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Die Sichtbarkeit (in) der Literatur
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Die Sichtbarkeit (in) der Literatur

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Das Heft fokussiert einerseits auf die Frage: Wo wird Literatur in Schule und Bildung(spolitik) sichtbar – für Lehrende wie Lernende, aber auch politische VerantwortungsträgerInnen? Nicht nur DeutschlehrerInnen sind mit literarischen Texten beschäftigt, sondern auch Lehrende anderer Fächer – von Physik bis Bewegung/Sport: weil sie Literatur in ihren Unterricht einbauen möchten oder weil bestimmte didaktische Maßnahmen fächerübergreifend eingeführt werden – etwa "Rotierendes Lesen" an Neuen Mittelschulen. Damit verbunden bleibt die ästhetische Frage nach der Sichtbarkeit in der Literatur: Wie beschreiben und inszenieren literarische Texte visuelle Wahrnehmungen? Wie realisieren sie ihrerseits visuelle Strukturen? Wenn in literarischen Texten Bilder zur Sprache kommen, wenn Literatur bildliche Sprache verwendet, kommt das Bild wortwörtlich zur Sprache, wird sichtbar in ihr und durch sie. Dies macht den zweiten Aspekt des Heftes aus.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateOct 15, 2018
ISBN9783706559294
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    Die Sichtbarkeit (in) der Literatur - StudienVerlag

    22.8.2018].

    Karl-Josef Pazzini

    Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Abgrenzbarkeit und Zurechenbarkeit

    Über Kompetenzen und deren Verlust

    Kompetenz ließe sich zurückführen auf competo: »etwas gemeinsam (zugleich) erstreben suchen«. Stattdessen wird das einzelne Individuum als Zentrum und Adressat, als Ausgangspunkt von Machbarkeit, Zurechenbarkeit, Kontrollierbarkeit gedacht, kaum in seiner Singularität. Es geht um die Perfektionierung eines Individualismus, die einer positiv bewerteten Individualisierung zu entsprechen scheint. Individualisierung ohne das gesellige Beisammensein macht einsam, generiert Optimierungsdruck und Schuldgefühle, macht ausbeutbar und schafft Zustände, die oft nur als Symptome artikulierbar werden: »Unbeschulbarkeit«, Depression (eine Staubsaugerdiagnose für Trauer, Erschöpfung, Überforderung, geronnene Wut, Nicht-Anerkennung ...), ADHS, Essstörungen, Drogenabhängigkeit u. a. m. Kompetenzdenken ist ein Rückfall in ältere Philosophie: Eigenschaftsdenken steht im Gegensatz zur Performativiät. Kompetenzdenken hat eine pornographische Struktur: Es ist zeitnah zielführend ausgelegt, handhabbar, ohne Geheimnisse, alles sichtbar, notfalls messbar, der Erfolg liegt auf der Hand. Das mit dem Kompetenzkonzept aufgegriffene Problem ließe sich mit einem sozialen, politischen, ökonomischen Übertragungskonzept aus der Psychoanalyse differenzierter entwickeln.

    Chancen

    Die Rede von Kompetenz in der Pädagogik und Didaktik hätte so produktiv sein können. Könnte man doch das Wort auch zurückführen auf competo: »etwas gemeinsam (zugleich) erstreben, – zu erreichen suchen«, schon in der ersten Bedeutung heißt es »zusammentreffen« oder »der Zeit nach zusammentreffen« oder »der physischen Kraft nach ausreichen, seiner mächtig sein« (Georges 1998, Sp. 1347)

    Aus Letzterem hätte auch der Sache nach ein Bezug hergestellt werden können, zu den witzig listigen Überlegungen von Odo Marquard unter dem Titel der Inkompetenzkompensationskompetenz (Marquard 1981, S. 23–38), die er als Aufgabe der Philosophie zuschreibt, nach dem sie so viele Zuständigkeiten und Macht, zumindest Diskursmacht verloren hatte. Ich habe keine Einlassung gefunden in den ministeriellen Einführungen des Kompetenzkonzeptes, die sich mit der gesellschaftlichen Potenz der Zuschreibung von Kompetenzen befasst hätte, der Dimension der Macht, zumindest von zugestandenem Einfluss. Marquard schneidet auch die ethische Frage an, die – hier auf die Philosophie und ihre Kompetenz bezogen – darin liegt, dass Kompetenz mit Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft zu tun habe und dass sich diese drei in Deckung bringen ließen. Es habe schon immer Philosophie gegeben, »die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit war« (ebd., S. 25).

