Joseph Pilates: Die Biografie
By Eva Rincke
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Lebensgeschichte des Selfmade-Mannes, dessen Methode heute beliebter denn je ist.
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Book preview
Joseph Pilates - Eva Rincke
Eva Rincke
JOSEPH PILATES
Die Biografie
Titel der Originalausgabe: Joseph Pilates
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Judith Queins
Umschlagmotiv: © Getty Images
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-81408-2
ISBN (Buch) 978-3-451-60042-5
INHALT
Vorwort
DER UNDERDOG
Kindheit und Jugend in ärmlichen Verhältnissen
(1883–1901)
DER BRAUER
Schlecht bezahlte Arbeit und zu wenig Zeit für die Körperkultur
(1902–1914)
DER HÄFTLING
Im Internierungslager auf der Isle of Man
(1914–1919)
DER BOXER
Eine eigene Boxschule und das „Körperübungsgerät"
(1919–1925)
DER AUSWANDERER
Neustart mit Clara
(1926–1929)
DER KÖRPERKENNER
„Uncle Joe" kriegt jede Verletzung wieder hin
(1929–1941)
DER DRILL SERGEANT
Joseph Pilates in Jacob’s Pillow
(1941–1953)
DER ENTTÄUSCHTE
Joseph Pilates scheitert an seinen hochgesteckten Zielen
(1955–1967)
PILATES WELTWEIT
Jahrzehnte nach seinem Tod erfüllt sich der Lebenstraum von Joseph Pilates
(1967–2001)
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Personenregister
Abbildungsverzeichnis
VORWORT
Das weiße Ampelmännchen leuchtete auf. Inmitten einer Menschenmenge überquerte ich die 55. Straße auf der Eighth Avenue in New York. Noch ein paar Schritte, dann hatte ich mein Ziel erreicht: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das Haus, in dem Joseph Pilates 40 Jahre lang gelebt und gearbeitet hat. Allein dieser Anblick war die Reise über den Ozean wert. Das sechsstöckige Haus überragte die Nachbarhäuser um einige Stockwerke. Es hatte eine hellbraune Fassade und hohe, breite Fenster, die ich von historischen Fotos und Filmen aus dem Pilates-Studio kannte. Vor den Fenstern, die zur Straße hin zeigten, waren die typischen New Yorker Feuertreppen angebracht: schmale Metallbalkone, die von jedem Apartment aus zugänglich sind und über wackelige Leitern bis auf die Straße führen. Joseph Pilates’ Studio hatte sich im ersten Stock des Gebäudes befunden, mit Fenstern direkt zur Straße. Ich ließ meinen Blick zu den umliegenden Häusern schweifen. Eine Suppenbar, ein Bauernmarkt, ein Vitamin-Laden: die Bewohner des angesagten Stadtteils Hell’s Kitchen achteten offenbar auf ihre Gesundheit. Mitten in Manhattan auf einem Bürgersteig stehen zu bleiben, ist gar nicht mal so einfach. Schöne Menschen, die es äußerst eilig hatten, wichen mir ärgerlich aus. Es war großartig, hier zu sein!
