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Zürcher Machtspiele: Roman
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Zürcher Machtspiele: Roman

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About this ebook

Die Journalistin Martina Iten recherchiert für eine brisante Enthüllungsgeschichte. Sie will einem im Ausland verschwundenen Zürcher Anlagebetrüger nachspüren, der ein altes Ehepaar um 30 Millionen betrogen hat. Opfer sind die Erben des berühmten Limmer-Flans, die den Betrug aus Scham nie angezeigt haben, weil der Täter ein junger Familienfreund war. Dann wird Martina aus der Redaktion der "Wochenpresse" entlassen und erlebt den Spiessrutenlauf einer Arbeitslosen, die voll leistungsfähig ist und die doch niemand mehr will. Bald wird ihr klar, dass die Kündigung mit ihrer Story verknüpft sein muss. Zumal beim betrogenen alten Ehepaar eingebrochen und die Wohnung auf der Suche nach Unterlagen verwüstet wird.

Während Martina verzweifelt eine neue Stelle sucht, fragt sie sich, wer vor dem Publikmachen des Betrugs derart Angst haben könnte, dass er zu solchen Methoden greift. Der dubiose neue Investor ihres Verlags, der die Schweizerische Volkspartei mit einer politischen Bewegung rechts überholen will? Zusammen mit ihrem Wohnungsnachbarn Raoul, einem Anwalt, dem sie bald näherkommt, macht sich Martina in Italien und Griechenland auf die Jagd nach dem verschwundenen Anlagebetrüger.
LanguageDeutsch
Release dateNov 2, 2018
ISBN9783907146163
Zürcher Machtspiele: Roman

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    Zürcher Machtspiele - Monika Dettwiler

    10

    1

    Heute ist mein Traumtag, ich liefere einen echten Knüller, beruhigte sich Martina selbst. Alles kam vor, Promis, ein Anlagebetrüger und naive Opfer. Wenn sie lückenlos recherchierte, mit Fotos als Beweisen, gab das die Story des Jahres. Im Lift zur Redaktion im dritten Stock sah Martina im Spiegel zwei vor Erwartungslust leuchtende Augen und Fäuste mit roten Knöcheln. Wegen der Aufregung hatte sie ihre Finger fast zerdrückt. Ruhig bleiben, Martina, ermahnte sie sich. Sie konnte das, sie hatte es gelernt, als sie noch ihre eigene kleine Reiseagentur in Rom hatte. Als die Touristen über leere Mägen jammerten, weil das Ristorante Alberti zwei Gruppen für den gleichen Saal gebucht hatte und Holländer bereits dort sassen und über ihre Antipasti herfielen. Oder als ihre Gäste in der reservierten Bar vor geschlossenen Türen standen und sie auf dem Sockel des Mazzinidenkmals gegenüber dem Palatin den Apero im Freien improvisieren musste. Auch da waren ihre Nerven am Limit. Aber irgendwie war es ihr gelungen, Sonnenuntergang sei Dank, im malerischen Ambiente so viel Ruhe und Freude auszustrahlen, dass alles ein Bombenerfolg wurde.

    Martina öffnete die Fäuste und streichelte sich beruhigend über die Arme. Wenigstens äusserlich musste sie souverän wirken. Wie es innen aussah, brauchte niemand zu wissen. Aber dies war keine normale Redaktionskonferenz, fielen neue Stressgedanken über sie her. Die Sitzung war sogar wichtiger als das halbjährige Brainstorming auf der Suche nach Knüllerthemen. Es gehe um die Wurst, hatte ihr Max, der Chefredaktor, im Vertrauen gesagt. Wenn die «Wochenpresse» ab sofort nicht erstklassige Schlagzeilen liefere, sei ihre Zukunft ungewiss. Vielleicht werde das Blatt gar von einem der grossen Medienkonzerne geschluckt. Und wer wusste da, ob alle von der Redaktion den Sprung schaffen und wie viele auf der Strecke bleiben würden?

    «Ciao, Martina! Du hast wieder diesen Ich-habe-eine Story-am-Wickel-Blick, wie ein Welpe, der einen Knochen wittert.» Ihr kraushaariger Büropartner Thomas lächelte Martina liebevoll entgegen und verzehrte wie immer um Punkt halb acht sein mitgebrachtes Morgenbrötchen, während er aus Bergen von Unterlagen einen Editorial-Entwurf hervorfischte. «Wie viele Glanzideen hast du im Kopf?»

