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3 Bestseller: Roman
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Ebook1,147 pages16 hours

3 Bestseller: Roman

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About this ebook

Uschi Gärtner, Hans Herbert Rosa und Johannes John jr. sind drei Top-Werbetexter, die zur Krönung ihrer Karriere einen eigenen Roman veröffentlichen wollen. Und natürlich soll es ein Bestseller werden. Dazu verabreden sie sich zu einem Schreibwettstreit mit völlig unterschiedlichen Themen: Töten mit Worten, Coming of Age im Weindorf, Kampf der Dummheit. Ein Vierter im Bunde erfindet sogar eine neue Religion. Das Erleben und die Fantasie der Hauptdarsteller bringen ebenso skurrile wie unterhaltsame aber auch kritische Selbsterkenntnisse auf die Romanseiten. 3 BESTSELLER ist zu lesen als Sittenmosaik der Werbeszene zu einer Zeit, als sie in Deutschland am heißesten war, als Erfahrungsbericht, wie man mit dem Älterwerden im Beruf unnormal umgeht oder einfach als Sammlung unterhaltsamer Geschichten, wie sie das Leben von überhaupt nicht alltäglichen Menschen schreibt.
LanguageDeutsch
Release dateNov 29, 2018
ISBN9783748188117
3 Bestseller: Roman
Author

Ralf Geisler

Ralf Geisler war in den 1970er und 80er Jahren Werbetexter in international führenden Werbeagenturen und arbeitete für große Marken von Herstellern und Dienstleistern, aber auch für staatliche Institutionen und NGOs. Doch hat er in all den Jahren seiner erfolgreichen Berufstätigkeit immer die Nähe zum Schreiben als Kunst und Literatur gesucht. Nun legt er mit 3 BESTSELLER seinen ersten Roman vor.

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    3 Bestseller - Ralf Geisler

    Ungelungenlied

    1

    Vor dem Ehemaligentreffen Die Einladung

    Liebe Ehemalige, lieber Ehemaliger,

    Jahre sind vergangen, seit wir in derselben Werbeagentur gearbeitet haben. Ein Teil von uns gemeinsam, andere davor oder danach. Jedenfalls verbindet uns alle, dass wir einen Teil unseres Berufslebens aber auch Lebens einer gemeinsamen Sache gewidmet haben – der Werbeagentur W.H.Y. Was davon geblieben ist, sind Erinnerungen, die wir gemeinsam auffrischen sollten. Deshalb lade ich Sie (euch) ein zum ersten

    W.H.Y-Ehemaligentreffen

    Wo?

    FancyBar, Stilton Hotel

    Wann?

    13. November, 19.30 Uhr

    Warum?

    Weil wir neugierig auf ein Wiedersehen sind!

    Beigefügt ist eine Antwortkarte, mit der Sie (du) zu- oder absagen können (kannst) – bitte spätestens bis zum...

    ... und so geht der Einladungstext dann weiter bis zur abschließenden Aufforderungen, doch wirklich bitteschön der Einladung zu folgen und hinzugehen.

    Vorbreitende Vorbereitungen

    Die Idee zum Ehemaligentreffen hatte Sabine Segieth, zu W.H.Y-Zeiten die Sekretärin von Dr. Manfred. B. Osthain, mit dem sie länger etwas hatte, auch nach W.H.Y noch. Doch ist sie heute ganz ordentlich verheiratet, zwei erwachsene Kinder, könnte schon Oma sein, wie das so ist.

    Dr. Manfred B. Osthain, damals Finanzchef, wird manchen der Eingeladenen bestimmt noch als „der einarmige Kassenwart" in guter Erinnerung sein, der alles konnte, nur nicht das Geld mit beiden Händen ausgeben, weil er nur einen Arm hatte. Der andere, für ihn als Rechtshänder zum Glück nur linke Arm, war ihm bei einem Unfall mit dem Motorrad abhandengekommen. Auch die sich seit fünf Jahren im Ruhestand befindende Führungskraft fand die Idee eines Ehemaligentreffens durchaus interessant und genehmigte sie seiner Ex-Karriereabschnittspartnerin in der ihr überlegenen Manier, die sie von ihm immer noch erwartete.

    Also machte sich Sabine Segieth ans Recherchieren von Namen, Telefonnummern und Anschriften sowie von E-Mail-Adressen soweit vorhanden, wodurch sie schnell ein Schneeballsystem auslöste, das wie eine Lawine über sie herfiel. Da sie alle von ihr Angesprochenen aufforderte, den Verbleib oder die Kontaktdaten zu weiteren Ehemaligen anzugeben, kamen leicht hundert und mehr Adressen zusammen. Und wer zahlt mir die Porto- und Telefonkosten?, fragte sie sich in Momenten, die eher von Frustration über den Arbeitsaufwand als von Vorfreude auf ein Wiedersehen mit alten W.H.Ylern geprägt waren. Andererseits fragte sie sich aber auch nach der Kontaktaufnahme mit ihrem Dr. Osthain, was sie damals dazu bewegt hatte, mit ihm ins Bett zu gehen. Einarmig befummelt worden zu sein, kam ihr aus aktueller Sicht wenig erotisch vor. Genau genommen war schon die Umarmung bei der gegenseitigen Begrüßung im Vorfeld eines Rendezvous nur eine halbe Sache. Und zum in ihren besten Zeiten durchaus oft vollzogenen Akt selbst erinnerte sie sich daran, dass sie am Ende immer auf Osthain aufritt, weil dieser nur noch wenig zum Missionar taugte, es dabei regelmäßig zu Balance- oder Konditionsproblemen der Armmuskulatur kam und er ihr in der Vorbereitungsphase auf ihren Orgasmus einfach zu schwer wurde. Mit dem Hundestil konnte sie sowieso nie warm werden, obwohl dieser von ihrem Partner auch ohne den linken Arm zu bewerkstelligen gewesen wäre. Deshalb sagte sie lieber gleich: Lass mich rauf, Doktor!, was er auch widerspruchslos zuließ, nicht selten dankbar dafür, dass er durch das Umarrangement ihrer Körper eine wachsende Neigung zur Ejakulation retardieren konnte.

    Während sie ihre eigenen Erinnerungen an W.H.Y-Zeiten mehr oder weniger detailliert zuließ, wohl wissend, dass sie für einen Austausch mit den anderen Ehemaligen (außer mit Osthain vielleicht: weißt du noch?) nicht taugen würden, erfasste sie die ihr bekannt gewordenen Kontaktdaten am PC mit Hilfe vom Markführer für Textverarbeitungssoftware. Das so entstandene Dokument konnte sie dann ohne großen Aufwand weiterverarbeiten zu einer Adressliste für alle, zu Adressaufklebern und nicht zuletzt auch zu einem Verzeichnis der E-Mail-Adressen zwecks automatisiertem Versand ihrer wiedervereinenden Botschaften. Dabei empfand sie ihren PC samt Drucker und Internetanschluss als Segen. Wenn sie solche Möglichkeiten schon damals im Vorzimmer ihres einarmigen Liebhabers gehabt hätte! Da wären sie ein noch unschlagbareres Team gewesen – sie noch schneller und nützlicher, er noch erfolgreicher und mächtiger. Ja, Macht macht sexy, ging ihr nachträglich durch den Kopf, auch mit nur einem Arm.

    Sabine Segieth, lassen wir das erheiratete und zudem irreführende Nord besser weg, da Süd für sie inhaltlich deutlich zutreffender wäre. Ihrem Mann, Herrn Nord, den sie nach ihrer W.H.Y-Zeit eheüberlappend mit Osthain aus liebgewordener Gewohnheit heraus noch für eine Weile betrogen hatte, fehlten übrigens keinerlei Gliedmaßen. Dass ihm mit der Zeit weitgehend die Kopfhaare abhandengekommen waren, störte sie nicht weiter, zumal sie es während fortschreitender Ehe verstanden hatte, diesem Südlichen in ihr, dem leicht zu Erhitzenden, über den Beitrag ihres Mannes hinaus gerecht werden zu können. Dabei kam ihr die nebenberufliche Tätigkeit als Avon-Beraterin zu Hilfe, ganz besonders, als das Sortiment um Kosmetika für Männer erweitert worden war. Aber das nur am Rande.

    Sabine Segieths Telefonat mit Johannes John jr.

    Das Telefon gab seinen Klingelton von sich – in diesem Fall das Intro vom Leiermann aus Schuberts Winterreise, das er sich von einem befreundeten Tonstudio hatte programmieren und aufspielen lassen. Johannes John jr., in seinen jungen Jahren verkrachter Volontär der Lokalredaktion einer örtlichen Tageszeitung und dann bei W.H.Y als Textassistent gelandet, war nun nicht unbedingt das, was man einen Musikkenner nennen könnte, schon gar nicht in Sachen „E-Musik". Aber diese kurze Reihe aus von am Klavier zart angeschlagenen Tönen klang ihm so wie das Vorspiel zu seiner nächsten depressiven Verstimmung, deren Vorgängerinnen er sich so gerne hingegeben hatte. Bei W.H.Y brachte er es vom Assistenten recht schnell zum ordentlichen Texter, dann zum Senior Copywriter, Grouphead, Kreativdirektor und schließlich Prokurist, als der er allerdings nie alleine zeichnungsberechtigt gewesen war. Er nahm das Mobilteil auf und meldete sich mit einem fragenden: Ja?

    Hallo, hier ist Sabine Segieth, ehemals W.H.Y. Wir organisieren gerade ein Ehemaligentreffen, und ich wollte fragen, ob Sie – darf ich du sagen? – ob du Interesse hättest zu kommen.

    Johannes John jr. hielt kurz die Luft an und versuchte, erst einmal zu sortieren. So viel zu ihm hintelefonierte Information am Stück, so offen gestellte Anforderungen an sein Erinnerungsvermögen und zugleich der mehrfache Appell, Entscheidungen zu treffen, waren ihm nicht alltäglich.

    Hier ist Johannes John jr., sagte er immer noch sortierend aus der Defensive heraus. W.H.Y? Ehemaligentreffen? Warum nicht? Mit wem spreche ich denn?

    Hier ist Sabine Segieth, John-John, du weißt schon, die Sekretärin vom Dr. Osthain damals. Sabine, die Blonde, erinnerst du dich nicht?

    Und ob er sich erinnerte! Das mit Osthain und ihr war der Dauerbrenner hinter vorgehaltener Hand gewesen. Und die geschmacklosen Witzeleien über den fehlenden Arm, an denen er jetzt noch immer ein sich ihm eigentlich verbietendes Vergnügen hatte. Die Biene also! Das hätte er nun wirklich nicht erwartet.