Die Idee, eine Biografie über Joseph Pilates zu schreiben, kam mir nach einem Pilates-Mattenkurs, den ich nach der Geburt meines Sohnes besuchte, um meinen Körper wieder in Form zu bringen. Vor der Stunde hatte unsere Trainerin ein wenig von dem Menschen erzählt, der sich all die Verrenkungen ausgedacht hatte, die wir im Verlauf jeder Stunde mehr schlecht als recht nachmachten. So erfuhr ich, dass die Methode von Joseph Pilates stammte, einem Mann, der im späten 19. Jahrhundert in Mönchengladbach zur Welt gekommen war. Zu Hause versuchte ich im Internet mehr über ihn herauszufinden und mit jeder Geschichte, die ich dort las, wurde ich neugieriger: Er sei griechischer Abstammung gewesen und im Ruhrgebiet aufgewachsen, er habe die Methode als Krankenpfleger in einem Kriegsgefangenenlager in England entwickelt, habe für den Zirkus und als Boxer gearbeitet, als Trainer von Max Schmeling sei er schließlich in die USA ausgewandert und dort berühmt geworden. Die Geschichten stammten aus Interviews, die Joseph Pilates gegen Ende seines Lebens in den USA gegeben hatte. Er war also ein berühmter Mann geworden. Ich war fasziniert: Ein Turner, der Bier braute. Ein Boxer, der den Beckenboden trainierte. Ein Schulschwänzer, der Schiller und Schopenhauer zitierte. Und ein zigarrerauchender Frischluftfanatiker. Kurz: Er war ein Mensch mit vielen Rätseln. Zu gern hätte ich eine Biografie über diesen Mann gelesen, aber da ich keine fand, beschloss ich, sie eben selbst zu schreiben.
Ich fing an zu recherchieren. Gleich bei meiner ersten Station im Stadtarchiv Mönchengladbach fand ich viel Material zu Joseph Pilates, das der Archivar zusammengetragen hatte. Mir wurde klar, dass vieles von dem, was ich im Internet gelesen hatte, nicht stimmte. Pilates hatte ein Netz aus Legenden um sich herum gesponnen, die den Blick auf seine Person vernebeln. So stammte die Familie Pilates nicht aus Griechenland, sondern lässt sich über mehrere Generationen hinweg in der Gegend von Mönchengladbach nachweisen. Die Familie war arm, in Joseph Pilates’ Jugend war alles knapp: Geld, Essen, Licht und vor allem der Platz. Die drei jüngsten Geschwister starben noch im Kleinkindalter, kurz darauf verlor Joseph seine Mutter. Als er später eine eigene Familie gründete, wiederholte sich dieses Schicksal auf grausame Weise. Sein kleiner Sohn starb im Alter von zehn Monaten, vier Jahre später starb seine Frau. Darüber hat Pilates in Amerika nie gesprochen. Auch die Geschichte vom Kriegsgefangenenlager war nicht ganz zutreffend. Joseph Pilates wurde zwar in England interniert, aber nicht als Kriegsgefangener, sondern als Zivilist, als sogenannter feindlicher Ausländer. Meinen Recherchen zufolge hat er sich im Internierungslager auf der Isle of Man in erster Linie mit Boxen beschäftigt, daneben aber tatsächlich auch mit Kranken gearbeitet und erste Geräte entwickelt. Zurück in Deutschland gründete er eine Boxschule, heiratete wieder und stieg bei Profikämpfen in den Ring. Max Schmeling hat er nicht trainiert. Doch er hat den amerikanischen Boxjournalisten Nat Fleischer auf Schmeling aufmerksam gemacht, und Fleischer holte erst Joseph Pilates und später auch Max Schmeling in die USA.
Ich versuchte mehr über Pilates’ Tätigkeit in den USA herauszufinden. 1926 hatte er sich von seiner zweiten Frau Elfriede getrennt und war nach New York ausgewandert. Auf dem Schiff lernte er Clara Zeuner kennen, gemeinsam eröffneten sie 1927 ein Studio in New York. Dort trainierten Hollywoodstars wie Katharine Hepburn, Musiker wie George Gershwin und vor allem jede Menge Tänzerinnen. Joseph Pilates hatte den Ruf, Verletzungen schnell heilen zu können. Die vielen Stars unter seinen Klienten zogen Journalisten an und in seinen späten Jahren wurde er häufig interviewt. Sein Geburtsjahr gab Joseph Pilates gegenüber Journalisten stets mit 1880 an, obwohl er am 9. Dezember 1883 geboren wurde. Der Mann machte sich also älter als er war. Denn Joe Pilates betrachtete sich selbst als bestes Aushängeschild seiner Trainingsmethode, er wollte den verjüngenden Effekt der Methode betonen – und nutzte dazu drei zusätzliche Jahre. Er war schlau, unkonventionell und hatte ein Talent sich zu verkaufen. Dass er beim morgendlichen Jogging nur eine Badehose trug, würde heute kaum mehr auffallen. Damals aber erregte dieser vermeintliche Exhibitionismus große Aufmerksamkeit. Joseph Pilates war ehrgeizig, beinahe krankhaft ehrgeizig, immer unzufrieden mit dem Erreichten.
