Philosophie in der Unternehmensberatung: Band 1: Methodisches Denken für die Praxis
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Henry Ford
Nachhaltige und tragfähige Entscheidungen erfordern rationales Denken und eine vernünftige Beurteilung der Situation. Dies gilt umso mehr in Zeiten, die gleichermaßen durch Schnelligkeit und hohe Komplexität gekennzeichnet sind.
Die Philosophie entstand vor 2.500 Jahren als methodische Lehre des rationalen Denkens. Diese Entwicklung war kein Zufall, sondern war die Folge bestimmter, aufeinander aufbauender Schritte, vom Staunen und der Kritik bis hin zur Abstraktion und logischen Analyse.
Diese insgesamt sieben Schritte markieren den Weg zur Rationalität. Sie lassen sich aus der Entwicklungsgeschichte der Philosophie herausarbeiten und so nutzbar machen.
"Philosophie in der Unternehmensberatung: Methodisches Denken für die Praxis" beschreibt die Entstehungsgeschichte der Philosophie und zeigt auf, wie dieser Anfang des rationalen Denkens heute in Unternehmen und Organisationen eingesetzt werden kann: Schritt für Schritt zu Rationalität und Vernunft!
Michael Rasche
Michael Rasche, PD Dr. phil. habil., Dr. theol., Unternehmensberater und Philosoph, 2015/16 Professor (i. V.) für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt, 2001-2016 Katholischer Priester.
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Book preview
Philosophie in der Unternehmensberatung - Michael Rasche
Der Autor:
Michael Rasche, PD Dr. phil. habil., Dr. theol., Unternehmensberater und Philosoph, 2015/16 Professor (i. V.) für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt, 2001-2016 Katholischer Priester.
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
WAS IST PHILOSOPHIE?
WARUM PHILOSOPHIE?
PHILOSOPHIE ALS FRAGEN
PHILOSOPHIE ALS METHODE
EMOTIONALITÄT UND RATIONALITÄT
DER DENKENDE MENSCH
METHODISCHES DENKEN
1. DAS STAUNEN
2. DIE KRITIK
3. DIE BEGRÜNDUNG
4. DENKEN IN GEGENSÄTZEN
5. ABSTRAKTION
6. ETHIK
7. LOGIK
ZUSAMMENFASSUNG
EINFACHHEIT UND KOMPLEXITÄT
ANWENDUNGSFELDER
UNTERNEHMENSKULTUR
UNTERNEHMENSPHILOSOPHIE
VERÄNDERUNGSPROZESSE
UNTERNEHMENSETHIK
KOMMUNIKATION
PERSÖNLICHKEIT
SCHLUSSWORT
Einleitung
„Habe nun, ach! Philosophie
Juristerei und Medizin
und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühen.
Da steh ich nun, ich armer Tor,
und bin so klug als wie zuvor."
Dieser Stoßseufzer aus dem ersten Teil von Goethes Faust hängt wie ein Damokles-Schwert über dem mittlerweile ergrauten Haupt der Philosophie: Ist die Philosophie nicht letztlich eine brotlose Kunst? Eine Art denkerischer Versponnenheit, die nur um sich selbst kreist?
Dieses Buch eröffnet der Philosophie ein wichtiges Feld: das Feld der Unternehmens- und Organisationsberatung. Dies mag als ein Spagat erscheinen zwischen zwei Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören: Weltferne trifft auf Welt, blanke Theorie auf Praxis, abstraktes Denken auf pragmatisches Handeln. Vielleicht sind es gerade diese scheinbar unvereinbaren Gegensätze, die das Anliegen einer philosophischen Beratung so reizvoll machen.
Es geht der Philosophie um Denken. Um methodisches Denken. Um das rationale Hinterfragen. Mit diesen Fähigkeiten wird die Philosophie immer notwendiger für Unternehmen und Organisationen, die unter einem immer größeren Zeitdruck stehen. Entscheidungen müssen immer schneller getroffen werden in einer Welt, die immer komplexer wird. Eine komplexere Welt erfordert auch ein immer komplexeres Denken.
Philosophie lehrt Denken. Dies ist die ureigenste und wichtigste Aufgabe der Philosophie, und mit dieser Aufgabe kann sie eine bedeutende Rolle in der Beratung von Unternehmen und Organisationen spielen.