    Ihr Telefonat mit Uschi Gärtner

    Als das Mobilteil auf dessen Ladestation die Standard-Telekom-Melodie aus der Fernsehwerbung von sich gab und dabei auch noch rot blinkte, hielt Uschi Gärtner auf ihrem Heimtrainer inne. Erzählte sie übrigens dritten von ihrem Trainingsgerät, verzichtete sie nie auf den koketten Hinweis, dass es sich nicht um einen Personal Trainer handeln würde, den sie körperlich in Anspruch nehme, sondern um einen sogenannten Crosstrainer. Ein Gerät, das der Benutzer von oben herab mit den Füßen zu treten hatte, währenddessen es an zwei dem Skistock abgeschauten Stäben zu ziehen beziehungsweise zu schieben galt. Einmal sollte der rechte Arm nach vorne bewegt werden und der linke dabei nach hinten und umgekehrt. Und das abwechselnd immer wieder. Die Gärtnerin, wie man sie neben Uschi auch genannt hatte, die Gärtnerin hatte bei W.H.Y eine blitzsaubere Karriere als Texterin und dann auch als Kreativdirektorin hingelegt, bevor sie dann nach der Geburt ihres ersten Kindes – einer Tochter, getauft auf den Namen Maria – nur noch als Freelancerin von zu Hause aus arbeitete. Aber was heißt hier ‚nur noch‘? Der Beifall von Kunden erreichte sie auch am heimischen Schreibtisch noch nahezu ununterbrochen. Deshalb hatte sie auch ihren Crosstrainer vorsichtshalber ganz nahe am Telefon positioniert und brauchte nur mit dem rechten Arm eine wenig aufwändige Seitenbewegung zu machen, um das Mobilteil, wie schon so oft zuvor, in die Hand zu nehmen.

    Gärtner, meldete sie sich unter gleichzeitigem Aufflammen der ihr schon immer innewohnenden Neugier.

    Ja, hier ist die Sabine Segieth, heute Nord, schön, dass ich dich antreffe. Erinnerst du dich? Damals bei W.H.Y?

    Ach, Sabine, du? Sekretariat Dr. Osthain. Ich erinnere mich lebhaft! Das waren noch prickelnde Zeiten. Aber sag mal, wie ist es dir denn ergangen? Verheiratete Nord. Oder verwitwet, geschieden? Kinder?

    Ja, immer noch verheiratet, Kinder auch, zwei erwachsene. Aber warum ich anrufe. Wir planen ein Ehemaligentreffen. Hast du Lust?

    Ihr Telefonat mit Hans-Herbert Rosa

    Das Handy vibrierte in der Brusttasche seines Oberhemdes, über das er ein Sweatshirt mit der Aufschrift „forever young" trug. Es fiel ihm nicht ganz leicht, schnell genug die regenundurchlässige Jacke zur Seite zu schieben und den Saum des Sweatshirts weit genug über dem Bauch auszudehnen, um dann in die Brusttasche des von Helfiger designten Hemdes zu gelangen, ohne die Frist bis zum automatischen Einschalten der Mailbox verstreichen zu lassen. Gerade auf dem Weg zur Verabredung an der Sushi Bar seines Lieblingschinesen namens Suzie Wong Palace, die erfahrungsgemäß gerne reichlich besetzt war mit seiner Wahrnehmung nach potenziellem Vögelfleisch, blieb er stehen, um den nicht einfachen Griff zum Mobiltelefon – von konkurrierenden Gehbewegungen ungestört – bewerkstelligen zu können.

    Nach dem Druck auf die Taste mit dem grünen Hörersymbol, das so aussah wie kein Telefon mehr heutzutage, meldete er sich mit dem beim wiederholten Aufsprechen von Ansagetexten für seinen Anrufbeantworter eingeübten Optimismus: Ha-Ha Rosa, wer wagt es?

    Auch Hans-Herbert Rosa zählte zu den Männern des Wortes. Damals waren bei W.H.Y noch die mit dem Y-Chromosom mehrheitlich in der textenden Zunft vertreten. Doch verband sich sein Schreiben nie mit Dominanzstreben oder gar dem Wunsch nach beruflichem Status beziehungsweise Karriere. Auch Gehaltserhöhungen waren ihm nicht so wichtig gewesen. Vielmehr verwandelten sich seine blauen Augen beim Spiel mit Worten für beispielsweise die Überschrift einer Illustriertenanzeige (4c, angeschnitten) in die eines selbstverliebten Spanferkels, das weder eine Ahnung von Backröhen noch von rotierenden Grillspießen hatte.

    Hier ist Sabine Segieth, hallo Ha-Ha!

    Lass mich mal nachdenken, die Sabine mit dem herzförmigen Leberfleck über der Bikinizone?

    Immer noch der alte Hans-Herbert Rosa, aber mal im Ernst, wir bereiten gerade ein W.H.Y-Ehemaligentreffen vor. Du musst unbedingt kommen! Aber nur, wenn du mir den Leberfleck noch mal zeigst.

    Diverse weitere Telefonate

    Da sie drauf und dran war, in der Aufgabe als Organisatorin des Ehemaligentreffens aufzugehen, führte Sabine Segieth über die beschriebenen drei hinaus noch viele weitere Telefongespräche mit ehemaligen W.H.Ylern männlichen und weiblichen Geschlechts. Das, was vom anderen Ende der Leitungen und Sendemasten bei ihr ankam, war im Einzelfall zwar manchmal verblüffend, in seiner Gesamtheit aber nicht so daneben, dass man es nicht schon vorher hätte erwarten können. Die meisten Angesprochenen entschlossen sich schon in der Frühphase des verbalen Hin und Hers für eine Absage. Keine Zeit, kein Interesse, keine Lust. Was sich dahinter verbarg, konnte sie nur ahnen, aber nicht überprüfen: Ich werde nicht kommen, weil ich mich – übergewichtig und faltig wie ich geworden bin – nicht mehr als vorzeigbar empfinde. Du wirst nicht kommen, weil du dem X oder Y nie mehr im Leben begegnen möchtest. Er würde nie kommen, weil er endlich trockener Alkoholiker war (noch). Sie wird auf keinen Fall kommen, weil sie noch keine trockene Alkoholikerin ist. Und wir, ihr, sie kommen schon gar nicht, weil ihnen das Vorhaben aus den verschiedensten Gründen offen gesagt schlicht am Arsch vorbeiging. Hinzu kam, dass die Muttergesellschaft der W.H.Y German Division im letzten Jahrzehnt zweimal den Besitzer gewechselt hatte. Die neuen W.H.Yler-Generationen konnten das gute alte W.H.Y-Gefühl gar nicht mehr kennen. Ihre Dünnbrettrigkeit wurde nur von ihrer Verachtung für alles Ehemalige an W.H.Y übertroffen.

    Aber die ihr unter den Absagern und ihren Begründungen unvergesslich gewordenen Ehemaligen waren für Sabine Segieth insbesondere die folgenden:

    Dr. Boris Belowski mit gewichtigen Absagegründen

    Der Populärakademiker war in seinen guten Zeiten besonders geschätzt als gebildeter und fein fühlender Experte für die praktische Umsetzung von neuesten Erkenntnissen der Motivationspsychologie bei Agenturkunden. Seine Hinterlassenschaft, wenn nicht vorher schon bei Agenturumzügen unter die Räder gekommen, müssten einige Regalmeter sein, vollgestopft mit Strategiepapieren zu wichtigen Präsentationen für noch wichtigere Auftraggeber: Ford, Kraft, Unilever, um nur wenige zu nennen. Dass Belowski schwul war, konnte zu keiner Zeit zu den offenen Geheimnissen gezählt werden, so selbstverständlich war es geworden. Er sagte seine Teilnahme am Ehemaligenteffen ab, weil er nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnte. Sein Übergewicht hatte ihn in einem Maße übermannt, dass das Knöcherne, das seinen Körper einmal gemeinsam mit Muskeln strukturiert hatte, so von Fett überwuchert worden war, dass es von seinen wabernd wulstigen Hautrollen nur noch mit Mühe vor dem Davonfließen zurückgehalten werden konnte. Ein Verlassen seiner Wohnung war ihm nur noch mit Hilfe eines Kranes und durch das Fenster zur Straße möglich. Dieser Aufwand sei nur für einen Krankenhausbesuch zu rechtfertigen, meinte er, nicht aber für ein Ehemaligentreffen. Im Übrigen täte es ihm Leid.

    Martin Helfenbein machte Scherze

    Der begnadete Illustrator und seinerzeit kultverdächtige Art Director, der auch Ehrenmitglied des Clubs selbigen Namens in Düsseldorf war, gab zunächst vor, dass er nicht kommen könnte, weil seine Frau schwer erkrankt sei und ständig seiner Hilfe bedürfe. Dann erzählte er aber praktisch im selben Atemzug, dass er sie gerade mit seinem neuen Ausbeinmesser, das einen Griff aus Rosenholz besitze und aus der Serie „IKON" des Herstellers WÜSTENHOF, Solingen, stammen würde, mit mindestens dreißig Stichen von allem Leiden erlöst hatte. Und noch während Sabine Segieth um Fassung rang, brach er in lautes Gelächter aus und beruhigte sie mit der Auskunft, dass er als führendes Mitglied eines im Internet weltweit erfolgreichen Kinderpornorings kurz vor der Verhaftung stehe. Seine PCs hätte man schon beschlagnahmt, alles andere sei nur noch eine Frage der Zeit.