Die Glastür der Nummer 939 Eighth Avenue fiel hinter mir ins Schloss, nun wurde mir doch ein bisschen mulmig zumute. Als ich die Stufen der schmalen Holztreppe in den ersten Stock hinaufstieg, wo sich heute wieder ein Pilates-Studio befindet, das ich besuchen wollte, kamen mir Fotos in den Sinn, die ich im Onlinearchiv des Life Magazine gefunden hatte. Bilder von einer Fotosession mit der Opernsängerin Roberta Peters, die im Pilates-Studio trainierte, darunter auch ein Bild dieses dunklen Treppenaufgangs, wo sie in einem historischen Kostüm im Schatten neben Heizungsrohren posierte.
Roberta Kirschenbaums Studio hatte nichts mit dem unheimlichen Treppenhaus gemein und erinnerte auch keineswegs an die „Folterkammer, die so vielen von Joseph Pilates’ Klienten in den Sinn kam, als sie sein Studio zum ersten Mal betraten. Der große, hohe Raum mit gelben Wänden wirkte auf mich ungemein einladend. Hier gab es jedes Pilates-Gerät, von dem ich je gelesen hatte, und dazu eine Ansammlung von großen und kleinen Gymnastik-Bällen, Tüchern und Bändern der verschiedensten Formen und Farben. Aus Lautsprechern tönte klassische Musik und ich spürte, wie sich meine Muskeln nach der anstrengenden Reise lockerten und entspannten. Roberta Kirschenbaum begrüßte mich freundlich. Sie führte mich in ihre Pilates-Atmung ein, während ich sie zu ihrer Lehrerin Carola Trier befragte, der ersten Pilates-Schülerin, die ein eigenes Studio aufgemacht hatte. Und wie war sie selbst dazu gekommen, an diesem historischen Ort ein Pilates-Studio einzurichten? Es sei, so Roberta Kirschenbaum, einer dieser Zufälle gewesen, die wie Schicksal daherkämen: sie habe im Vorbeigehen stets einen respektvollen Blick auf das Gebäude geworfen, von dem sie wusste, dass Joe Pilates hier früher unterrichtet hatte, und als sie eines Tages das Schild „Zu Vermieten
sah, sei ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihr Studio von ihrer Wohnung hierher zu verlegen. Sie nannte es „Rolates": Eine Mischung aus ihrem eigenen Namen und dem des Erfinders der Methode.
Zwei Tage später fand ich mich in dem beschaulichen College-Städtchen Northampton, Massachusetts, wieder. Dort wollte ich Mary Bowen treffen, die in den 1960er-Jahren bei Joseph Pilates trainiert hatte. Ich ging um das weiß gestrichene Holzhaus herum, durch den Hinterhof, genau wie sie es mir in einer Mail erklärt hatte, und klopfte an die Terrassentür. Mit freudigem Gebell empfingen mich ihre zwei kleinen Hündinnen und hinter ihnen erschien lachend Mary Bowen selbst. Zwei volle Tage lang erstaunte mich Mary Bowens Energie. Es war weniger so, dass ich sie befragte – vielmehr erzählte sie mir einfach in einem nicht versiegenden Wortschwall von Joe und Clara Pilates, von ihren Erinnerungen an das Studio in der Eighth Avenue und all den Menschen, die sie dort getroffen und mit denen sie später trainiert hatte: Bob Seed, Romana Kryzanowska, Kathy Grant, Bruce King. Ich hörte zu, streichelte eine ihrer vier Katzen, die es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht hatte, und versuchte hin und wieder, eine Frage dazwischenzuschieben. Aber als ich in einer ruhigen Minute meine Frageliste überflog, wurde mir klar, dass sie mir über all die Aspekte, die mich interessierten, bereits ausführlich erzählt hatte.