    «Keine Zeit, die Redaktionskonferenz ist schon um neun», wimmelte sie ihn ab und öffnete auf dem Bildschirm das Layout der ersten Seite. Sie musste ihren Artikel vom Vortag fertig feilen. Zehn Minuten, nachdem sie den Bericht zum Redigieren geschickt hatte, leuchtete am Bildschirmrand ein Estos von Möm auf, dem Vizechef der Onlineredaktion. Estos, das war in der Redaktion ein elektronischer Fresszettel, in den man via Computer Kurznachrichten an andere schickte.

    «Schon redigiert», schrieb Möm.

    Rasch öffnete Martina ihren Artikel im Layout, warf einen Blick darauf und gab zurück: «Hast beim Korrigieren einen Fehler produziert.»

    «Dein Konzept für den Veranstaltungskalender ist out.»

    «Ich falle nicht auf deinen Gegenangriff herein.»

    «Ich auch nicht, du Zuger Provinzlerin!»

    «Weiter zu diskutieren ist unter meiner Würde.»

    «Welcher Würde?»

    «Frauen haben per se jene Würde, die Kerle sich erst mühsam erarbeiten müssen. Gelingt aber nur selten.»

    Lachend klickte sie das Estos weg. Prompt leuchtete es erneut auf. «Du bist die fünfzehnjährigste Einundfünfzigjährige, die ich kenne. Und mit deinem Honighaar und den grünen Augen mit Abstand die hübscheste.» Martinas Schmunzeln entlockte Thomas einen Kommentar. Aber sie hörte nur mit halbem Ohr zu und schickte einige Mailanfragen für Interviews los. Dann stupste sie ihr Lieblingskollege an, es war fast neun.

    Im grossen Sitzungsraum herrschte ein Gedränge, weil alle da waren. Diesen internen Hype wollte sich niemand entgehen lassen. Unter dem Konferenztisch klopfte der Chef mit dem Fuss. Das verhiess nichts Gutes.

    «Wir sammeln heute Superknüller, mit anderem braucht ihr mir nicht zu kommen», begann Max Lander geradeheraus. Sein Varioluxblick schweifte über die Redaktion und blieb einen Moment an Martina hängen. Max war einige Jahre älter als sie, ein Endfünfziger mit beachtlicher Karriere. In letzter Zeit hatte sie gelegentlich ein Feierabendglas mit ihm getrunken, was zu Spekulationen im Sekretariat geführt hatte. Aber in Gedanken und überhaupt war er für sie immer der Chef, weil Max irgendwie nicht zu ihm passte. Max, so hiess ihr Vater.

    «Die Pendlerzeitungen stehlen uns Publikum, die Abonnentenzahlen sinken, und Onlineleser finden immer neue Schleichwege, um gratis zu bekommen, was wir teuer erarbeiten. Topideen von Korrespondenten und Freien können wir auch vergessen, für Primeurs erster Klasse werden unverschämte Honorare verlangt.» Max machte eine Pause und durchkämmte mit den Fingern sein braungrau meliertes Haar, auf das er so stolz war, dass er auch bei zwanzig Grad unter null nie eine Mütze trug.

    «Hinzu kommt der einbrechende Anzeigenmarkt, das wisst ihr längst. Inserenten wechseln in Massen zu jenen Medienkonzernen über, die auch Ticketcorner, Konzertoder Autoverkaufsagenturen betreiben und so auf alle Kundendaten in den Handys Zugriff haben. Uns bleibt nur die Qualität. Wir brauchen erstklassige hausgemachte Knüller, die Ideen dazu will ich jetzt auf dem Tisch! Und kommt mir nicht nur mit Zürcher Themen! Wir sind die Wochenzeitung für alle Deutschsprachigen in der Schweiz.»

    Martina wollte loslegen, sah aber aus dem Augenwinkel, dass die Neue aus dem People-Bereich gleichzeitig die Hand hob. Angelina, die Autoverrückte aus Volketswil. Lassen wir sie ins Messer laufen, freute Martina sich mit einem Anflug Häme, den sie hinterher gleich bereute. Andere Hände gingen hoch, doch nach einem Blick zum Leiter People gab der Chef Angelina das Wort.

    «Die Nachwirkungen des VW-Skandals», setzte die junge Redaktorin mit brüchiger Stimme an. «Da gibt es immer etwas zu bohren.»