    Marianne Friese blieb ein Geheimnis

    Von Marianne Friese erreichte Sabine Segieth lange nur den Anrufbeantworter. Es kostete fünf und mehr Inanspruchnahmen der Wiederholungstaste ihres Telefons, bis sich endlich zaghaft eine weibliche Stimme meldete, die der Tochter. Ihre Mutter habe sich das Leben genommen. Dazu musste man wissen, dass Marianne Friese früher die erste Texterin bei W.H.Y-Deutschland gewesen war. Dem damaligen Agenturleiter namens Verner zu Mylow, einem gealterten vormaligen hohen Reichswehr-Offizier, der von Werbung allerdings wenig verstand, was damals jedoch nicht so wichtig gewesen war, dem hatte als Qualifikation für den Texterinnenjob Marianne Frieses deren Zwei in Deutsch genügt, die in ihrem auch damals schon vergilbten Abiturzeugnis mit Tinte geschrieben stand. Jedenfalls hatte sich Mary, wie sie von britischen oder amerikanischen Managementbeauftragten anlässlich von Kontrollbesuchen im Francfort Office genannt worden war, nach Berufsende ihren Traum vom Aussteigen erfüllt. Eine Kate in Ostfriesland mit Salzwiese und Meeresgeruch sollte es sein und wurde es auch. Als sie dann fertig war mit dem Umgraben von Grasflächen zu Gunsten eines Kartoffelackers, ging ihr recht bald danach irgendwie der Sinn ihres Lebens verloren, sodass sie sich ganz offensichtlich entschlossen hatte, ein weiteres und allerletztes Mal auszusteigen. Es war bedauerlicherweise nicht überliefert, ob sie an die postmortale Option der Inkarnation geglaubt oder ob sie sich gänzlich hoffnungslos aus ihrem Leben verabschiedet hatte.

    Liebe Mary, das Ehemaligentreffen wird dich in ehrenvollem Andenken behalten. Gewusst allerdings hätten wir gerne, ob die von dir über Jahre hinweg betreute firmeneigene Wohnung in Hamburg mehr als nur eine günstige Übernachtungsmöglichkeit für W.H.Yler auf Geschäftsreisen zu dortigen Kunden gewesen war. Oder hattest du ordentlich Spaß mit denen? Schließlich warst selbst du einmal jung…

    Fräulein Senfthal hätte gerne missioniert

    Als Assistentin ihrer erst kürzlich verstorbenen damaligen W.H.Y-Francfort-Office-Personalchefin hatte Fräulein Senfthal früher einmal das Vorzimmer der inoffiziell FiSi (Firmensicherheit) genannten Personalabteilung gehütet. Sie fühlte sich insbesondere als Voraushorcherin aller heimlichen Zuträge von Inoffiziellem angemessen wertgeschätzt, war dies doch das Salz in der Suppe von Personalakten gewesen, welches sie mit unsichtbarer Tinte in Form von Randbemerkungen ebenso diskret wie auch für Eingeweihte nachhaltig einzustreuen verstand. An der Quelle allen internen Wissens sitzen zu dürfen, dazu fühlte sie sich von nichts Geringerem als der Vorsehung selbst auserwählt. Fräulein Senfthal nahm die Einladung zum Ehemaligentreffen sehr spontan an, wurde allerdings von Sabine Segieth im Rahmen eines nachfassenden Anrufs wieder ausgeladen. Die Senfthal, deren Vorname auch bei denen, die sie einmal gut kannten, meist in Vergessenheit geraten war, outete sich nach anfänglichem Bedeckthalten beim zweiten Telefonat dann als praktizierende Zeugin Jehovas. So lange zu der ihr überlebenswichtigen Heilsfrage schweigen zu müssen, war ihr sehr schwer gefallen. Doch als dann der Damm mit Hilfe einer von ihr ins Gespräch eingebrachten Vertraulichkeit gebrochen war, gab es für sie bei der Anwendung des ihr für die Mitgliederwerbung Beigebrachten kein Halten mehr. So machte sie ihre Anruferin zuerst mit der Frage nach deren Haltung zu Gott sprachlos, um dann die Verunsicherung zu komplettieren mit einem geraunten: Ängstigt Sie nicht die Schlechtigkeit der Welt?

    Da sich Sabine Segieth die Frage nach der voraussichtlichen Teilnehmerzahl beim Ehemaligentreffen wegen der von der Senfthal gerne mitzubringenden Anzahl von Exemplaren des Wachturms ersparen wollte, sagte sie kurzerhand, dass das W.H.Y-Ehemaligentreffen mangels Teilnehmerinteresse und auch auf Anraten von Dr. Osthain hin – der mit dem nur einen Arm, erinnern Sie sich? – nicht stattfinden würde. Vielleicht ein andermal.

    Karl Walthers Superding und Vergesslichkeit

    Und es gab noch einen Anruf, den Sabine Segieth nicht so schnell vergessen konnte. Den, der Karl Walther galt. Dieser war der langjährige Liebling nahezu aller Vorzimmer gewesen – hausintern und insgeheim auch nach draußen. Ja, er wurde vom W.H.Y-Management, als die Agentur kurz davor stand, die Nr. 1 im deutschen Markt zu sein hinsichtlich Mediaumsatz aber auch Kreativität, als Geheimwaffe für Kundenbindung eingesetzt. Der Begriff Nächstenliebe ginge in diesem Zusammenhang wohl etwas zu weit, da es sich bei den Interaktivitäten der Beteiligten (also seine Person einerseits und die Inhaberinnen von strategisch bedeutsamen Vorzimmerpositionen bei Kunden andererseits) um im Prinzip egoistische – ehrlich gesagt: egozentrische – Verhaltensweisen handelte.

    Doch zumindest körperliche Liebe war dabei immer mit im Spiel gewesen. Soviel zum Hintergrund: Karl Walther, der nach seinem Eintritt in die Agentur sehr schnell vom Kontaktassistenten zum Etatdirektor befördert worden war, dem eilte insbesondere bei weiblichen Zielpersonen der Ruf voraus, über alle Maßen gut bestückt zu sein. Männer, die davon gehört hatten, vermieden es, sich im kommentierenden Geraune auf den Fluren zu exponieren. In der Sache stark verunsichert, beließen sie es bei der Sublimierung von Aggression zu Ironie, ohne sich aber davon frei machen zu können, mit je nachdem größerem oder kleinerem Neid die Urinale der für sie in der Agentur zuständigen Herrentoiletten zu benutzen.

    Was an den Legendenbildungen um Karl Walther wirklich dran war, wusste Sabine Segieth nicht aus erster Hand zu bestätigen, doch konnte sie sich auf in aller Regel gut unterrichtete Kreise berufen. Diese verlautbarten, auf eine diskrete Lautstärke ihrer Äußerungen bedacht, dass der Etatdirektor unaufgefordert Anrufe von insbesondere Chefsekretärinnen erhalten würde, die eine Verabredung mit ihm zum Ziel hatten. Wodurch diese sich dazu ermutigt fühlten, konnte nur die Mund-zu-Mund-Propaganda von Wissenden zu noch nicht Wissenden gewesen sein. Daraus resultierte dann ein Wissensdrang, der befriedigt werden wollte. Dass dieser auch die Vorzimmer bedeutender W.H.Y-Kunden erfasste, war einer gezielten Indiskretion zuzuschreiben. Der damalige Geschäftsführer und von Mylow-Nachfolger Bob Myer, heute würde er sich CEO nennen können, hatte seine Sekretärin gebeten, ihre Kollegin im Vorzimmer des Vorstandsvorsitzenden der Großbank anzurufen, die gerade als wichtiger Kunde hinzuakquiriert worden war. Bei einer Verabredung zum Kaffee, der dann von Henkel trocken aus Kleinflaschen abgelöst worden war, kam es zu einem Gespräch unter Frauen. Als allgemeinen Betrachtungen einige beispielhaft eingeflochtene Konkretisierungen des Phänomens folgten, das in diesem Stadium freilich noch nicht beim richtigen Namen genannt worden war, führte das geweckte Interesse schließlich zur Weitergabe von Karl Walthers Durchwahl. Den selbstzweiflerischen Einwänden wie Ich kann doch nicht einfach! oder Wie soll das denn gehen? setzte dann ein aus eigener Erfahrung heraus sprechendes: Glauben Sie mir, es funktioniert! ein Ende. So kam es, dass Karl Walther für W.H.Y zu einem Asset für Unternehmenserfolg wurde, das vom Motivationsexperten Dr. Boris Belowski mit dem Begriff weicher Faktor nur sehr praxisfern bezeichnet werden konnte.

    Nachdem sie den Aufstieg der Vorgeschichten aus längst überwucherter Erinnerung in ihr aktuelles Bewusstsein zugelassen hatte, tippte Sabine Segieth die Festnetznummer des Telefonanschlusses von Karl Walther in ihr Mobilteil ein. Zuerst gab ihr ein wiederholtes Tuten zu verstehen, dass sie noch zu warten hatte, dann hörte sie, wie sich am anderen Ende etwas regte. Einen zielorientierten Eindruck machte das zu hörende Geraschel eher nicht, sondern eher vielleicht den fehlender Konzentration, wenn nicht gar nur mühsam unterdrückten Desinteresses. Dann trat Stille ein, die durch ein Geräusch abgelöst wurde, das entstand, wenn Atemluft durch nicht ganz sauber geputzte Nasenlöcher ausströmte.

    Hallo, fragte die Anruferin, um gleich hinzuzufügen: Hier ist Sabine Segieth, ehemals W.H.Y-Werbeagentur, hallo?

    Wie, Why? Das hörte sich der Stimmlage nach männlich an. Deshalb schob sie nach:

    W.H.Y, die Werbeagentur. Wir machen ein Ehemaligentreffen, deshalb wollte ich mit Karl Walther sprechen. Wer spricht denn da?

    Wer, da?

    Unvermittelt begann es am anderen Ende wieder zu rascheln und eine diesmal weiblich klingende Stimme ließ ein gepresstes ‚Gib her, ich mach schon‘ hören. Dann folgte ein deutlich intensiveres Geraschel, das mit dem klaren Ausruf männlicher Herkunft ‚Scheiße‘ endete.

    Hier Walther, ließ sich die weibliche Stimme hören, entschuldigen Sie bitte.

    Dann fiel Sabine Segieth auch das noch ein: Karl Walther hatte Marion Blanck geheiratet, die Vorzimmerdame von Dipl. Ing. (FH) Udo Thimm, den damaligen Leiter der EDV bei W.H.Y.

    Hier ist Sabine Segieth, ehemals W.H.Y-Werbeagentur.

    Sabine, du? Hier ist Marion, wie geht’s dir?

    Gut soweit. Weshalb ich anrufe: Wir organisieren gerade ein Ehemaligentreffen und dazu wollte ich auch den Karl einladen – und dich. Kann ich ihn kurz sprechen?

    Du hast schon mit ihm gesprochen.

    Was, das war Karl?

    Ja, das, was von ihm übrig blieb. Seit er fünfzig ist, hat er Demenz, Alzheimer. Vergisst immer mehr, mich und auch W.H.Y und das alles.