Mary Bowens Sicht auf Pilates brachte eine Ahnung auf den Punkt, die mich während meiner Recherchen immer wieder beschlichen hatte: Die Person Joseph Pilates war identisch mit seinem Körper. Pilates kannte seinen Körper sehr gut, sein tiefgehendes Verständnis für den menschlichen Körper rührte schlichtweg daher, dass er sich in seinem eigenen Körper so zu Hause fühlte. Er konnte anderen helfen, ihren Körper besser zu beherrschen und kennenzulernen. Er interessierte sich für nichts als den Körper. „Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so sehr auf eine Sache fokussiert war wie Joe", sagte Mary Bowen.
Langsam wurde mir bewusst, weshalb ich unbedingt eine Biografie über diesen Mann schreiben wollte. Ein Mensch, der sich bedingungslos auf eine Sache konzentrierte, während ich selbst immer mindestens drei Projekte auf einmal betrieb und 50 andere Ideen im Hinterkopf hatte, die ich unbedingt umsetzen wollte – ein solcher Mensch übte eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus. Während ich meinen Körper ein Leben lang wie ein klappriges Auto behandelt hatte, dem man keine Aufmerksamkeit schenkt, solange es läuft, war Pilates jemand, der den Körper in den Mittelpunkt stellte. Ein Unterschied in der Persönlichkeit, der mich genug faszinierte, um diese Biografie zu schreiben. Ein Unterschied, der Pilates schrecklich ungeduldig gemacht hätte, wenn er das Pech gehabt hätte, mit mir als Klientin in seinem Studio arbeiten zu müssen. Mein Pilates-Lehrer, bei dem ich damals Einzelstunden nahm, um die Pilates-Geräte kennenzulernen, verfügte glücklicherweise über eine Engelsgeduld. Eine Eigenschaft, die Joseph Pilates völlig abging, wie ich aus den Erinnerungen ehemaliger Schüler wusste. Wenn mein Lehrer mir sagte, ich solle die Wirbelsäule strecken und wachsen, und ich stattdessen mein Kinn verkrampfte und die Schultern hochzog, lächelte er und versuchte es noch einmal. Joseph Pilates hatte in solchen Situationen häufig den Raum verlassen.
Seit ich selbst intensiver Pilates praktizierte und merkte, dass mein Körper tatsächlich stärker und straffer wurde, interessierte ich mich zunehmend für die Entstehung der Methode: Wo lagen die Wurzeln und Einflüsse, die Joseph Pilates’ Übungsmethode prägten? Er konnte das doch nicht alles selbst herausgefunden haben! Ich tauchte in das Thema Körperkultur um 1900 ein und entdeckte heute fast vergessene Stars wie den ersten Bodybuilder Eugen Sandow und die amerikanische Ärztin Bess Mensendieck, deren Übungen ihre Spuren bei Joseph Pilates hinterlassen hatten. Während ich das Material über Pilates und seine Methode zusammentrug, war mein zweites Kind zur Welt gekommen. Ich beobachtete meine Tochter dabei, wie sie den ganzen Tag hart trainierte. Sie rollte sich auf den Bauch, ruderte mit Armen und Beinen, drückte mit ihren kleinen Armen Kopf und Oberkörper für ein paar Sekunden in die Höhe, dann ruderte sie wieder, dann kam wieder der Oberkörper nach oben und so weiter. Ihre Hartnäckigkeit beeindruckte mich und ich sah, wie sie von Tag zu Tag stärker wurde. Mir fiel auf, dass Joseph Pilates in seinen Büchern Your Health und Return to Life Through Contrology auf diese kindliche Bewegungsentwicklung Bezug nahm, und ich erkannte, wie andere vor mir, dass die Pilates-Übungen die Stufen der Bewegungsentwicklung nachahmen. So wie das Kind zielgerichtet seine Muskeln aufbaut, um sich schließlich fortzubewegen, müssen wir Erwachsenen unsere Muskeln erneut stärken, weil wir sie im Alltag viel zu wenig und einseitig nutzen.