Was ist Denken und wie passiert es? Rationales und zielführendes Denken fällt nicht vom Himmel. Fiel es noch nie. Die Philosophie entstand vor 2.500 Jahren, indem sie Methoden des Denkens entwickelte. Die Philosophie ist nicht das Verkünden von weisen Sprüchen. Sie lehrt keinen genauen Inhalt, aber sie lehrt, mit Inhalten umzugehen: sie lehrt zu denken. Die Philosophie ist damals entstanden als der Versuch, die Welt und den Menschen rational zu durchdringen und aus dieser Analyse heraus Vorschläge zu entwickeln, wie der Mensch handeln soll. Die Philosophie entstand damals nicht zufällig, und die Methodik, welche die Philosophie damals entwickelt hat, entstand ebensowenig aus Zufall. Es waren einzelne, aufeinander aufbauende Schritte, deren Entwicklung damals ein paar Jahrhunderte gedauert haben, eine Evolution, die das hervorgebracht hat, was wir heute als „Logik, „Rationalität
oder „methodisches Denken" bezeichnen.
Die Methodik, die in diesem Buch angewendet wird, ist eigentlich recht simpel: wenn es so ist, dass das Denken der Philosophie in aufeinanderfolgenden Schritten entstanden ist, dann muss es doch möglich sein, diese einzelnen Schritte herauszuarbeiten und auf diese Weise eine Anleitung zu geben, wie methodisches Denken funktioniert und zum Leben erweckt werden kann. Wenn dieser Weg in dieser Reihenfolge damals zum methodischen Denken führte, muss dieser Weg auch heute zum methodischen Denken führen. Und gleichzeitig wird noch einmal klarer, was eigentlich methodisches Denken ist. Der Leser wird zu den Wurzeln unserer Rationalität zurückgeführt.
Die damaligen Schritte, die zur Entwicklung des methodischen Denkens der Philosophie führten, werden in diesem Buch einzeln dargestellt und für die Beratung von Unter-nehmen und Organisationen, aber auch für die individuell-persönliche Beratung fruchtbar gemacht. Die Philosophie lehrt in ihrem Kern das methodische Denken und als solches soll sie in diesem Buch vorgestellt werden.
Die Leitung von Unternehmen und Organisationen, das Bewerten ethischer Fragestellungen, die Einleitung und Durchführung unternehmerischer Veränderungsprozesse, die Arbeit mit der Kultur eines Unternehmens, die Entwicklung einer Unternehmensphilosophie, die Kommunikation nach Innen und Außen: all das sind Dinge, die ein klares, methodisches Denken erfordern, um gute und nachhaltige Entscheidungen treffen zu können. Die Philosophie ist die Disziplin, die dieses Denken entwickelt hat und damit eine wichtige Grundlage der erfolgreichen Beratung von Unternehmen und Organisationen. Dieser Weg des methodischen Denkens ist durchaus ein steiniger Weg, aber ein Weg, den es sich lohnt, nachzugehen.
Was ist Philosophie?
Warum Philosophie?
„Unternehmensberatung kann vieles und alles bedeuten und ist zu einem sehr schwammigen Begriff geworden. Beratungsleistungen werden in allen möglichen und auch unmöglichen Varianten angeboten. Das ist durchaus positiv zu bewerten, weil es für eine große inhaltliche Breite steht; andererseits macht es aber auch erklärungsbedürftig, was man unter „Unternehmensberatung
eigentlich versteht und wo man seinen eigenen Schwerpunkt als Berater setzen will. Die klassische Unternehmensberatung basiert auf einer betriebswirtschaftlichen Analyse des Unternehmens oder einer Markt-situation und rät zu bestimmten strategischen Entscheidungen, die auf diesen Analysen aufbauen.
Neben diesen klassischen und „harten Unternehmensberatungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein inhaltlich breit gefächertes Feld etabliert, das grob gesprochen weniger die Zahlen des Unternehmens als vielmehr den Menschen im und um das Unternehmen ins Visier nimmt. Die humane oder soziale Komponente spielt in der Beratungspraxis eine immer größere Rolle, weil völlig zu Recht erkannt worden ist, dass ein Unternehmen nicht nur aus Zahlen besteht, sondern primär aus den Menschen, die für die Zahlen sorgen. Die Dienstleistungen dieser „weichen
Unternehmensberatung reichen vom Coaching und Training der Führungskräfte oder Mitarbeiter bis hin zu Sozialanalysen der Unternehmenskultur oder der Marktsituation.