    2

    Insert One Die K.-o.-Probe im Weinparadies

    Hermann Gütermann kannte die Vorliebe von Sieghardt Schwartz – auch kurz: SS – für teure Rotweine nur zu gut. Als er seinerzeit auf Locationsuche für einen Swakara-TV-Spot in Südafrika war, hatte es sich Sieghardt Schwartz nicht nehmen lassen, den Leiter des fünfköpfigen Teams zu geben, das mit Hilfe einer Boeing 747 nach Kapstadt gelangt und dort im renommierten Mount-Nelson-Hotel abgestiegen war. Gleich für den nächsten Tag hatte er einen Hubschrauber gechartert, um zum Weingut Buitenverwachting zu fliegen. Dessen renommiertes Restaurant, dem ein bayerischer Koch aus Eckhardt Witzigmanns Brigade (damals noch im Tantris, München) vorstand, hatte Anweisung erhalten, sich auf den Besuch des W.H.Y-Teams aus Deutschland mit einer ausgiebigen Weinprobe samt fünfgängigem Lunch vorzubereiten. Besonderes Interesse hatte Sieghadt Schwartz an den für ihre aprikosige Frucht bekannten Sauvignon Blancs des Weinguts und auch an dessen angeblich unglaublich körperreichen und mundfüllenden Merlots angemeldet. Um die Weine sollte sich dann ein Menü aus Meeresfrüchten und Buschfleisch ranken.

    Da der Helikopter neben dem Piloten lediglich drei weiteren Passagieren Platz bot, waren am folgenden Morgen außer Sieghardt Schwartz nur noch dessen Sekretärin Marlies Vielforth sowie Hermann Gütermann mit an Bord des Libellenimitats geklettert. Warum der Etatdirektor seine Teilzeitgeliebte mitnahm, war selbsterklärend. Doch warum Hermann Gütermann? Vielleicht sollte der das Feigenblatt dafür liefern, dass dem Kunden die beträchtlichen Kosten für den leicht der Verschwendung zu verdächtigenden Food&Beverage-Ausflug als Aufwendungen im Rahmen der Vorbereitungen zum Dreh des Swakara-Spots weiterberechnet werden konnten. Würde Hermann Gütermann doch ohnehin aus der reflexhaften Sicht eines Locationscouts heraus die sich ihm zeigenden Landschaften von oben, Gebäude von außen und Räume von innen daraufhin abscannen, ob sich mit ihnen als Kulisse Swakaraschafe und persianerbemantelte Magermodels vertrauenerweckend inszenieren ließen. Hermann Gütermann roch zwar den Braten, ließ sich aber dennoch von SS benutzen, da seine Neugier auf die Weine größer war als sein Ekel vor dem weißen, sich in Sieghardt Schwartzs Mundwinkeln ansammelnden Fadenmaterial aus angedicktem Speichel, wenn dieser viel geredet und wenig Alkoholfreies getrunken hatte.

    Als der Hubschrauber auf einer mit einem weißen Kreuz versehenen Rasenfläche gleich neben dem im kapholländischen Stil gehaltenen ehemaligen Sklavenhaus des Weinguts gelandet war, warteten bereits der weißhäutige Maître d’Hôtel, der dünnhäutige Sommelier und ein schwarzhäutiger Klon des Sarottimoors (abgeschaut wohl bei Bocuse in Lyon) mit einem Silbertablett, auf dem drei langstielige schlanke Gläser voller champagnerähnlich perlendem südafrikanischem Schaumwein im Eingang zum Restaurant, vor dem links eine afrikanische Ölpalme und rechts eine etwa ebenso hohe Roteiche mit Migrationshintergrund in symmetrischer Anmut angewurzelt standen. Sieghardt Schwartzs etwas unsicherer Griff nach dem Begrüßungsdrink wirkte leicht überhastet, was dadurch relativiert wurde, dass er Marlies Vielforth mit der linken leicht zitternden Hand ein Glas mit der Bemerkung „Ladys first reichte, während er dasjenige, das er für sich selbst bestimmt hatte, schnell mit der rechten Hand an sich nahm, um es gleich danach auf Trinkhöhe zu bringen – Oberkante Unterlippe sozusagen. Es war höchste Zeit, gegen allfällige Entzugserscheinungen anzutrinken. Hermann Gütermann hatte sich selbst zu bedienen, was er mit artigem Dank an das schwarze Restaurantmaskottchen auch tat, worauf ein routiniertes „Prost. Prost. Prost. folgte, begleitet vom „Welcome und „Cheers der Gastgebenden. Mit seinem junkerhaften Zackzackgehabe kam SS leeren Glases sofort zur Sache: Bin sehr gespannt auf die Weinprobe. Wann soll‘s losgehen? Am besten gleich? Na, dann woll‘n wir mal!

    Hermann Gütermann wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich nicht exquisit auf die Weinprobe mit den Spitzengewächsen vom sonnengesegneten Kap zwischen Atlantik und Pazifik vorbereitet hätte. So führte er einen Alukoffer mit sich, denjenigen gleich, in denen Profifotografen ihre Kameras und Objektive bei aushäusigen Fotosessions mitzuführen pflegen. Nur dass sich in seinem stoßfesten Behältnis edelste mundgeblasene und handgefertigte Weingläser der Marke Riedel befanden. Sie waren bruchsicher in eigens für sie in dickschichtigen Schaumgummi geschnittene Aussparungen gebettet, die exakt ihren Ausformungen entsprachen. Alle stammten aus der Serie „Sommeliers und waren mit Bedacht zusammengestellt: Das Glas „Mature Bordeaux für den Merlot. Sollte er „sehr französisch ausfallen, lag das etwas voluminösere, bauchigere Glas „Bordeaux Grand Cru bereit. Ginge die Qualität mehr in Richtung „Neue Welt, käme dann eher das Glas „Zinfandel mit seiner nach oben engeren Tulpe in Frage. Auf die Weißweine warteten das Glas „Loire für den Sauvignon Blanc, das Glas „Chablis für den Chardonnay und mit dem Glas „Riesling Grand Cru" konnte man ohnehin nichts falsch machen – so oder so oder auch ganz anders. Ein anderer hätte den von Riedel in limitierter Anzahl hergestellten mobilen Gläserkoffer mit dem Nebeneffekt des Renommierens genutzt. Hermann Gütermann hielt ihn dagegen lediglich in der Hinterhand, für den Fall, dass ein Winzer oder Restaurateur nicht über die Gläser verfügte, die dem Anspruch der zu verkostenden Weine entsprachen.

    Als die Dreiergruppe vom Sommelier ins Innere des Restaurants gebeten wurde, erkannte Hermann Gütermann sofort, dass er seinen Glaskoffer geschlossen lassen konnte. Auf der für die Weinprobe hergerichteten weiß betuchten Tischreihe standen sechs Gruppen von Gläsern unterschiedlicher Charakteristik - aus dem Hause Riedel, sieh mal einer an! Zwar handelte es sich nur um Produkte der maschinengefertigten Serie Vinum, dennoch repräsentierten sie eine auch für große Gewächse durchaus angemessene Qualität, wusste Hermann Gütermann sich zu beruhigen.

    Sieghardt Schwartzs erster Blick galt bezeichnenderweise nicht den Trinkgefäßen, sondern der Anzahl der bereitgestellten Weinflaschen. Er rechnete sich, ohne dazu wirklich Zahlen zu verwenden, mit einer Art Ganzheitsmethode einen in Kürze zu realisierenden Alkoholpegel aus. Zu seiner Zufriedenheit machte er eine Gesamtmenge von Rot- und Weißweinflaschen aus, die für drei Personen plus Sommelier durchaus großzügig bemessen worden war. Hermann Gütermann zählte derweil numerisch penibel bis zwölf: sechs Flaschen Rot, aufrecht stehend und bereits entkorkt, sowie sechs Flaschen Weiß, die in einem überdimensionalen schalenförmigen Pokal aus versilbertem Messing in einem Eis-Wasser-Gemisch halb schräg auf den Pokalrand gelehnt lagen. Die Korken nach dem Herausziehen umgedreht und leicht nur in den jeweiligen Flaschenhals zurückgesteckt.

    Verfügte Sieghardt Schwartz, dessen Vater es durch einen lebhaften Im- und Export großer Bordeauxs zu signifikantem Wohlstand gebracht hatte, über vorwiegend quantitativ ausgerichtete Weinkenntnisse, die ihm also praktisch mit in die Wiege gelegt worden waren, resultierte Hermann Gütermanns ausgezeichnetes vinologisches Wissen aus intensiven qualitativen Bemühungen im Rahmen einer nicht enden wollenden Reihe von Verkostungen im Kreise vor allem von Spitzenwinzern und Fachjournalisten. So konnte er sich rühmen, zu den ganz Wenigen zu gehören, die den global verehrten Weinkritik-Guru Micheal Broadbent in einem signifikant fortgeschrittenen Zustand des Betrunkenseins kannten. Im Vergleich zu Sieghardt Schwartz verfügte Hermann Gütermann über ein erheblich fundierteres Vergleichsvermögen hinsichtlich Rebsorten, Cuvees, Jahrgängen usw. Er sprach in diesem Zusammenhang von seinem unbestechlichen Zungengedächtnis. So wie anderen ein Hauch von Karamell in der Luft genügte, um Bilder aus der Kindheit lebendig werden zu lassen, so konnte er sich mit Hilfe der Geschmacksknospen seiner Zunge Aromeneindrücke vergegenwärtigen, selbst wenn diese schon Jahre oder Jahrzehnte zurücklagen. Hinzu kam ein das jeweilige Geschmackserlebnis beschreibende Vokabular, das nicht nur die Standards umfasste – Farbdefinitionen, Vergleiche mit Früchten, Hölzern oder Blumen, Abgangsschilderungen vom ungenügenden Finish bis zum langen Schwanz – dem allem fügte er auch ebenso einfallsreiche wie zutreffende Beschreibungen noch nie gehörter Art mit hinzu wie „Duft nach der Haut eines Reispuddings oder „Ein Hauch von Bauernhof in einer Airport-Einflugschneise. Von Sieghardt Schwartz geradezu gefürchtet aber war die schier unfehlbare Treffsicherheit seines abschließenden Urteils, sodass Hermann Gütermann ihm ein ebenso beängstigender wie verhasster Konkurrent war. Ihn einmal scheitern zu sehen, wäre ihm vermutlich ein Barriquefass voller Chateau Petrus eines guten Jahrgangs wert gewesen.