Wenn ich die Lebensgeschichte von Joseph Pilates erzähle, kann ich das nur aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel tun. Es war sein Leben, aber es ist meine Erzählung, es sind meine Fragen, die ich an dieses Leben stelle. Ich werde nicht nur über Joseph Pilates schreiben, sondern auch über all die faszinierenden Frauen, die ihn umgaben und häufig überstrahlten. Ich werde über einen Mann schreiben, der eine große Gabe, aber auch dunkle und unsympathische Seiten hatte. In der Summe war er einfach ein Mensch – ein echter, lebendiger, vor Kraft strotzender, fehlbarer Mensch. Seine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden.
DER UNDERDOG
Kindheit und Jugend in ärmlichen Verhältnissen
(1883–1901)
„Den Kniesturz übend und manch andre Tugend,
Verging ihm eine turnerische Jugend"
Joachim Ringelnatz, „Zum Aufstellen der Geräte (Ein Muster)"¹
Im Stadtarchiv Mönchengladbach liegt der Abzug eines alten Fotos, das eine Gruppe Turner vor dem Gladbacher Rathaus zeigt. Die Männer im Vordergrund halten Geräte: Hanteln, lange Holzstäbe für den Stabhochsprung; die Männer im Hintergrund sitzen auf Turngeräten, zwei auf dem Barren und zwei auf dem Pferd. Sie halten sich aufrecht, blicken stolz und zufrieden in die Kamera. In der Mitte der Gruppe steht ein durchtrainierter Mann mittleren Alters, der einen Schnurrbart trägt und sich auf einer großen Eisenstange mit runden Gewichten auf beiden Seiten aufstützt. Es ist Friedrich Pilates, Josephs Vater.²
Das Foto hat auf kuriose Weise den Weg ins Gladbacher Stadtarchiv gefunden: Ein amerikanisches Ehepaar entdeckte es in den achtziger Jahren bei einem Hausflohmarkt in St. Louis. Das Ehepaar trug selbst den Namen Gladbach und hatte das Rathaus erkannt, weil es die Stadt während einer Europareise besucht hatte. Sie schickten ihren Fund dem Gladbacher Bürgermeister, der ihn ans Stadtarchiv weitergab. Als dann die Pilates-Welle nach Deutschland rollte und bekannt wurde, dass der Erfinder der Methode aus Mönchengladbach stammte, wurde das Foto mit einem Mal für Pilates-Enthusiasten aus der ganzen Welt interessant, die sich auf der Suche nach der Herkunft ihres Idols auf den Weg nach Mönchengladbach machten.³
S. 151. Josephs Vater Friedrich Pilates (fünfter von links) mit einer Gruppe von Turnern vor dem Gladbacher Rathaus. Vermutlich 1897, handschriftlicher Vermerk falsch.
Als Joseph Pilates am 9. Dezember 1883 geboren wurde, war Gladbach eine kleine Industriestadt am westlichen Rand des Königreichs Preußen, kurz vor der belgischen Grenze.⁴ Die Baumwollspinnereien und Textilfabriken, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts um den mittelalterlichen Stadtkern und die Abtei herum angesiedelt hatten, bescherten der Stadt den Beinamen „Rheinisches Manchester". Die Textilindustrie schrieb schwarze Zahlen, immer mehr Zulieferbetriebe entstanden und ließen die Region wirtschaftlich aufblühen. In Fabriken für Textilmaschinen und in kleineren Werkstätten, die mechanische Webstühle und Spinnmaschinen für die großen Fabriken warteten und reparierten, fanden Handwerksgesellen wie Friedrich Pilates Arbeit. Sie und ihre Familien profitierten aber nur bedingt vom rasanten Wirtschaftswachstum der Region. Arbeitsschichten von zehn bis zwölf Stunden waren die Regel und die geringe Bezahlung machte es den Männern nicht leicht, eine große Familie zu ernähren.
