"Was halten Sie von den Juden?": Umfragen über Judentum und Antisemitismus 1885-1932
By Thomas Gräfe
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Thomas Gräfe
Geboren 1976. 1997- 2003 Studium von Geschichte, Englisch und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld und der Sussex University Brighton. 2003 Staatsexamen, 2001- 04 studentische und wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Bielefeld, seit 2005 Tätigkeit im öffentl. Dienst und als freier Autor. Von Thomas Gräfe sind erschienen: Der Bismarck- Mythos in der politischen Kultur des Wilhelminischen Kaiserreichs (2002, Neuaufl. 2014); Antisemitismus in Gesellschaft und Karikatur des Kaiserreichs. Glöß' Politische Bilderbogen 1892- 1901 (2005); Antisemitismus in Deutschland 1815- 1918. Rezensionen - Forschungsüberblick - Bibliographie (2007, 2.Aufl. 2010); Artikel "Max Bewer" und "Heinrich Pudor", in: Sächsische Biografie (2008); Zwischen katholischem und völkischem Antisemitismus. Die Bücher, Broschüren und Bilderbogen des Schriftstellers Max Bewer (1861- 1921), in: IASL 34, H.2 (2009), S. 121-156; Modernisierung als "Entgermanisierung"? Walther Rathenau und der völkische Schriftsteller Hermann Burte, in: ZGO 163 (2015), S. 245-275.
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Book preview
"Was halten Sie von den Juden?" - Thomas Gräfe
Inhaltsverzeichnis
Die Sprache der Tiere – oder von der Kunst, aneinander vorbei zu reden
Soziologische Grundalgen: Assimilation und ethnischer Pluralismus
Die Intellektuellenbefragungen als Quellengattung
Intellektuelle im Meinungsstreit über Judentum und Antisemitismus
Umfragen im Kaiserreich
Die Intellektuellenbefragungen Isidor Singers (1885) und Carl Klopfers (1891)
Die Intellektuellenbefragung von Hermann Bahr 1893-94
Die Intellektuellenbefragung von Julius Moses 1906-07
Die Intellektuellenbefragung Arthur Landsbergers und Werner Sombarts von 1912
Umfragen in der Weimarer Republik
Die Intellektuellenbefragung Bruno Willes von 1920
Die Intellektuellenbefragungen Ernst Johannsens und Hermann Bahrs von 1932
Fazit: Von der integrationalistischen Assimilation zum ethnischen Pluralismus
Epilog: Tiere können nicht sprechen
Glossar
Danksagung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Schema Assimilation und ethnischer Pluralismus
Berufsstruktur der Umfrageteilnehmer (%)
Religionsangehörigkeit der Umfrageteilnehmer (%)
Bevorzugte „Lösungen der Judenfrage" 1885-94 und 1907-12
Bevorzugte „Lösungen der Judenfrage" 1932
„Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass man da mit Vernunft überhaupt etwas machen kann. (…) Was ich Ihnen sagen könnte, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit."
Theodor Mommsen (1893)
„Es gab damals (um 1912) unter den einfachen Leuten, d.h. in der mittleren Bürgerschaft, der Arbeiterschaft und der Bauernschaft, keinen Antisemitismus. Der kam von oben, vom Studienrat aufwärts."
Wolfgang Meyer-Michael (undatiert, nach 1945)
„Die Bewegung, die man aktuell unter dem Namen des Nationalsozialismus zusammenfasst und die eine so gewaltige Werbekraft bewiesen hat, vermischt sich mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsrohheit, die über die Welt geht. (…) Entlaufen scheint die Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch-idealistischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts, gegen dessen Moralität (…) unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt."
Thomas Mann (1930)
„Unter den Einsichten von Sigmund Freud (…) scheint mir eine der tiefsten die, dass die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt."