    Der Sommelier sprach die unter dem Vorwand der Vermarktung von gekraust behaarten Schafsfellen zu ihm gelangte Dreiergesellschaft aus Deutschland in akzentfreiem Französisch an: „Madame, Messieurs, s’il vous plaît. Und während er mit einer zwar sparsam ausgeführten aber zwischen seinen beiden Armen sowie Händen perfekt abgestimmten und dadurch besonders elegant wirkenden Geste an den für die Weinprobe eingedeckten Tisch bat, fuhr er auf butlerhaftem Englisch fort: „We will start with a Sauvignon Blanc, after that we’ll have a Chardonnay and will finally end up with a Blanc de Noir what the white ones are concerned. Während der Maître d’Hôtel noch einmal die weiße Tischdecke glattzog, brachte der verkleidete schokoladenfarbene Hilfskellner die entsprechenden Gläser in Reih und Glied, woraufhin der Sommelier den ersten Weißwein mit unaufdringlicher Theatralik einschenkte. Nun begann das obligatorische gegen das Licht Halten von nur fingerbreit eingeschenkten Gläsern, das Hineinstecken von Nasen in Glasöffnungen, das Einsaugen von Luft durch aufgespreizte Naslöcher, das Einschlürfen von Glasinhalten über erwartungsvolle Zungen, das unter Luftzufuhr Weiterschlürfen bei von den Lippen abgesetztem Glas unter besonderer Einbeziehung der Zungenränder, das äußerlich in eine unbestimmte Ferne Blicken, welches sich in Erwartung eines Geschmacks- erlebnisses, das auch noch nach dem Versenken der Flüssigkeit in die Speiseröhre möglichst intensiv und lange anhalten und gleichzeitig innerlich auch für Schlund und Schluckapparat nachvollziehbar sein sollte.

    Marlies Vielforth verkürzte das Degustationsritual auf Schnuppern, Schmecken und Schlucken. Sieghardt Schwartz hielt sich zwar an die komplette Abfolge der Prozedur, kam aber dann zu schnell zum Schlucken, und verdarb sich so einen ins Optimum gesteigerten Geschmackseindruck. Hermann Gütermann war voller Konzentration auf den Wein, auf dessen geschmackliche Entschlüsselung und auf die abschließende Urteilsfindung. Er äußerte sich dazu eher mimisch und verbal pauschalierend. Details hätte er nur auf Anfrage hin mitgeteilt, doch kam es gar nicht dazu: Marlies Vielforth war an Winzerlatein nicht interessiert und Sieghardt Schwartz wollte von Hermann Gütermanns Analysen und Bewertungen erst gar nichts wissen. Er brachte seine Wertschätzung durch ein bei allen drei Weinen wiederholtes: Kann ich noch einen Schluck?

    zum Ausdruck, wobei die beim Blanc de Noir doppelt geäußerte Aufforderung darauf hinweisen mochte, dass ihm dieser Wein unter den weißen am besten gemundet hatte.

    Als dann die Rotweine zur Verkostung bereitgestellt waren, hätte sich alles so zutragen können wie zuvor schon. Doch kam es anders. Beim zweiten Roten angelangt, einem in der Hauptsache Cabernet-Franc – der erste war ein Sauvignon Cabernet gewesen und der dritte sollte ein 95%iger Merlot werden –, stand Sieghardt Schwartz zunächst mit dem Rücken zu Hermann Gütermann. Dann drehte er sich zu ihm um, reichte ihm das fingerbreit gefüllte maschinengefertigte Riedelglas, Modell „Zinfandel", und sagte dazu:

    Ich bin mal gespannt. Wohl bekomms!

    Nachdem Hermann Gütermann, der sich bei der Geschmacksprüfung kurz über eine Mineralität wunderte, die in Richtung Natrium-Chlorid ging, sich dann aber doch für ein Hinunterschlucken entschieden hatte, konnte er gerade noch beobachten, wie Sieghardt Schwartz seine Assistentin küsste und dabei seine Mundfüllung Cabernet-Franc in ihrem Mund zum Verschnitt werden ließ. Als sie geschluckt hatte, lachten beide und wischten sich mit ihren Handrücken die Münder ab. Von da an konnte sich Hermann Gütermann an nichts mehr erinnern.

    Als der weinkundige FFF-Producer wieder zu sich kam, befand er sich im Bett seines Zimmers im Mount Nelson. Der widerliche Geschmack in seinem Mund wurde nur noch von den für seine Verhältnisse und Erfahrungen mit Katern nach Alkoholgenuss beträchtlichen Kopfschmerzen übertroffen. Dann begann in ihm eine Phase voller ratloser Nachdenklichkeit, die in ein intensives Grübeln überging und schließlich mit der Abgabe einer Urinprobe in ein verschraubbares und auslaufsicheres gläsernes Pillenbehältnis aus seiner Reiseapotheke mündete. Der Verdacht auf K.-o.-Tropfen im Cabernet-Franc hatte ihn zu dieser vorsorglichen Form der Beweissicherung bewegt, war doch seines Wissens nach die Wirksubstanz Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB), die durch Hydrolyse im Blut mit Hilfe des Enzyms 1,4-Lactonase aus Gamma-Butyrolacton (GBL) entsteht, nur innerhalb von etwa 24 Stunden in Blut oder Urin nachweisbar. Wenn das keine Geistesgegenwart von ihm unter schwierigsten Bedingungen gewesen war, sagte er sich später dann immer wieder.

    Sieghardt Schwartz rief ihn am Morgen auf seinem Zimmer an und erkundigte sich nach seinem Befinden. Plötzlich wäre er – Hermann Gütermann – mitten in der Weinprobe wie k.o. umgefallen. Sofort sei der Rücktransport im Hubschrauber erfolgt. Der Hotelarzt habe Entwarnung gegeben: Too much alcohol obviously. No Problem. Deshalb habe man kein Krankenhaus bemüht. Ob er immer nur so wenig vertrage? Die schönen Gläser in seinem Koffer seien in der Hektik leider kaputt gegangen. Aber Hauptsache, er sei wieder okay.

    Hermann Gütermann erreichte noch am selben Tag eine Boeing 747 zurück nach Deutschland. Die Locationsuche für den Swakara-TV-Spot übernahm Merlies Vielforth, die übrigens nach der Südafrikareise auch ganz offiziell zur Kontakt-Assistentin aufstieg.

    Beim Kundenmeeting mit den Swakara-Leuten entschuldigte Sieghardt Schwartz das Fehlen von Hermann Gütermann mit großem Bedauern und der Zusicherung, dass Marlies Vielforth mehr als nur ein guter Ersatz für den erkrankten FFF-Mann sei.

    3

    Zusagen, einige Geschichten und mehr

    Eine Woche vor dem Termin des ersten W.H.Y-Ehemaligentreffens zog Sabine Segieth eine vorläufige Bilanz: Dreiundzwanzig Zusagen konnte sie verzeichnen – ihre eigene inklusive. Ein Großteil davon stammte von den schon zu ihren Agenturzeiten üblichen Verdächtigen, was die Teilnahme an kollegialen Geburtstagsfeiern, an Betriebsausflügen oder an den nachwerktäglichen Treffen in der vom Hausmeister bewirtschafteten W.H.Y-Bar anging. Mit dazu gehörten natürlich auch die Zusagen der Texterin

    Uschi Gärtner

    …sowie die beiden Texter

    Hans-Herbert Rosa und Johannes John jr.

    Allerdings gab es auch die ein oder andere Zusage, die Sabine Segieth überrascht hatte:

    Karmen Nakascha

    …beispielsweise, die vormals hauseigene Marktforscherin, war sich während ihrer aktiven W.H.Y-Zeit in aller Regel viel zu fein, um sich unter das jeden Anlass zum Abfeiern nutzende Partyproletariat zu mischen. Als hochkarätig ausgebildete und bestens beleumundete Gebrauchspsychologin fühlte sie sich in den W.H.Y-Managementkreisen angemessener aufgehoben und zuckte dafür auch nicht beim notorisch busengrabschenden Senior Vice President Don Johnston aus dem New York Office zurück, wenn zu dessen Begrüßung Kanapees und halbtrockener Schaumwein gereicht wurden. „Karmen, you are wonderful!", pflegte Don Johnston überschwänglich seine gestische Kontaktpflege auf den Punkt zu bringen, die er als Auszeichnung und keinesfalls als Spielart sexueller Belästigung verstand. Dass Karmen Nakascha trotz ihres elitären Selbstverständnisses zum Ehemaligentreffen kommen wollte, gab Sabine Segieth Anlass, um Vermutungen anzustellen, wie dies nur Frauen vermögen. Und natürlich konnte sie darüber auch bis auf weiteres schweigen. Das Ehemaligentreffen würde es schon ans Licht bringen. Erstaunlich auch, dass

    Hermann Gütermann

    …zugesagt hatte. Er war nämlich nicht lang nach seiner Rückkehr aus Südafrika unter geradezu skandalösen Umständen bei W.H.Y ausgeschieden. Wie es überhaupt ein Wunder gewesen war, dass er sich langjährig auf der Pay roll einer international so renommierten Werbeagentur nicht nur gehalten hatte, sondern auch ausgehalten worden war. Denn sein Ruf als FFF-Producer war agentur- und branchenweit von seiner Neigung zur Exzentrik irreparabel ruiniert. (Die drei großen „F" bedeuteten übrigens Film, Funk und Fernsehen, hätten für seinen Geschmack aber genauso belanglos für Fritz Fischers Fische stehen können.) Was nun die Exzentrik anging, bestand sie zu einem großen Teil in seiner Fähigkeit, Arbeit zu verweigern. Nicht etwa, weil er faul gewesen wäre, sondern weil ihm seine Vorstellungen von Qualität meist als nicht realisierbar erschienen. Und bevor er etwas unter seinem Niveau abliefern würde, lieferte er lieber gar nicht. Andererseits: Stimmten seinem Anspruch nach die Voraussetzungen, schuf er Unübersehbares, Unüberhörbares und Unvergessliches selbst für nichtigste Anlässe und Produkte. Keiner außer ihm hätte es geschafft, Peter Ustinov als Sprecher anlässlich eines Fernsehwerbespots für Zuckersirup zu gewinnen. Hermann Gütermann gelang es. So wie er es in den Swimmingpool von Simone Signoret am Rande der Filmfestspiele in Cannes geschafft hatte, um ihr bevorzugter Partner für Wasserballspiele zu sein. Und jeder, der ihn etwas näher kannte, hätte ihm als einzigem zugetraut, mit Marlon Brando einen Werbefilm für italienische Spaghetti zu drehen, noch bevor dieser von einer Spaghettisucht befallen worden war. Wie es sich überhaupt als grundverkehrt erwies, Hermann Gütermanns Leistungen gemäß den Maßstäben von arbeitsvertraglichen Üblichkeiten zu beurteilen. Sein wahrer Wert bestand in seiner Fähigkeit zum Geniestreich, der allerdings zu selten abgerufen wurde. Als er einmal wieder die Sprachaufnahme für einen Funkspot verweigerte, weil der Sprecher, ein mittelmäßiger Schauspieler aus dem Ensemble des örtlichen Schauspielhauses, als Raucher starken Mundgeruch verströmte und Hermann Gütermann als Tabakrauchallergiker in die Vorstufe einer Panikattacke vor einem zigaretteninduzierten asthmatischen Anfall getrieben hatte, erhielt er die fristlose Kündigung. Da es zuvor zur ordnungsgemäßen Anzahl von Abmahnungen gekommen war, blieb ihm lediglich noch, seinen Abgang mit ihm als Hauptdarsteller und dem W.H.Y-Chef Deutschland in der Nebenrolle unvergesslich zu gestalten. Es sei nur soviel dazu gesagt: Nachdem er sich rechtzeitig und ausreichend mit Abführmitteln präpariert hatte, betrat er unangemeldet das Corner Office seines höchsten Vorgesetzten und inszenierte sich mit Hilfe seiner Hinterlassenschaften auf dessen Schreibtisch in einer Weise, die sowohl dem Hausmeisterehepaar als auch den für W.H.Y tätigen Mitarbeitern einer Gebäudereinigungsfirma in lebhafter Erinnerung geblieben war. Warum Hermann Gütermann zugesagt hatte, darüber ließ er Sabine Segieth nicht im Zweifel. Er würde doch hoffen, den damaligen W.H.Y-Kontaktchef