    Vor der Kompetenz

    Auch vor dem Reden und Schreiben und Implementieren von Kompetenzen waren weder die Welt noch die Schule in Ordnung. Mit der Rede von Kompetenzen wird etwas zugespitzt, was in der Schule schon war, und etwas in die Schule getragen, das auch anderswo in der Gesellschaft sich entwickelt.

    Auch im alten Schulzeugnis und den Noten wurden Einschätzungen von Fähigkeiten und Qualitäten festgelegt, aber sie waren eben als Zeugnis gedacht. Ein Zeugnis beruht ganz wesentlich auf einer Rede von etwas, das andere nicht gesehen haben.

    Individuum

    Der Einzelne, das Individuum, wird als Zentrum und Adressat gedacht, als Ausgangspunkt von Machbarkeit, dann auch Zurechenbarkeit, notwendiger Kontrollierbarkeit. Es wird dabei ideologisch ermächtigt, also von der Idee her, weil ein anderer Träger als Macht (empowerment) in den konventionellen Systemen nicht gedacht werden kann und, wenn man sie denken würde, als Subjekt der Prozess des Kapitals zum Vorschein käme. Der ist vom Einzelnen aber nur wenig beherrschbar. Er ist außerdem nicht direkt, sondern wie das Unbewusste nur an seinen Bildungen erkennbar. Aber auch der Kapitalprozess braucht Träger, eben Subjekte, die den Prozess unterfüttern und damit ihrer ursprünglichen Definition gerecht werden, Darunterliegende zu sein. Zusätzlich verlangt ist etwas, eine Ursache, ein Zurechnungsfähiger, der sichtbar, fotografierbar, leistungsmäßig messbar wird.

    Zeugnis

    Davor gab es an Stelle der Messbarkeit und direkten Sichtbarkeit Zeugnisse. Dies wird bis zur Unkenntlich verschüttet. Ist aber dennoch weiter in Kraft, weil die objektive Mess- und Vergleichbarkeit illusionär bleibt.

    Jemand gab Zeugnis von dem, was der andere zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort hervorgebracht hat, und tat dies mit seiner Urteilskraft, die letztlich, wie wir seit Kants Kritik der Urteilskraft wissen, immer ein Moment von Mut und Zumutung enthält und unter Einsatz des individuellen Subjekts in Relation zur Gesellschaft geschieht.1 Es bekam dazu einen symbolischen Platz als Schutz und mit Ermächtigung. Mit dem Beamtenstatus des Lehrers wurde so auch bedacht, dass er eine hoheitliche Aufgabe und Erlaubnis hat, in das Leben anderer einzugreifen, so wie z. B. Richter, Polizei und Feuerwehr.2

    Urteilskraft wurde von einer Unterstellung im Vorschuss gestärkt, dass jemand, der einen bestimmten Platz einnehmen durfte, die Kraft hatte, je Singuläres mit allgemeinen Kategorien zu verbinden.

    Diese Kraft hilft, die Lücke zwischen etwas Abwesendem, Vergangenem und Unsichtbarem zu überbrücken. Diese Kraft liegt letztlich im Anteil am Leben und an der Glaubwürdigkeit dessen, der Zeugnis gibt. Fehlende Sichtbarkeit wird durch Leben, Vertrauen, einen Sprung, einen Einsatz, Liebe und Glaube überbrückt.