    «Aber was?», fragte der Chef leicht irritiert. Die Diskussion ging los, und um nicht als Spielverderberin dazustehen, mischte Martina mit: «VW hat alles in Frage gestellt, was als gut deutsch galt. Sauberkeit, Ehrlichkeit, Fairness, Umweltbewusstsein. Das rechtfertigt tatsächlich ein spätes Nachhaken der speziellen Art. Woran hast du im Detail gedacht, Angelina?» Die Angesprochene stammelte, und andere fielen ihr ins Wort. Bald hörte Martina gar nicht mehr zu und wiederholte den Ansatz zu ihrer eigenen Story. Endlich, Max schaute in ihre Richtung. Aber schon hob Lüscher die Hand und legte los. Roger Lüscher, ihr härtester Konkurrent bei Enthüllungsgeschichten.

    «Ein Student, Politikwissenschaft und Kommunikation, politisch rechts, bietet sich an, für einen halben Tausender im Monat ein Jahr lang zu recherchieren, ob weitere Kantons- und eidgenössischen Räte Putzfrauen schwarz beschäftigen. Nicht nur hier in Zürich, sondern in der ganzen Deutschschweiz.»

    «Studiert er daneben?», fragte jemand.

    «Nein, das hat er hinter sich. Unser Knüller wird auch seine Bachelorarbeit.»

    «Und von diesen fünfhundert pro Monat will er ein Jahr leben?», warf Martina ein.

    «Nein, er arbeitet Teilzeit und bekommt von der politischen Rechten einen weiteren Zuschuss. Das Doppelte. Damit er linke Politiker speziell aufs Korn nimmt.»

    «Wie?», riefen mehrere gleichzeitig.

    «Gibt sich als Verhaltensforscher oder statistischer Umfrager aus, was weiss ich. Spielt doch keine Rolle, die Story wäre jedenfalls ein Knüller.»

    «Nicht ganz stubenrein, doch wir machen es. Aber höchstens für vierhundert», beschloss der Chef zu Martinas Verwunderung, denn weltanschauungsmässig stand er eher links. «Allerdings wird das bestenfalls ein Hammer der Zukunft. Ich will gute Themen jetzt, heute!»

    «Die Beschneidungsopfer in der Schweiz», meldete sich Colette, ohne richtig die Hand zu heben. Die Ethnologin trug einen feinen grünen Schal, in dem sich ihre rotgekrausten Haare verhedderten. «Ich habe flüstern gehört, dass eine Volksinitiative lanciert wird, damit alle Beschneiderinnen und die Familien der Opfer aus der Schweiz ausgewiesen werden können.»

    «Etwas mager», warf der notorisch skeptische Lüscher ein.

    «Alle Migrantenmädchen aus Afrika und dem mittleren Osten sollen schon als Fünfjährige im Kindergarten routinemässig auf Beschneidungsmerkmale untersucht werden», schickte Colette siegessicher hinterher.

    Max belohnte die Redaktorin mit einem Kopfnicken. «Stark, das machen wir.»

    Möm starrte wie immer auf sein Handy, man wusste nie, ob er überhaupt zuhörte. Plötzlich schaute er auf zum Chef: «Marisa aus Lugano mailt, die Sottoceneripartei habe wohl Bestechungsgelder angenommen.»

    Der Chef unterbrach aufgeregte Fragen und nickte Möm anerkennend zu. Martina gönnte es ihm. Möm hatte es privat und beruflich in den letzten Jahren nicht leicht gehabt. Trotz seiner zynischen Ader war er ein Familienmensch und liebte seine Kinder über alles. Ihretwegen hatte er den Widrigkeiten zum Trotz die Bodenhaftung nie verloren. «Sie soll am Ball bleiben und uns die Story liefern, wenn die Beweise wasserdicht sind», schloss Max das Thema ab.

    Martina wartete, weil andere sich mit leidlichen Themen vordrängten. Nur der ideenlose Jan sass da, als ob ihn alles nichts anginge. Jan Müller war eben mehr als Schleimer bekannt, der dem Chef Honig um den Bart strich und gelegentlich mit dem unbeliebten Verlagsanwalt etwas trinken ging.

    Die Tür ging auf und die Praktikantin aus dem Sekretariat brachte vier Körbe mit Gipfeln. Wie immer um fünf Uhr morgens in der Bäckerei verpackt und schon schlapp. Weshalb stellt sie den ersten Korb demonstrativ mir vor die Nase?, fragte sich Martina irritiert. Weil die reifste Frau am Tisch Vortritt hat? Klar, ich bin einundfünfzig und elf Monate, aber erst gestern hat mir der Basler vom Layout versichert, dass ich wie «funfedrissig» aussehe. Zu Martinas Beruhigung entging die Geste der Praktikantin den anderen. «Viertelstunde Pause», rief Max’ Vize, und das Rennen zu den Kaffeemaschinen begann.