    Sieghardt Schwartz

    …zu treffen, mit dem er noch ein ganz bestimmtes Hühnchen zu rupfen hätte. Sabine Segieth allerdings hatte ihre Zweifel, ob Sieghardt Schwartz trotz Zusage am Ehemaligentreffen teilnehmen würde. Nicht allzu überzeugend hörte sich sein „Klar komme ich an, da er es mit einem „Wenn nichts dazwischen kommt relativiert hatte. Denn bei Sieghardt Schwartz kam schon zu seinen W.H.Y-Zeiten gerne etwas dazwischen, was nicht selten zu peinlichen Situationen auch bei Kunden geführt hatte. Am verwunderlichsten für Sabine Segieth war jedoch die Zusage von

    Konrad Hofmann

    ... dem mit Abstand ältesten von allen zum Ehemaligentreffen Eingeladenen. Bei W.H.Y war er als Korrektor beschäftigt gewesen, worauf er fachlich gut vorbereitet gewesen war. Als junger Mann gleich nach dem Abitur hatte er Setzer gelernt. Das war noch zu der Zeit, als die Texte von Büchern und Zeitungen aus metallenen Buchstaben zusammengesetzt werden mussten, bevor sie gedruckt werden konnten. Schon als Kind hatte er sich in die Körperlichkeit von Buchstaben verliebt, die – je nachdem wie sie aneinandergereiht worden waren – die Welt einmal so und einmal so erklären konnten. Für ihn gab es keinen Beruf, bei dem er den Buchstaben näher sein konnte als den eines Setzers in einer Setzerei. In seinem Bestreben, die Geheimnisse der Buchstaben immer besser verstehen zu können, entschied er sich dafür, nach der Lehre Germanistik zu studieren. Seine Erwartungen an sein Studienfach wurden aber nicht erfüllt. Das Einzige, was ihn in seiner Unizeit wirklich fesseln konnte, waren die Gesetzmäßigkeiten von Grammatik und Rechtschreibung. Das wenigstens hatte für ihn Hand und Fuß. Dagegen war ihm das, was in Vorlesungen und Seminaren an Interpretationen literarischer Werke vorgenommen wurde, äußerst suspekt, um nicht zu sagen: zuviel der heißen Luft. Sobald versucht wurde, zwischen den Zeilen zu lesen statt die Zeilen selbst, worin sich Germanistinnen und Germanisten besonders gefielen, hörte für ihn der seriöse Umgang nicht nur mit Buchstaben und Worten, sondern auch mit der Sprache insgesamt auf. Wie zerstörerisch das enden konnte, das war seiner Wahrnehmung nach an den sogenannten zeitgenössischen Interpretationen von klassischen Theaterstücken wie zum Beispiel den Räubern, ja sogar vom Faust zu sehen: Wenn für die Ewigkeit Gedachtes und Formuliertes mit den kurzatmigen Mitteln von Moden verfälscht wird, dann gerät es zur Schändung. Nachdem der Student alle ihm wichtigen Scheine auf den Gebieten von Grammatik und Orthographie gemacht hatte, widmete er sich noch ausgiebig der Etymologie. Dabei blickte er mit großem Geschick beim Vergleichen, Her- und Ableiten über das Hochdeutsche, Mittelhochdeutsche, Althochdeutsche, ja sogar Gotische hinaus ins Germanische, Romanische und überhaupt ins Indogermanische, wobei ihm das dreiunddreißigbändige Grimm’sche Wörterbuch der Deutschen Sprache zu einem Quell höchster geistiger Befriedigung wurde. Er verstand es, darin zu lesen wie andere in einem Kriminalroman, war dabei genauso gefesselt, ließ sich auf falsche und richtige Fährten führen und konnte sich sogar von Unerwartetem erschrecken lassen.

    Frisch nach dem letztlich dann konsequenterweise doch abgebrochenen Germanistikstudium hatte Konrad Hofmann eine Anstellung als Korrektor in einem Zeitungsverlag gefunden. Von dort aus bewarb er sich mit Erfolg für dieselbe Funktion bei der Werbeagentur SELECTA, die schon wenige Jahre später von der W.H.Y-Group aufgekauft wurde. Schon damals galt Konrad Hofmann als Relikt aus einer vergangenen Zeit. Insbesondere die jungen Texter, deren Geschriebenes er nach allen ihm zur Verfügung stehenden Regeln auseinandernahm, ja ad absurdum führte, verdrehten die Augen, wenn nur sein Name genannt wurde. Aber ohne sein in roter Tinte gehaltenes Namenszeichen „KH ging nun einmal kein in der Agentur geschriebenes Werbewort in den Druck. Deshalb stellte man sich als Texter besser gut mit ihm, was gar nicht mal so schwer war. Ein bisschen grammatisches Grundwissen genügte schon, um eine gemeinsame Basis mit ihm herzustellen, auf der dann mit Begriffen wie „Kreativität, „Wortschöpfung und „Aufmerksamkeitsverstärkung leichte Verstöße gegen geltendes Rechtschreiberecht durchsetzbar waren.

    Schon am Tag nach seinem Abschied in die Rente mit 65 erlitt er einen schweren Herzinfarkt, den er nur knapp überlebte. Noch als Rekonvaleszent machte er sich daran, das Wörterbuch der deutschen Werbesprache, das er gerne „Den Hofmann" nannte, zu verfassen. Mit seinen jetzt zweiundachtzig ist er immer noch nicht fertig damit, aber, wie er Sabine Segieth bei seiner Zusage am Telefon versicherte, nach wie vor guter Dinge, es zu seinen Lebzeiten vollenden zu können.

    4

    Allerlei im Vorfeld

    Je näher der Termin des Ehemaligentreffens rückte, umso stärker wuchs eine innere Spannung, die sich Sabine Segieth mit Hilfe ihres Verstands allein nicht erklären konnte. Deshalb versuchte sie – nach einem mehrtägigen unkritischen Umgang mit dem temporären Kribbeln in der Gegend ihres Sonnengeflechts oder auch mit dem wiederholten Wegdriften ihrer Geistesgegenwart ins Zukünftige des Wiedersehens mit alten Kolleginnen und Kollegen anlässlich einer Phase mit Einschlafschwierigkeiten – versuchte sie also, ihren Emotionen auf den Grund zu fühlen. Nein, das Wiedersehen mit ihrem einarmigen Exchef allein konnte es nicht sein, was ihr zwar nicht gerade Schmetterlinge so doch immerhin Motten im Bauch verursachte. Auch konnten es keine Ängste sein, die sie sensibilisierten. Warum auch? Schließlich war das Treffen ihr Projekt und sie freute sich auf die Realisierung. Was also sonst? Indem sie dann doch endlich einschlief, ließ sie diese Frage vorerst noch unbeantwortet.

    Auch Johannes John jr. ertappte sich bei vorauseilenden Gedanken an das W.H.Y-Ehemaligentreffen dabei, von ihm noch nicht genau zu beschreibende emotionale Reaktionen zu entwickeln. Da er sich für primär vom Intellekt her gesteuert hielt, besaß er für Gefühlsereignisse innerhalb der Grenzen seiner eigenen Person nur wenig Verständnis geschweige denn Toleranz. Deshalb versuchte er, möglichst sachlich analytisch gegenüber sich selbst vorzugehen und führte seine merkwürdige Affektivität hinsichtlich eines drohenden, für ihn aber trotz Zusage nicht obligatorischen Wiedersehens mit W.H.Y-Seinesgleichen auf die seinerzeit agenturseitig doch oft ausgeprägte Konkurrenzsituation gerade mit anderen Kreativen – Textern zumal – zurück. Würde er einige davon treffen? Hätten sie letztlich mehr aus ihrem Berufsleben gemacht als er? Aus ihrem Leben ganz und gar? Könnten sie etwa schönere Fotos über ihr Privates aus der Brief- oder Handtasche hervorholen, auf dem Handy vorzeigen als er, der es zu drei Scheidungen und keinerlei Nachwuchs gebracht hatte? Rein äußerlich traute er es sich jedenfalls zu, mit den anderen mithalten zu können, ja für sein Alter sogar besser auszusehen. In seinem Gesicht hatten weder Alkohol noch Zigaretten nachvollziehbare Spuren hinterlassen. Das bisschen Übergewicht hielt sich im Rahmen. Sein Gebiss – genauer gesagt, den beim Sprechen und Lächeln sichtbaren Teil davon – hatte er sich vor zwei Jahren durch Veneers unter Beibehaltung einer natürlichen Optik optimieren lassen. Und gekleidet war er ohnehin wettbewerbsfähig unaufdringlich hochwertig. Seinen Porsche würde er understatementmäßig in der Garage lassen und sich höchstens auf Nachfrage hin dazu bekennen.