Joseph war das zweite Kind von Friedrich und Helena Pilates. In den folgenden Jahren wuchs die Familie stetig weiter: Helena Pilates brachte neun Kinder zur Welt.⁵ Josephs Eltern waren in der Gladbacher Region verwurzelt. Der Stammbaum der Familie Pilates lässt sich über mehrere Jahrhunderte im Gladbacher Raum zurückverfolgen. Der Nachname leitet sich vom Namen eines Gehöfts ab, dem Plates-Gut. Im 16. Jahrhundert übernahm der Besitzer den Namen seines Gutes. Daraus bildeten sich wiederum verschiedene Nachnamen: Pilatus, Platis, Pylatus, Plate, Plattus und eben Pilates. Viele Nachkommen der Pilates-Linie lebten in Gladbach und den umliegenden Städten und Gemeinden.⁶
Die Wohnung in der Waldhausener Straße 20, wo Joseph zur Welt gekommen war, verließ die Familie Pilates schon ein Jahr später. Auf diesen Umzug folgten viele weitere. Dabei musste sich die wachsende Familie mit wenig Platz zufrieden geben. Neben einem oder zwei Schlafräumen, gab es nur ein weiteres Zimmer, den Wohnraum, in dem gekocht, gegessen und gewaschen wurde. Fast jährlich zogen die Pilates innerhalb des Stadtgebiets von Gladbach um, nur einmal wohnten sie kurzzeitig ein wenig außerhalb im Bezirk Gladbach-Land.⁷
Mietwohnungen, die zu günstigen Preisen vermietet wurden, waren oft muffig oder feucht und ließen sich wegen zu kleiner Fenster schlecht lüften. Tageslicht kam kaum hinein, leicht bildete sich Schimmel. Besonders erschwinglich waren neugebaute Wohnungen, deren Wände und Böden noch nicht vollständig getrocknet waren – arme Familien konnten diese Wohnungen „trockenwohnen". Sobald die Feuchtigkeit verdunstet und der Zustand der Wohnung akzeptabel war, wurde die Miete erhöht und zahlungskräftigere Mieter zogen ein. Dies war wegen drohender Gesundheitsschäden zwar offiziell verboten, aber trotzdem gängige Praxis. Immer wieder wurden Wohnungen von Ungeziefer befallen: Am Schlimmsten waren die Wanzen, die sich in Bettkästen, hinter Tapeten und in Wandritzen einnisteten. Wasserklosetts gab es nicht. Die Notdurft musste man auf dem Abtritt verrichten, der sich im Haus oder im Hof befand und von allen Hausbewohnern genutzt wurde.
Josephs Mutter Helena, geborene Hahn, war Fabrikarbeiterin gewesen, bevor sie den Schlossergesellen Friedrich Pilates heiratete. Wie die anderen, meist unverheirateten Frauen, die in der Gladbacher Textilindustrie arbeiteten, verdiente sie wesentlich weniger als ihre männlichen Kollegen. Nach der Heirat wurde erwartet, dass sie die Arbeit aufgab, um ihrem Ehemann den Haushalt zu führen, doch auch das Leben als Hausfrau war mit schwerer Arbeit verbunden. Wenn Helena Pilates Kleidung und Laken wusch, nahm das zwei Tage in Anspruch. Zunächst musste sie die Wäsche in verschiedenen Zubern mit Ölseife, kalten und heißen Seifenlaugen reinigen, kochen, dann erneut in die Lauge legen, schließlich bleichen, spülen und stärken. Am nächsten Tag folgte das Mangeln und Bügeln. Sie kochte auf einem Ofen im Wohnzimmer, wo auch das Wasser zum Waschen und zum Baden erwärmt wurde. Gebadet wurde ebenfalls im Wohnzimmer und höchstens einmal in der Woche, in einem Zuber, alle Kinder nacheinander im selben Wasser.