    Dann, endlich, der Chef wischte sich den letzten Krümel vom Hemd und lächelte Martina zu, zeigte sogar mit der Hand auf sie.

    «Ein früher schwerreiches altes Zürcher Ehepaar hat Ergänzungsleistungen zur Altersversicherung beantragt, weil es ein Anleger um dreissig Millionen betrogen hat», platzte sie heraus.

    Alle riefen durcheinander, Max setzte sich lautstark durch. «Gibt es eine Anzeige?»

    «Nein, die beiden haben sich geschämt.»

    «Und die Sache ist nicht verjährt?»

    «Doch, glaube ich. Es ist vor sechzehn Jahren passiert.» Martina hatte zwar das Strafgesetzbuch gegoogelt, aber bis ins Detail kannte sie sich mit Gesetzestücken nicht aus.

    «Was soll das denn dann bringen?»

    «Eine Anzeige ist wohl nicht mehr möglich, aber was spielt das für eine Rolle? Betrug bleibt Betrug, und wer einen aufdeckt, muss damit an die Öffentlichkeit. Ich kann alles schwarz auf weiss beweisen, mit den Bankunterlagen.»

    «Ich weiss nicht … es ist so lange her.», zögerte Max, während das Gemurmel rundherum lauter wurde.

    «Der Betrüger hat sich damals abgesetzt und lebt bestimmt in Saus und Braus irgendwo im Ausland.» Als Max immer noch zögerte, musste Martina die Bombe platzen lassen. «Die Opfer sind Promis der feinen alten Zürcher Gesellschaft, Alfred und Emma Limmer, die Nachkommen des Limmer-Gemüseflan-Erfinders. Und der Sohn von Alfred Limmers bestem Freund ist der Gauner. Wenn das kein Bombenthema ist», rief sie angemessen entrüstet in die Runde.

    «So gesehen wäre die Story tatsächlich gut, aber unser Anwalt muss erst abklären, ob wir da einen Prozess riskieren. Schreib ihm zwei Zeilen, Martina! Sonst noch Vorschläge?» Max liess den Blick über die Redaktion schweifen. «Niemand? Das war insgesamt mehr als mager. Am nächsten Montag um neun sitzen wir wieder hier. Ihr kennt jetzt den Ernst der Situation und bemüht euch bitte um erstklassige Themen.»

    Im Büro mit Thomas liess Martina die Morgensitzung keine Ruhe. «Glaubst du, dass der Anwalt meine Idee ablehnt?»

    «Nein, weshalb sollte er? Jeder hier weiss, dass deine Geschichten die spannendsten sind. Für ein solches Thema ist unsere Zeitung bestimmt bereit, das Recht auszureizen oder noch mehr. Max sagt doch, Auflagesteigerung sei jetzt das Wichtigste.»

    Danke, Thomas, atmete Martina innerlich auf. Du bist und bleibst mein bester Freund. Wahrscheinlich wäre sie längst verliebt in ihn, wenn sie nicht zwölf Jahre älter wäre. Obwohl sie immer mehr Paare kannte, bei denen die Frau älter war als ihr Partner, waren viel jüngere Männer für sie tabu. Genau genommen beunruhigte sie sogar ein Gleichaltriger. Das hatten ihre Eltern auf dem Kerbholz. Am Familientisch waren Ehefrauen, die von ihrem Mann für eine Jüngere sitzen gelassen wurden, Dauerthema gewesen.

    «Aber du solltest diplomatischer sein, Martina!», fuhr Thomas jetzt in seelsorgerlichem Ton fort. «Angelina vor allen zu blamieren bringt doch nichts.»

    «Soll das eine Standpauke sein?»

    «Narrenfreiheit in Ehren, aber ich glaube …»

    Zum Glück läutete das Telefon. Martina hatte nämlich keine Lust auf gutgemeinte Rügen, auch wenn Thomas noch so vernünftig argumentierte. Am Draht war die Medienfrau der Nationalbank, die ihr das gegengelesene heisse Interview mit ihrem Chef für den nächsten Nachmittag versprach. Thomas schaute sie durch die Brillengläser prüfend an, aber sie wollte keine Moralpredigt riskieren und hämmerte auf ihre Tastatur ein, als würden sich ihre Finger noch an eine ferne Schreibmaschinenzeit erinnern.