    Nicht viel besser als Sabine Segieth erging es Uschi Gärtner. Auch sie hatte in Erwartung des bevorstehenden Ehemaligentreffens bereits mehrfach vor dem Einschlafen über die ihr zuvor nur im Zusammenhang mit Exmann und Tochter (zuweilen auch vor beruflich bedingten Wettbewerbssituationen) bekannten emotionalen Phänomene im Magen- und Darmbereich nachgegrübelt. Anders als die andere ließ sie es jedoch zu, dass sie sich Antworten gab. Und da sie ehrlich zu sich war, sorgte sie sich vor allem um ihre Eitelkeit, die weit über das Weibliche daran hinausging. Am wichtigsten schien ihr, möglichst jünger als alle anderen Weiber von damals rüberkommen zu wollen, wie sie es sich feminin aber unfeministisch dachte. Dass dies etwa nicht der Fall sein könnte, davor empfand sie tatsächlich eine Art Angst, die ihr dann schon beim Gedanken daran den Magen zusammenziehen konnte. Nun gehen ein zur Welt gebrachtes Kind und ein ungewollter Abort im vierten Monat an keinem weiblichen Körper spurlos vorüber, auch wenn diese Ereignisse bei ihr schon mehr als drei Jahrzehnte zurücklagen. Dennoch sah sie sich nach wie vor gern im Spiegel an, selbst morgens im Bad schon – noch bevor sie an sich die üblichen kosmetischen Kaschierungsmaßnahmen für den Tag vorgenommen hatte. Sogar über den gegenüber früher verstärkten Hang ihrer Brüste zum am Brustkorb angelehnten Abhängen, konnte sie wohlwollend hinwegsehen. Dagegen gab es ja Büstenhalter, die sie heute als hilfreich zu schätzen wusste. Damals bei W.H.Y hatte sie BHs noch als Freiheitsberaubung verachtet und gerne ihre Nippel samt deren ästhetisch eng gefassten Hof durch den Trikotstoff von T-Shirts oder das Leinen von Sommerblusen durchschimmern lassen. Diese Zeit war auch für die anderen vorbei. Aber, da war sie sich sicher, sie mit ihrer Disziplin auf dem Stepper, beim regelmäßigen Joggen und nicht zuletzt auch anlässlich aller Mahlzeiten, dank all dem war sie mit Sicherheit im Vorteil gegenüber den in ihrer Vorstellung immer noch als solche empfundenen Rivalinnen. Von den Männern aber, die einmal ihre Karrierekonkurrenten oder sogar gefühlten Feinde gewesen waren, erwartete sie ohnehin nicht mehr als Bierbäuche, Halbglatzen und aus Ohrlöchern herauswachsende Haare.

    In Hans-Herbert Rosas Natur lag es nicht, sich großartig Gedanken im Zusammenhang mit anderen zu machen, ganz gleich, ob er sie nun seit Jahren nicht gesehen hatte oder täglich mehrfach sah. Dazu war er sich seiner zu sicher. Dennoch empfand auch er ein Kribbeln, das sich vom Bauch bis unter die Gürtellinie fortpflanzte, wenn es um die von ihm an sich selbst gestellte Frage ging, ob das W.H.Y-Ehemaligentreffen ein geeigneter Anlass sein könnte, um etwas zu reißen. Sabine Segieths Leberfleck könnte da ein Ansatzpunkt sein. Aber vielleicht würden sich ja ganz andere Möglichkeiten ergeben, die sein Jagdfieber wert waren. Ha-Ha gehörte zu dem Personenkreis, der an seinem neunundfünfzigsten Geburtstag beschlossen hatte, für alle, die ihn zukünftig nach seinem Alter fragen würden, neunundfünfzig zu bleiben. Das war nun auch schon wieder drei Jahre her. Immerhin hatten ihm seitdem alle geglaubt. Ein Grund dafür waren sicher seine regelmäßigen Besuche in einem Fitnessstudio, die ihn vor einer gerade in Designerjeans nicht vorteilhaft wirkenden abgeflachten Gesäßmuskulatur bewahrten. Zudem verschonten ihn seine Gene vor dem bei fortgeschrittenen Männern so weit verbreiteten Haarausfall. Am meisten aber half ihm die zeitlose Fleischigkeit seines Gesichts. Die reduzierte Faltenbildung auf der Stirn und um den Mund herum, die optisch vorteilhaft glatten Wangen, straff von gesunder Haut überspannt. Vor allem anderen aber die plakativ vollen Lippen, die ihm ungezählte Flirts und Beischläferinnen als Kussmund ausgelegt hatten, gaben ihm nach wie vor etwas Jungenhaftes, das schon immer seine Wirkung getan hatte und auch noch tat. Bei wem genau, heute und hier oder bei einem bevorstehenden Anlass wie dem Ehemaligentreffen, das war allerdings zu einer Frage geworden, die ihn zunehmend beschäftigte. Junge Frauen, die unverändert seinem Geschmack am meisten entsprachen, ließen sich jetzt nicht mehr so einfach für ihn interessieren wie früher Gleichaltrige oder um nur wenige Jahre Jüngere. Dazu hatte er mit den mit ihm älter gewordenen Frauen ein nur zu ernstes Problem, das ihm auch Viagra nicht zu lösen vermochte. Diese Frauen rochen ihm schlicht zu alt, weil ihnen seinem Empfinden nach der magische Duft ihrer Weiblichkeit abhandengekommen war. Seit der Menopause? Doch diesen Duft brauchte es bei ihm, so seine von Erfahrung gestützte Überzeugung, dass er sich so fühlen konnte, wie es für sein erektil einwandfreies Funktionieren erforderlich war.

    Dr. Manfred B. Osthain verstand sich als der Schirmherr des geplanten ersten W.H.Y- Ehemaligentreffens. Schließlich war es seine Sekretärin gewesen, die ihn um sein Okay für ihre Initiative gebeten und ihn so als weiterhin übergeordnete Instanz zwecks Hilfe, Rat und Orientierung aber auch Autorisierung gebend bestätigt hatte. Darüber hinaus dürfte er von seiner Position im damaligen W.H.Y-Management her der wohl ranghöchste unter denjenigen sein, die ihr Kommen zugesagt hatten. Trotz alledem bereitete ihm der Gedanke an das Zusammentreffen mit ihm vormals disziplinarisch Untergeordneten auf jetzt möglicherweise Augenhöhe ein emotionales Unbehagen, das er sich selbst so nicht zugetraut hatte. Fest stand für ihn schon jetzt: Er würde mit der Faust an dem ihm verbliebenen Arm, der in seiner Motorik die Vitalität des anderen verlorenen Armes zusätzlich in sich trug, unter jovialer Begleitrhetorik auf die Tischplatte, an deren Kopf er sich mit dem Anspruch des Ranghöchsten gezielt platziert haben würde, aufschlagen und die alten Zeiten hoch leben lassen. Was er dann sehen würde, war, ob sein selbst erhobener Anspruch auf die Position des Schirmherrn überhaupt irgendjemanden interessieren würde. Ob also von seiner damaligen Position aus, als er innerhalb der Strukturen von W.H.Y einen entsprechenden Vorrang besessen hatte, ein sozusagen Machttransfer auf eine sich nun unhierarchisch verstehende Gruppe von Menschen möglich sein würde, die ihn zum Teil noch nicht einmal persönlich, sondern, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen her kannten. Woran, und das wusste er nun wiederum ziemlich sicher, seine agenturweit wegen ihrer Dreiarmigkeit bekannte lustvolle Beziehung zu Sabine Segieth erheblichen Anteil hatte. Nachdem er dann mit sechzig, wie es für die Mitglieder des W.H.Y-Managements obligatorisch gewesen war, im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschieden worden war, hatte ihm nicht selten sein gewisses Maß an Bedeutung gefehlt, das ihm die große Werbeagentur mit ihrem weltweiten Renommee ausgeborgt hatte. Vielleicht böte das Ehemaligentreffen die Möglichkeit, ein quasi paralleles W.H.Y, wenn auch in Kleinformat, entstehen zu lassen, das ihm eine gewisse Parallelbedeutung zurückgab, mit der er sich vorstellen könnte bis in sein Grab hinab ausgestattet zu sein. Weshalb er seine Teilnahme an zukünftigen – möglichst jährlichen – Wiederholungen des Ehemaligentreffens schon jetzt als nur logisch und also auch zwangsläufig erachtete. Er würde mit Sabine Segieth darüber perspektivisch reden müssen.

    5

    Das Ehemaligentreffen (1)

    Zwar war es schon der 13. November geworden, aber erst 16 Uhr. Drei und eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn des W.H.Y-Ehemaligentreffens war sich Sabine Segieth noch nicht ganz sicher, was sie für den kurz bevorstehenden Anlass anziehen würde. Sicher war sie sich jedoch, dass alles perfekt vorbereitet war. Die für Veranstaltungen zuständige Abteilung des Stilton-Hotels hatte die Reservierung von 28 Plätzen in der FancyBar sogar schriftlich bestätigt, ihr dafür aber die Nummer ihrer Kreditkarte abverlangt. Obwohl sie darin keinen Sinn sah und nur ungern so persönliche geldrelevante Informationen über sich preisgab, ging sie das von ihr als ein solches empfundene Risiko ein. Um sich dafür zu entschädigen, gab sie sich besonders anspruchsvoll hinsichtlich der Rahmenbedingungen: Eine Ecke in der FancyBar sollte es sein, die relativ ungestört vom sonstigen Betrieb genutzt werden konnte. Die Tische hätten möglichst dicht aneinander zu stehen und müssten ausreichend Gelegenheit bieten, sich jemandem gegenüber setzen zu können – also nicht nur nebeneinander. Trotzdem sollten sich auch Grüppchen von drei, vier Teilnehmern bilden können. Und natürlich musste es einen Platz am Kopf der Tischreihe geben, von dem aus Dr. Manfred B. Osthain einarmig präsidieren konnte. Die Beleuchtung des reservierten Bereichs sollte hell aber nicht zu hell sein. Wäre ja möglich, dass jemand Fotos aus alten Zeiten mitbringen und zeigen würde. Und auf eine Beschallung mit Barmusik sollte möglichst ganz verzichtet werden. Wenn es nicht anders ginge, dann aber bitteschön nur sehr leise. Nüsse und andere Knabbereien könnten auf den Tischen stehen. Den Begrüßungsdrink, einen Prosecco aus 0,1 cl-Gläsern, würde Dr. Osthain auf seine Kappe nehmen beziehungsweise Rechnung schreiben lassen (drei Flaschen vom Haus-Cuvee sollten genügen für 21 Gläser – denn 3 x 0,7 für 21 x 1 cl wären selbst laut Adam Riese wohl ganz okay. Außerdem trinkt nicht jeder Alkohol) Die restlichen Getränke gingen dann zu Lasten derjenigen, die sie bestellten. Falls jemand eine Kleinigkeit zu essen haben wollte, würde auch das machbar sein. Die Bar würde sich dann mit der Küche ins Benehmen setzen und das Gewünschte in Thermobehältern heranschaffen lassen.

