenen Ende

    der Strecke liegt, entgegenfährt. Ich bin auf einem anderen Gleis.

    Auf einem unbekannten. Ich fahre nun irgendwo hin,

    an einen Ort, der mir zwar fremd ist, mich jedoch nicht ängstigt.

    Und ja, ich denke wie Papa.

    Das hat man mir schon oft gesagt. Ganz nach Eisenbahnmanier.

    Nur dass er, den ich verehre, immer klar gewusst hat,

    wohin es mit ihm gehen soll. Er hat die Weichen selbst gestellt.

    Meistens war es richtig.

    Und er hat mich stets gelehrt, allzeit zu hinterfragen.

    Seine Unerschrockenheit hat er mir hinterlassen.

    Wo ich auch immer stehen mag, er ist ein Teil von mir.

    So fühle ich mich nicht allein.

    Er war schon sehr früh erwacht und sogleich aufgestanden. Sie lag noch da und schlief tief und fest, hatte sich im Schlaf von ihm abgewandt, und nun betrachtete er im Spiegel des Waschtischs ihr Gesicht, in das sich über der Nase kleine, zornige Falten gegraben hatten. Ein Zeichen von Kummer? Oder war es eher die Entschlossenheit? Um den Mund hingegen lag ein kindliches Lächeln. Dies verlieh ihren Zügen eine entspannte Zufriedenheit, welche er bei ihr zuvor selten gesehen hatte. Trotz allem schien es ihr also gut zu gehen, das machte ihn fast fröhlich in diesen ersten Stunden eines weiteren gemeinsamen Tages. Und auch die Tatsache, dass sie schlafen konnte, endlich. Es war ein gutes Zeichen, dass sie sich jetzt entspannte, sogar in solch bewegter Zeit. Sie war bei ihm, und das schien sie friedlich zu stimmen, auch wenn die Umstände noch alles andere als geklärt waren.

    Karl hätte dieses Gesicht skizziert, mit sicherem, raschem Strich, wäre er nicht von der Notwendigkeit getrieben gewesen, die Dinge zu regeln, welche seine Zukünftige in Sorge versetzten. Denn sorglos war sie bei Weitem nicht. Und er auch nicht, wenn er ganz ehrlich war. Auch wenn er sich so gab, um sie nicht zu beunruhigen. Ausgestanden war noch nichts. Es stand noch einiges bevor, und dass sie keinen Rappen Geld mehr bei sich hatten, beunruhigte ihn am meisten.

    Hastig wusch er sich Gesicht und Achselhöhlen. Mehr Wasser wollte er nicht verschwenden. Der Krug war noch drei Viertel voll. Wenn sie sich schon die wenigen Utensilien, die hier auf dem Waschtisch lagen, vom Zimmermädchen hatte erbitten müssen, sollte es ihr bei der Toilette wenigstens nicht an Wasser fehlen. Er schlüpfte in Hemd und Hose und schnürte sich die Schuhe. Zumindest er hatte frische Kleider, welche er am Vortag aus dem Atelier geholt hatte. Heute würde er für sie noch einen Mantel organisieren. Ein neues Kleid musste warten. Dafür musste er erst einmal ein paar Lire auftreiben. Nur wusste er nicht wo.

    Die Tapferkeit der Frau an seiner Seite beeindruckte ihn tief. Kannte er sie doch als das verwöhnte Wesen, das manchmal dreimal am Tag das Kleid wechselte, nur weil es der Laune nicht mehr ganz entsprach. Jetzt hatte sie nur dieses eine, das sie für die Reise angezogen hatte. Die Koffer waren irgendwo. Auch die Haare musste sie sich selber machen, was man der einfachen Frisur ansah, wenn sie zum Frühstück erschien. Doch sie trug auch dies mit Fassung. Und benahm sich so wie immer, ganz die reiche Dame. Beklagte sich auch nicht darüber. Liess sich den Kaffee einschenken und verlangte nach warmer Milch, als wäre diese Herberge ein Hotel der ersten Klasse. Sie sah über die Flecken auf dem Tischtuch hinweg und über den Umstand, dass man ihr am Nachmittag den Tee nicht auf dem Zimmer servierte. Den brachte er ihr, so wie auch die Bücher aus dem Atelier, damit sie sich nicht langweilte, wenn er sie alleine lassen musste. Unternehmen konnte er nicht viel mit ihr. Seine Geschäfte riefen. Dennoch ging viel Zeit verloren, welche er für sie aufwandte. Er konnte sie nicht einfach sich selbst überlassen in dieser Stadt, welche ihr doch gänzlich fremd war.

    Es war ihm neu, für jemanden da zu sein. Noch nie hatte er Verantwortung übernommen für einen anderen Menschen. Er war es ihr jedoch schuldig. So lange, bis sie endlich alles hatten, was sie zum Leben brauchten. Und sie brauchten viel. Eine Frau wie sie vor allem. Sie kannte es nicht anders und hatte hohe Ansprüche.

    Da, wo sie herkam, trug man selbst im Bett noch seidene Gewänder und liess sich die feuchten Haare flechten für den Schlaf, wohl damit sie morgens dann in den rechten Wellen lagen, wenn ein Mädchen sie minutenlang kämmte und Strähne für Strähne richtete, so dass am Ende das entstand, was ein Mann niemals verstehen konnte. Die wilden, ungebändigten Mähnen seiner Modelle hatten ihm immer besser gefallen. Er fand Haar sehr anziehend. Doch nur, wenn es ihn zum Spiel einlud. Die Haartracht einer Dame jedoch galt es unberührt zu lassen. Und dies selbst beim Liebesspiel. War es das, was ihn bisher davon abgehalten hatte, sich mit einer wie ihr einzulassen? War er ihr gewachsen?

    Nun lag sie also da in grobem Leinen, auf dem Kopfkissen ein einziger Zopf, den sie selber zustande gebracht hatte. Das Nachthemd hatte er auftreiben können, um ihr Reisekleid über Nacht waschen zu lassen. Am Morgen danach hatte er es wieder abgeholt. Samt Unterwäsche und den Strümpfen. Sogar die Schuhe waren blank geputzt. So konnte sie sich wieder zeigen. Auch wenn sie sich schämte, wie er wusste, selbst wenn sie es nicht sehen liess. Doch tagelang in derselben Kleidung zu sein war sie nicht gewohnt. Sie tat es aber mit einem bitteren Lachen ab und meinte, man kenne sie ja nicht in Rom. Und bald kämen wieder andere Zeiten. Er war dankbar um ihre Zuversicht. Bei ihm wechselten die Gefühle stündlich. Ungeduld und Ärger, Besorgnis oder Euphorie, eine Empfindung löste die nächste ab, noch bevor er sich an einen Zustand so recht gewöhnen konnte. Sie dagegen schien ausgeglichen. Obwohl Gelassenheit nicht ihrem Naturell entsprach. Die Nervosität der letzten Tage hatte ihr schon zugesetzt, doch machte sie vielleicht der Umstand, dass sie jetzt entschieden hatte, mit wem ihr Leben weitergehen sollte, so ruhig und duldsam. Sie hatte ihr Schicksal vertrauensvoll in seine Hände gelegt, was ihn mit Stolz erfüllte. Und auch mit Angst. Konnte er denn für sie da sein, er, der immer nur für sich selber geschaut hatte? Ein Egoist war er, das hatte man ihm so oft vorgeworfen, dass

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