    Praxis

    In der Praxis geht es um noch nicht normalisierte Serien von Entscheidungen und Akten, spannende Anwendung mit ungewissem Ausgang. Sie ist nicht mehr durch eine unhintergehbare Autorität gegründet – sei es Gott oder die Natur. – Ich komme darauf zurück. – Genau diese Schwierigkeit versuchen sich Fundamentalismen aller Art zu ersparen. Praxis wird dann zum Fetisch, zu einem sinnvollen, zweckgerichteten Tun modifiziert. Sie wird zum Kriterium des Denkens, der Theorie. Praxis wird vom Freiheitsraum zu einem Kriterium für Brauchbarkeit und zum Aktionsfeld ausgebildeter Kompetenzen. Andersherum werden dann Theorie und Forschung programmatisch, sie leiten an und müssen dazu tauglich sein. Es geht um die Nachvollziehbarkeit und Maximierung von Leistung und Erfolg. Praxis wandelt sich unter der Hand zum Garanten dafür, dass etwas sichtbar ist, ein Erfolg, etwas dabei hinten rauskommt.

    Ein anderer Entwurf von Praxis droht dabei zu verschwinden, eine Konzeption, die für die Künste entscheidend ist:

    Praxis ist nach Aristoteles’ Nikomachischer Ethik (1140b6; Aristoteles 1969, S. 160 f.) nicht wie die Poiesis in ein bestimmtes Gefüge von Zwecken eingebunden, sondern ziellos. Genau hier haben seit Mitte oder Ende des 19. Jahrhunderts Künste und Bildungsprozesse ihr Spielfeld. So bedarf Praxis der Urteilsfindung im nicht schon verallgemeinerbaren Einzelfall. Das ist die Problemstellung von Kants Kritik der Urteilskraft (man könnte sagen: seiner ästhetischen Theorie, einer transzendentalen Ästhetik). Im § 9 (B 30) schildert er die Problemlage so: »Daß, seinen Gemütszustand, selbst auch nur in Ansehung der Erkenntnisvermögen, mitteilen zu können, eine Lust bei sich führe: könnte man aus dem natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit (empirisch und psychologisch) leichtlich dartun.« (Kant 1971b, S. 297) Es ist nicht unwichtig, dass hier Geselligkeit erwähnt wird.

    Zur Urteilsbildung gehört ferner Lust. Sie verbürgt in all der Unsicherheit Existenz, wiederum ausgerichtet auf Geselligkeit.

    Das ist aber zu unserer Absicht nicht genug. Die Lust, die wir fühlen, muten wir jedem andern im Geschmacksurteile als notwendig zu, gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes, die an ihm nach Begriffen bestimmt ist, anzusehen wäre, wenn wir etwas schön nennen; da doch Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist. Die Erörterung dieser Frage aber müssen wir uns bis zur Beantwortung derjenigen: ob und wie ästhetische Urteile a priori möglich sind, vorbehalten. (Kant 1971b, S. 297)

    Da die an den Erfahrungen beteiligten Sinne täuschbar sind und Affekte ablenken, war das für Kants Architektur der Philosophie wichtig, lässt sich aber ontogenetisch betrachtet nicht halten. Dass Urteile a priori in Bezug auf die individuelle Entwicklung und damit auch für den Unterricht nicht in Anschlag gebracht werden konnten, war Herbarts (1982) Problem.

    Ohne im Einzelnen den Argumentationsgang weiter zu verfolgen, springe ich zum Schluss des Paragraphen (B 32), wo Kant einen weiteren geselligen Begriff einführt: Stimmung. Sie wird zu einem Träger des sozialen Bandes mit Rekurs auf die singuläre Urteilsfindung. Letztere ist aber bis hierhin auch in der Argumentationskette Kants letztlich nur durch die Unterstellung abgesichert, dass ein Anderer nachvollziehen könne, was das individuelle Subjekt als sein Lustempfinden artikuliert, und so zu sagen seine Stimmigkeit als Resultat von Stimmung akzeptiert:

    Eine Vorstellung, die, als einzeln und ohne Vergleichung mit andern, dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnisvermögen in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern, und daher auch für jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist (für jeden Menschen), gültig halten. (Kant 1971b, S. 298).