    Sabine Segieth hatte getan, was ihr möglich war. Nun musste sie nur noch Entscheidungen hinsichtlich ihres Outfits treffen. Es sollte sie gut aussehen lassen, ohne overdressed zu wirken. Es sollte ihren doch recht komfortablen sozialen Status vermitteln, ohne Neid zu erwecken. Vor allem aber sollte es so beschaffen sein, dass sie sich wohlfühlte und auf natürliche Weise kollegial geben konnte. Deshalb entschied sie sich für ihre Bogner-Hose (Comfort Cut mit gepflegter gerader Silhouette) in dunklem Marineblau, für die weiße, dezent ausgeschnittene Leinenbluse von Kern und für einen beim Modeversender Elegance bestellten Strick-Blazer im Chanel Look, dessen charakteristisches großes Hahnentrittmuster anthrazit auf silbergrau für ihre Stilsicherheit sprach. Blieb noch die Schuhfrage, die sie sich mit silberglänzenden Sneakers beantwortete, sportlich zwar aber mit dem Eleganz verbürgenden Bogner-B versehen. Was die Accessoires anging, fiel ihre Wahl auf einen schwarzen Lackledergürtel von Gucci mit chromglänzender Schnalle und auf ihren Lieblingsmodeschmuck. Dabei handelte es sich um einen Halsreif aus Silberdraht, an dem ein Anhänger angebracht war, in dessen Zentrum ein großes grasgrünes Katzenauge in wellenförmiger silberner Fassung für optische Anziehungskraft sorgte. Das einmal bei einem Mallorcaurlaub mit ihrem Mann erworbene Stück ähnelte stark einem anderen, das ihr vor Zeiten von Dr. Osthain geschenkt worden war – sie aber irgendwann verloren hatte. Ob dahintersteckend ihr Mann sogar selbst es gewesen war, der für ein vorsätzliches Verschwindenlassen des sie betrügerisch schmückenden Liebespfands ganz insgeheim verantwortlich zeichnete, das hatte sie nie wirklich aufklären können.

    Dr. Manfred B. Osthain machte grundsätzlich wenig Aufhebens von dem, womit er sich kleidete. Auch der Anlass „Ehemaligentreffen" änderte daran nichts. Da er sich ohnehin jovial geben wollte, was er genauso im Gespräch über den Gartenzaun oder auf dem Wochenmarkt beim Einkauf von Knoblauchzwiebeln so hielt, wollte er das anziehen, was ihm gemütlich war. Mit der dunkelgrünen Cordhose, am Bund reichlich bemessen, dem dunkelbraunen langärmeligen Poloshirt von Lacoste und dem beige, braun und olivgrün karierten Glencheck-Jackett inklusive der Lederflecken an beiden Ellbogen, würde er sich am wohlsten fühlen und dies die anderen auch spüren lassen. Als er sich – nach dem Überziehen des Jacketts, dessen linker Ärmel in die linke Jackettasche gesteckt und dort festgenäht worden war, und nach dem Überwerfen dann des Übergangsmantels aus beigem Popeline über die rechte Schulter – kurz von seiner Frau verabschieden wollte, wandte diese sich routiniert aus seiner aufgesetzten Gutmütigkeit heraus. Viel Spaß, wünschte sie ihm knapp, und grüße mir die Sabine. Damit war ihm von ihr alles gesagt worden, was er schon längst nicht mehr hören konnte, und der Erosionsprozess seiner ehelichen Jovialität um ein Stückchen weiter vorangetrieben. Dieser hatte längst schon das Stadium der Dünnhäutigkeit hinter sich gelassen und war in die Phase der Hornhautbildung übergegangen, die gegen ihn Verletzendes zu nutzen er inzwischen auch in seinem ganz allgemeinen Leben verstand.

    Am Stilton-Hotel fuhr er mit dem Taxi vor, denn sicherlich würde er in der Runde der Ehemaligen und Ehemaliginnen alkoholhaltige Getränke zu sich nehmen – über den von ihm zu spendierenden Begrüßungsprosecco hinaus. Das war er allein schon der von ihm verkörperten Herablassungsfähigkeit schuldig. Den Weg zur FancyBar fand er aus seiner noch lebhaften Erinnerung an die ehemaligen W.H.Y-Zeiten heraus mit ihren zahlreichen dort zur Pflege von Kundenbeziehungen genommenen Drinks. Durch die jetzt pompös in Marmor und Messing gehaltene Empfangshalle hindurch folgte er der breitesten Bahn aus rotem Velourteppich zur Treppe, die runter in das in diesem Fall untere Mezzanine mit der Bar führte und dann weiter treppab zu den Toiletten. Doch auf etwa halber Höhe hinab ließ schon ein glänzendes Messingschild mit der leicht verschnörkelten Aufschrift FancyBar keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Ex-Vorgesetzte bis dahin alles richtig gemacht hatte. Mit einer exakt einkalkulierten viertelstündigen Verspätung trat er dann in das Halbdunkel der Bar ein und sah bereits auf den ersten Blick das ihm nostalgisch vertraute Gesicht von Sabine Segieth, die ihm längst freudig erwartungsvoll entgegenblickte. Ihr wie eh und je blondes Haar verlieh dem Rund ihres über blauen Augen gelegenen Vorderkopfes eine Aura von nahezu ikonenhafter Strahlkraft. Mochte aber auch sein, dass er sie nach der selbst für ihn schmerzhaften Trennung damals, mit der er seine Ehe gerettet hatte, und nach der jahrelangen Zeit des Schweigens zwischen ihnen, während der auch ihre Verwundungen von der Zeit vernarbt worden waren, dass er sie also ganz spontan wie damals schon erneut idealisieren, wenn nicht sogar verklären konnte. Was wäre gewesen, wenn er sein Leben mit dem ihren…? Da er jedoch bereits an ihrem Tisch angekommen war und sie sich mit Bussis rechts- und linkswangig begrüßten, stellte er weitere Überlegungen zu diesem in ihm immer wieder aufkommenden Thema erst einmal hintan. Schön, dich zu sehen. Gut schaust du aus. Wartest du schon lange? Komm her, setz dich. Den Platz hab ich für dich reserviert. Auch du siehst gut aus. Dr. Manfred B. Osthain setzte sich links von Sabine Segieth an den Kopf der Tischreihe, von wo aus er auch die anderen bereits eingetroffenen Teilnehmer am W.H.Y-Ehemaligentreffen zur Kenntnis nahm. Jetzt erst bemerkte er, dass sein übergroßes Interesse an Sabine Segieth eine Vernachlässigung, wenn nicht gar Herabwürdigung der anderen mit sich gebracht hatte. Wie elektrisiert hieb er mit der ihm verbliebenen rechten Faust auf die Tischplatte, stand auf und lachte tiefkehlig in seine eigenen Sätze hinein:

    Verdammt noch mal, Osthain, da hast du dich wieder ins Fettnäpfchen gesetzt. Sitzt man da? Oder steht man da drin? Also ich bin der Osthain, W.H.Y-Finanzchef von anno dazumal. Für alle, die mich nicht kennen oder erkennen. Ach, da ist ja auch der Herr Rosa! Uschi Gärtner, ganz die Alte. Und Meister John, Mann, sind Sie gewachsen – in die Breite. Ich klopfe mal auf den Tisch für alle anderen. Freue mich sehr, euch alle zu sehen. Wir reden dann noch!

    Damit kehrte er an den Kopf der Tischreihe und an Sabine Segieths Seite zurück, immer noch verlegen lachend aber schon mit dem Anflug beginnender Jovialität, seiner sich selbst auferlegten Aufgabe für diesen Abend.

    Tischgesellschaften und –gespräche

    Tatsächlich hatten sich bereits fast alle eingefunden, die ihe Teilnahme zugesagt hatten. Zusammen saß man in Grüppchen, wie sie auch früher in ihren Abteilungen und Funktionen bei W.H.Y zusammengesessen oder zusammengearbeitet hatten. Die Kontakter mit den Kontaktern. Die vom Traffic mit denen vom Traffic. Die Kreativen mit den Kreativen. Und Dr. Manfred B. Osthain mit Sabine Segieth, verheiratete Nord. Durch eine besondere Lautstärke hoben sich zunächst die Kollegen vom Traffic ab. Das waren diejenigen in der Agentur, die damals die Pappen und Papiere, Mappen und Dokumente zwischen Kontakt und Kreation, Typographie und Produktion hin und her getragen hatten. Heute würden die vier – Amrhein, Müller-Offenbach, Leimke und Klohoker – mit größter Wahrscheinlichkeit arbeitslos sein, weil ihnen Mac- und PC-Netzwerke die Lauferei komplett abgenommen hätten. Doch war das alles beim Wiedersehen nach so vielen Jahren kein Thema. Vielmehr ging es um: Weißt du noch? (Weißt du noch, wie der Jochen in der Fressgass in vier Kneipen gleichzeitig sein Bier getrunken hat? War ein Glas halb leer, wechselte er unter irgendeinem Vorwand zur nächsten Theke im nächsten Lokal. War ein Glas ganz leer, ließ er frisch zapfen, ein gutes Pils braucht ja ein paar Minuten. Inzwischen trank er im nächsten Lokal weiter, dann im nächsten und wieder im nächsten. Jeder sollte denken, er hätte nur ein, zwei Bier, dabei schluckte er acht, zwölf und mehr. Und die ganze Kneipentour nur, weil er dachte, so seinen Suff geheimhalten zu können. Na ja, der ist jetzt auch schon ein paar Jahre tot.)

    Von den Kontaktern hatten sechs zugesagt, waren aber erst fünf erschienen. Die ließen erst einmal ihre Erinnerungen an die Betriebsausflüge hochleben. Wer da mit welcher in den Büschen verschwunden war. Und wie der Hennich aus dem Pferdestall von der Ronneburg rauskam, nachdem er seinen aus der Sybille Schwuch rausgezogen hatte und aus seinem Hosenstall immer

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