    Draussen regnete es in Strömen. An der Statue im Rosenpärklein vor Martinas Fenster hingen bunte Fetzen herunter. Der Künstler hatte sie nackt geschaffen, eher als Rubenstyp, aber manchmal streiften ihr Nachtschwärmer Kleider über, und dann wirkte das Bronzemädchen gertenschlank. Der Kirchturm schräg gegenüber schlug dreimal. Martina musste sich sputen, wenn sie die Kolumne vor Feierabend beenden wollte. Aber sie fühlte sich immer noch aufgedreht. So etwas wie die Geschichte mit dem Limmer-Erben hatte sie noch nie an der Angel gehabt. Und dieses eigenartige Gefühl von Wichtigkeit mit einem Schuss Tragik. Als ob nicht ihre Story und die sorgenfreien letzten Jahre der Betrugsopfer, sondern ihr eigenes Leben auf dem Spiel stünde.

    Martina schüttelte die Gedanken ab und stürzte sich in ihren Text. Trotz aller Redaktionsbemühungen, junge Leserinnen und Leser zu erreichen, durfte sie ihre Kolumne über die Generation 55 Plus weiterführen. Kein Wunder, bei der Fülle von positiven Leserbriefen. Max war da gerecht. Wenn eine Reihe boomte, liess er sie nicht neuer Ideen wegen fallen. Vor allem, wenn der Erfolg einer Kolumne auch zu anderen Artikeln führte. In den letzten Monaten hatte Martina mit mehr älteren Damen vom Zürichberg und von der Goldküste Kaffee getrunken, als man einer Journalistin aus der Zentralschweiz zugetraut hätte. Sogar Homestorys bei verschwiegenen millionenschweren Geschäftsfrauen oder Konzernwitwen hatten ihr die Kolumnen eingebracht.

    «Woran denkst du?»

    «Ich schreibe.»

    Thomas lachte: «Frauen wie du sind multi task, du schreibst zwar, denkst aber auch etwas anderes.» Er musste es ja wissen. Die Frau, mit der er sechs Jahre verheiratet und noch länger verlobt gewesen war, besang er ständig als eine, die alles gleichzeitig tun konnte.

    Martina deutete auf die Fenster, an denen das Wasser hinunterlief wie an einer Duschkabinenwand. «Wenn ich jetzt hinausgehe und vom Blitz getroffen werde, bin ich für die Medizin daran gestorben. Von all den Krankheiten, die auch zu meinem Tod geführt hätten, weiss dann niemand. Da sieht man, wie der Zufall die Statistiken verfälscht.»

    «Hypochonder!» Thomas änderte das Thema. «Schon wieder! Alle meine Mails sind verschwunden.»

    «Du musst nur das Programm zurückholen», riet Martina und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

    «Würdest du vielleicht …»

    Nach der kleinen PC-Aktion kam Martina zügig voran. Wenn man vom ersten Gegenlesen von Thomas’ hochintellektuellem Editorial und einem Zwischenspiel mit Möm absah, der Rat für den Umgang mit seiner neuen quirligen Assistentin brauchte. Dauernd streckte jemand den Kopf herein und wollte etwas, weil ihre Bürotür immer offenstand. Vor allem Möm, der selbst das Schild «Bin am Denken» an seine geschlossene Bürotür hängte, wenn er am Schreiben war. Gut, dass ich gern helfe, dachte Martina. Genauer gesagt half sie so gern, dass sie nie nein sagen konnte. Bei einem Tropfen Weissem hatte Thomas einmal angetönt, sie wolle von allen geliebt werden. Aber wer wollte das nicht? Abgesehen davon machte es ihr nichts aus, wenn sie unterbrochen wurde. Nach jedem Zwischenfall las sie einen Text nochmals durch, und fast immer schauten dabei Verbesserungen heraus.

    Kurz vor Feierabend klingelte wieder das Telefon. Es war Raffael, ihr Sohn, der in seiner Bachelorarbeit zum Thema «Gastronomiemarketing in der Stadt Zürich» steckte. Zu ihrem Glück! Das bedeutete nämlich, dass sein Uniabschluss winkte und ein guter Tausender aus Martinas Lohntüte bald wieder ihr gehörte. Sie wusste genau, weshalb er anrief. Die vier Monate, die man ihm für die Arbeit zugestand, waren fast vorbei.

    «Hast du den Text jetzt redigiert, Mamma? Du weisst doch …»

    «Ja, komm heute Abend vorbei!»

    «Kannst du mir nicht einfach die korrigierte Version mailen, ich bin zeitlich am Limit. Der Assistent muss auch nochmals dahinter.»

    «Versteh mich jetzt richtig, Raffael.

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