Theodor W. Adorno (1966)
Einleitung
Die Sprache der Tiere – oder von der Kunst, aneinander vorbei zu reden
Der Historiker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen warnte in einem Interview von 1893 vor einer Überschätzung der Vernunft bei der Auseinandersetzung mit Vorurteilen. Das war eine unbequeme Botschaft, die am neuhumanistischen Selbstverständnis rüttelte, Bildung könne einer überlegenen Ethik zum Durchbruch verhelfen. Auch heute stößt sie auf taube Ohren. Im Angesicht des aktuellen Wiederauflebens völkischen Gedankenguts¹, das durch die Alternative für Deutschland erstmals seit 1945 eine parteipolitische Massenbasis gefunden hat, wird in der Öffentlichkeit reflexartig nach Aufklärung und politischer Bildung gerufen. Deren Wirkung auf vorurteilsbehaftete Menschen ist allerdings extrem gering, da es ihnen nie um angemessene Sachaussagen geht, sondern ausschließlich um die Selbstaufwertung durch die Abwertung anderer. Dieser sozialpsychologische Mechanismus erlaubt es, Deprivationserfahrungen projektiv auszugleichen. Er lässt sich durch gesellschaftliche Ächtung eindämmen, nicht aber durch eine inhaltliche Auseinandersetzung. Jede widerlegende „Aufklärung spielt den Vorurteilsbehafteten ungewollt in die Hände, da sie sich ihren Themensetzungen unterwirft und für Publizität sorgt.² Politik und Medien haben diese Kommunikationssituation, die die Völkischen automatisch zu Gewinnern macht, nicht ansatzweise durchschaut. Sie unterliegen nach wie vor dem tragischen Missverständnis, Vorurteile würden auf einem Mangel an Kenntnis und unzulässigen Verallgemeinerungen beruhen. Da Vorurteilsbehaftete jedoch die Regeln eines aufgeklärten Diskurses wissentlich und willentlich missachten, folgt auf den Nachweis von Irrtümern nie eine Bekehrung, so dass die Diskussionsparteien notwendigerweise aneinander vorbeireden. Nicht erst seit dem Internetzeitalter beziehen vorurteilsbehaftete Menschen ihr Weltwissen aus abgeschotteten Resonanzkammern. Sie erfinden hermetisch geschlossene Weltanschauungen und wenden diese auf die Fakten an. Und wenn dies nicht erfolgreich ist, erfinden sie auch die Fakten selbst. Aufklärung und politische Bildung mögen in der Prävention Erfolge erzielen. Doch der Vorurteilsbehaftete hat sich bereits für den Hass entschieden. Die Diskussion mit ihm erinnert daher an den Versuch, „einem Tier das Sprechen beizubringen
³, wie es der polnische Philosoph Leszek Kołakowski formulierte.
Zudem impliziert die Forderung nach Aufklärung und politischer Bildung die falsche Annahme, nur ungebildete Menschen seien für Vorurteile anfällig. Völkisches Gedankengut auf eine affektgesteuerte „Zornpolitik"⁴ zurückzuführen, überschätzt die Rolle von Emotionen und scheut die kritische Auseinandersetzung mit brisanten sozial- und ideengeschichtlichen Fakten. Weltanschauungen, die Menschen gegeneinander aufhetzen, sind keine Hervorbringungen des Straßenpöbels, sondern Kopfgeburten der bildungsbürgerlichen Studierstube. Gerade der Antisemitismus, dessen Ausbreitung häufig einseitig mit dem Sozialneid der „zu kurz gekommenen erklärt wird⁵, fand im 19. und frühen 20. Jahrhundert seine fanatischsten Anhänger nicht in den Unterschichten, sondern in den gebildeten Eliten.⁶ Doch selbst dort etablierte er sich nicht im Konsens, sondern im Konflikt. Auch die zivilgesellschaftliche Gegenwehr formierte sich im Bildungsbürgertum. In den Debatten über die so genannte „Judenfrage
verlief die Frontlinie nicht zwischen Christen und Juden, sondern zwischen Befürwortern und Gegnern des Antisemitismus.⁷ Noch komplexer wird das Bild, wenn man einen Blick auf die Lösungsvorschläge wirft, wie das Zusammenleben von Mehrheit und Minderheit zu organisieren sei. Denn sie deckten sich nicht zwangsläufig mit den beiden genannten Lagern.
Obwohl die Grenzen der Aufklärung schon damals mehr als deutlich zu Tage traten, waren die Gebildeten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik immerhin noch in der Lage, kontroverse Standpunkte auf gemeinsamen medialen Plattformen auszutauschen. Dies darf man sich allerdings nicht als einen voraussetzungslosen und herrschaftsfreien Diskurs vorstellen. Vielmehr ging es um einen Wettbewerb um Lesergunst und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der einen oder anderen Richtung. Wer sich heute über gesellschaftspolitische Stimmungslagen informieren will, wirft einen Blick auf Meinungsumfragen. Wenig bekannt ist, dass Meinungsumfragen schon Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, wenn auch nicht im Sinne einer quantifizierenden Sozialforschung. Dazu fehlte es am methodischen Werkzeug und im 19. Jahrhundert wohl auch am Interesse, etwas über die Einstellungen bildungsferner Schichten zu erfahren. Daher ist die sozialgeschichtlich korrekte Einordnung der Umfragen wichtig. Sie erlauben Aussagen über das Bildungsbürgertum, spiegeln aber nicht die Mentalität der breiten Masse. Sie dürfte dem Thema „Judenfrage", abgesehen von zeitlich begrenzten Phasen antisemitischer Hochkonjunktur, eine viel geringere Bedeutung beigemessen haben als die Gebildeten.⁸ Damit lagen die Ungebildeten viel näher an der Wirklichkeit. Um 1900 machten die Juden ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus, und in 95 Prozent aller Orte des Reiches gab es keine jüdische Gemeinde.⁹ Zudem waren die Juden keineswegs die einzige ethnische Minderheit auf deutschem Boden. In den preußischen Ostprovinzen lebten 3,5 Millionen Polen, deren Germanisierung kläglich scheiterte.¹⁰ Dennoch diskutierte man nur selten über eine „Polenfrage. Die Intensität der Debatten um die „Judenfrage
lässt sich also nicht aus dem Verhalten der Juden erklären, sondern allein aus der politischen und weltanschaulichen Überfrachtung dieses Themas.
Als typische Umfrageform etablierte