In diesen Verhältnissen war es nicht leicht, kleine Kinder gesund durch das erste Lebensjahr zu bringen. Um die Jahrhundertwende erlebte in Preußen beinahe jedes fünfte Kind seinen ersten Geburtstag nicht. Krankheiten wie Diphterie, Scharlach und verschiedene Darminfekte endeten bei kleinen Kindern oft tödlich. Viele Impfstoffe befanden sich erst in der Entwicklung, andere wurden in Preußen noch nicht flächendeckend eingesetzt. Erst 60 Jahre nach Joseph Pilates’ Geburt setzte sich mit dem Penicillin ein Antibiotikum durch, das bakterielle Infektionskrankheiten heilen konnte. Er und seine ältere Schwester Maria überlebten das kritische erste Jahr. Die Mutter brachte weitere Kinder zur Welt: Helena, Friedrich, Aloysia, Elisabeth, Gertrud, Wilhelm und Anton.
Im Alter von sechs Jahren kam Joseph Pilates in die Schule. In Preußen herrschte die allgemeine Schulpflicht: Alle Kinder, auch die aus armen Familien, mussten acht Jahre lang die Volksschule besuchen. Noch wenige Jahrzehnte zuvor war es in der aufstrebenden Industriestadt Gladbach normal gewesen, dass Kinder in Fabriken oder an heimischen Webstühlen bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiteten. Seit den 1870er-Jahren setzten die Behörden jedoch die Schulpflicht für alle Kinder durch und machten damit der Kinderarbeit ein Ende.
Joseph Pilates fühlte sich in der Schule nicht besonders wohl. Die mit den häufigen Umzügen verbundenen Schulwechsel verhinderten, dass er sich in einer Klasse heimisch fühlte und ein gutes Verhältnis zu seinen Schulkameraden aufbaute. Anstatt auf dem Schulhof mit den anderen Kindern zu spielen, saß er häufig am Rand und sah zu. Die Spiele seiner Altersgenossen begeisterten ihn nicht. Meistens rannten sie einfach nur wild hin und her, jagten einander oder warfen sich einen selbstgemachten Ball aus Lumpen oder Altpapier zu. Joseph beobachtete sie genau. Seine Mitschüler trugen wie er Kleidung aus billigen Stoffen, die an vielen Stellen geflickt war. Sie hatten schmutzige Gesichter und Rotznasen, waren dünn wie Bohnenstangen und ihre Schuhe waren häufig einige Nummern zu groß oder zu klein. Trotzdem bewegten sie sich sehr geschickt. Ihre Schritte waren leicht und flink. Manchmal hielt ein Kind mitten im Spiel inne und streckte sich oder sprang grundlos in die Luft. Joseph Pilates fiel auf, dass ihr Atem schneller und tiefer wurde, wenn sie sich anstrengten, aber niemals unregelmäßig. Anders als viele Erwachsene – und vor allem die Lehrer – behandelten sie ihren Körper nicht wie einen lästigen, unbekannten Gegenstand. Die anderen Kinder erinnerten ihn an Tiere, allerdings waren ihm Tiere lieber.
Wenn seine Schulkameraden nicht rannten, sprangen oder einander in den Dreck warfen, waren sie meist damit beschäftigt, sich gegenseitig zu necken, zu triezen und zu verspotten. Spottlieder, freche Reime, jeder gegen jeden. Gerne sang man über die strengen Lehrer, denen im Lied viel Unglück geschah. Die Kinder griffen auf einen reichen Schatz an Überliefertem zurück, sie schnappten Reime von ihren älteren Geschwistern auf und reimten selbst. Sie verteilten Spitznamen, machten sich über krumme Nasen lustig, über dicke Bäuche und Sommersprossen. Auch der verschlossene Joseph war eine beliebte Zielscheibe.