    Stimmung lässt ein Können und eine Macht entstehen, die jenseits der Bestimmung von Kompetenzen als individueller Eigenschaften liegt, aber notwendig für Bildung, Lehre und Lernen ist. Stimmung ist ein aktiv passiver Prozess mit unbewussten Komponenten.

    Qualifikation versus Kompetenz

    Die Einführung von Kompetenz war als eine Kritik am Konzept von Qualifikation gedacht, weil der Qualität ganz wesentlich die performative Dimension fehle. Die ist nicht sichtbar genug und außerdem flüchtig. Dieser Kritik ist etwas abzugewinnen. Nun wusste schon Chomsky, dass Performanz in unvorhersehbarer Weise vielfältiger ist, als dies aus den erschlossenen Kompetenzen ableitbar wäre. Kompetenzen selbst, ohne Performanz, können genauso wenig gesehen werden wie Qualifikationen. Lässt man das die Individuen überschreitende Moment der Performanz aber beim Arbeiten mit Kompetenzen weg, dann ist man nicht weiter als bei den Qualifikationen, gedacht als Eigenschaften, die sich aus dem Anstreben von Lernzielen ergeben haben sollen. Angemerkt sei, dass es durchaus Qualifikationen gibt, die im darstellbaren Ergebnis an einer Norm ausgerichtet wurden, wie zum Beispiel in der Rechtschreibung, Grammatik, bei mathematischen Aufgabenstellungen. Diese Qualifikationen werden in Basisbereichen der jeweiligen Diskurse aus der Logik des Gegenstandes, so wie er für alle fiktional festgelegt ist, abgeleitet. Dahingegen wird bei der Kompetenz etwas beurteilt und zuvor messbar gemacht, das sich am Individuum selber findet. Es wird dabei nicht die Logik eines fiktionalen Diskurses, also eines sozialen Bandes, dessen zuständige Hüter Wissenschaftler, Künstler, Lehrer sind, mit der errungenen Hinwendung eines Schülers verglichen. Eine Kompetenz ist vielmehr ein Abstraktum, das sich im Schüler sedimentiert hat, im Durchgang durch Aufgabenstellungen, was durch eine erneute Aufgabenstellung (Test) zum Vorschein gebracht werden soll und dann gemessen wird. In diesem Verfahren verschwindet nicht nur die Widerständigkeit der Anstrengung der Darstellung Anderen zuliebe, sondern auch eines bestimmten Materials, das durchzuarbeiten wäre, damit wird nicht weiter die Vermutung und Zumutung einer älteren Generation bedacht, dass es wertvoll sein könnte, sich durch etwas Bestimmtes hindurchzuarbeiten, durch einen Stoff. Etwas Transgenerationelles geht verloren. Es verschwindet auch die Behauptung des Lehrers: Ich halte diesen Inhalt für unverzichtbar für die Kultur(en) und ich möchte, nicht unbedingt als dieses singuläre Individuum, aber im Prinzip, dass ihr, liebe Schüler, das zur Kenntnis nehmt, zu eurer Kenntnis, mir zuliebe, der sich damit intensiv befasst hat! – Zu solchen Behauptungen und der Möglichkeit, sie durchzuhalten, muss ja ein Lehrer erst einmal kommen. Unproblematisch ist das nicht. Aber die berührungslose Sichtbarkeit der messbaren Kompetenz braucht natürlich von anderswoher Aufladung als Motivation: Leistungsbereitschaft an sich wird gelobt, bulimisches Lernen gefördert, Punktzahlen zu Entscheidungsträgern. Neben der Widerständigkeit und Fragwürdigkeit eines Inhaltes, sei es die romantische Malerei, die street art, die Literatur nach 1945, sind auch Lehrer nicht mehr angreifbar als solche mit bestimmten, persönlich in Auseinandersetzung mit einem Kanon entwickelten

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