„Pontius Pilatus, Mörder von Christus", riefen sie ihm auf dem Nachhauseweg hinterher. Das ärgerte ihn maßlos. Er beschleunigte seinen Schritt und versuchte in engen Seitengassen zu verschwinden. Oft rannte er los, wenn die Glocke zum Schulschluss klingelte, um seinen Verfolgern keine Chance zu geben. Einmal, als er sie nicht abschütteln konnte, wurde er so wütend, dass er sich allein mit einer ganzen Gruppe von Spöttern anlegte und zuschlug. Eine unausgeglichene Rauferei.⁸
Wenn es ihm zu viel wurde, ging Joseph in den Wald statt in die Schule. Er war froh, den Gestank von Müll und Exkrementen, von Pferdeäpfeln, Bleiche und verdorbenem Essen hinter sich zu lassen, der über der Stadt hing. Die rumpelnden Räder der Fuhrwerke, die lauten Rufe der Erwachsenen und das summende Kindergeschrei, das von den Schulhöfen dröhnte, all das konnte er verstummen lassen, wenn er seinen Schritt aus der Stadt hinaus in den Hardter Wald lenkte. Er mochte die Geräusche des Waldes, das Knarzen der Äste und das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz; er mochte den Geruch, der mal moosig, mal süßlich war oder leicht vergoren, wenn im Herbst wilde Früchte auf dem Boden liegen blieben. Am meisten jedoch liebte er es, im Wald die Tiere zu beobachten. Wann immer er ein Tier erspähte, verfolgte er dessen Bewegungen wie gebannt. Er hatte seinen eigenen Hochsitz entdeckt, bei dem das Holz schon moderte, zwei Sprossen auf der Leiter fehlten und in dessen Plattform ein Loch klaffte. Hierher kam er immer wieder und wartete auf Rehe. Auch wenn kein Reh auftauchte, langweilte er sich nicht. Er erspähte Eichhörnchen, Hasen, Füchse und Vögel: Eichelhäher, Ringeltauben, Amseln und Meisen, Spechte, Elstern. Er hielt nach den Tieren Ausschau und beobachtete sie ganz versunken, stundenlang. Wie leise und elegant die Tiere sich fortbewegten! Keine überflüssige Bewegung, keine Steifheit war in ihrem Gang. Die Spannung des ganzen Körpers, wenn ein Eichhörnchen zum Sprung ansetzte, wie weit es springen konnte, wie exakt es sein Ziel erreichte. Er bewunderte ihre Lässigkeit, wie sie sich räkelten und streckten, wie sehr sie eins waren mit ihrem Körper.⁹
Eine vergleichbare Freude empfand Joseph Pilates sonst nur beim Turnen. Als begeisterter Turner nahm ihn sein Vater früh mit in den Turnverein. Friedrich Pilates war Mitglied des Gladbacher Turnvereins „Eintracht und dort einige Jahre lang als Zeugwart für die Wartung der Turngeräte zuständig. Es gelang ihm, beide Söhne, Joseph und den sechs Jahre jüngeren Friedrich, für das Turnen zu begeistern. Turnen war damals der Oberbegriff für eine Reihe von Disziplinen wie Bodenturnen und Geräteturnen. Es gehörten auch sogenannte Freiübungen dazu: „im Stehen, Gehen, Hüpfen, Springen, Laufen und Drehen
, sowie Übungen „im Hängen, Klettern, Armstemmen und Armziehen […] im Seillaufen und -springen, am Springgraben, am Kreisschwingel oder Rundlauf, im Marschiren, das Wett-, Dauer-, und Schlangenlaufen, das Ringen und verschiedene Spiele".¹⁰ Joseph war vom Turnen begeistert. Wenn sein Vater ihm neue Übungen auf der Matte, am Barren oder am Pferd zeigte, übte er so lange, bis er sie fehlerfrei nachturnen konnte. Oft begleitete er seinen Vater zum Training der Erwachsenen. Der schmächtige