In diesem Gewusel von Betriebs- und Volkswirten, Bankern, Rhetorik-, Schlagfertigkeits- und Motivationstrainern, Kultur-, Kommunikations- und Sozialwissenschaftlern, Psychologen und Kaufleuten tummelt sich zusehends eine weitere Berufsgruppe: die Philosophen. In anderen Ländern – wie etwa in Frankreich – werden Philosophen von großen Unternehmensberatungen mittlerweile gezielt von der Universität abgeworben. In Deutschland ist man noch nicht so weit, aber auch hier tauchen immer mehr Philosophen in den Beratungsunternehmen auf. Roland Berger, einer der aktuell bedeutendsten Unternehmensberater, begründete dies mit der Fähigkeit der Philosophen, „querdenken zu können. Und auch bei McKinsey sind Philosophen mittlerweile nicht mehr so selten, wie man glauben mag. Die Philosophen gelten als Leute, die nicht betriebs- oder fachblind sind, sondern die in der Lage sind, die Dinge neu zu denken. Dieses „Denken
ist sehr wichtig für die Unternehmen, denen es gerade in Veränderungsprozessen darum gehen muss, alte und ausgetretene Pfade zu verlassen und sich selbst „neu" zu denken.
Doch die Bedeutung der Philosophie für die Praxis der Unternehmensberatung beschränkt sich nicht nur auf den Exoten, der für den frischen Wind und neue Ideen zuständig ist. Sie ist umfassender, weil auch die Philosophie selbst umfassender ist. Die Philosophie ist etwa um das Jahr 600 v. Chr. im antiken Griechenland entstanden. Mit ihr ist eine neue Art des Denkens entstanden: sie ist der Versuch, die Welt vernünftig und rational zu erklären. Damit hat sie die Welt in einer völlig anderen Art und Weise erklärt als bis dahin üblich.
Bis dahin waren es religiöse oder kulturelle, häufig mythologische Vorstellungen, die alles dominiert haben, auch die Sicht auf die Welt. Nun wird auf einmal nach rationalen Begründungen gesucht. Schon bricht eine geistige Revolution aus, die dazu führt, dass der Mensch hellwach nach logischen Strukturen sucht, mit denen er sich die Welt erklären kann. Diese neue Wachheit führt zu großen Erfindungen, zu naturwissenschaftlichen Entdeckungen, zu einer neuen Einschätzung, was eigentlich der Mensch ist, und damit zu dem Denken, das wir heute als unser europäisch-abendländisches Denken ansehen. Hinter diesem neuen Denken steckt die bis heute gültige Aussage: es gibt kein göttliches oder sonstwie geartetes Schicksal, das uns die Welt erklärt, sondern wir als freie Menschen können die Welt selbst erklären!
Wir müssen uns nicht darüber unterhalten, dass diese Welterklärung immer auch ihre Schwächen hat, aber der Glaube daran, dass eine rationale Welterklärung möglich ist, setzte ungeheure geistige Kräfte frei und eröffnete so erst die Möglichkeit, zwar nicht alles, aber doch sehr viel über die Welt sagen zu können. Die Philosophie, wie sie damals vor etwa 2.500 Jahren im antiken Griechenland begann, ist damit nicht nur ein kulturell interessantes Phänomen, das man irgendwie nebenbei aus historischem Interesse zur Kenntnis nehmen kann, sondern etwas, das unser Denken bis heute in entscheidendem Ausmaß bestimmt. Wo wir uns für vernünftige und rationale Menschen halten (was wir nicht nur, aber auch sind), die aufgeklärt und fortschrittsorientiert sind, greifen wir auf einen Anspruch zurück, der durch die Philosophie in die Welt kam und die Welt bis heute entscheidend verändert hat.
Aus der Tatsache, dass in der Philosophie die Wurzel unserer Vernunft und unserer Rationalität liegt, leitet sich eine große Möglichkeit ab, die die Philosophie für die unternehmerische Beratung noch nicht besitzt, aber besitzen kann. Die Situation eines Unternehmens ist ausgesprochen komplex, viele Faktoren spielen hier hinein und beeinflussen sich gegenseitig. Damit ein Unternehmen überhaupt agieren und re-agieren kann, muss es verstehen, in was für einer Situation es sich befindet. Die Philosophie bietet die Möglichkeit, die verschiedenen Faktoren nach rationalen Kriterien zu gewichten und so die Grundlage dafür zu schaffen, dass ein Unternehmen angemessen und überlegt handelt. Die Stärke der Philosophie liegt weniger in der konkreten Durchführung von Veränderungen. Sie liegt vielmehr in dem, was den Veränderungen vorausgeht: dem Nachdenken, dem rationalen Überlegen darüber, was eigentlich die Situation ist und welche Möglichkeiten sich aus dieser Situation ergeben.
Hierbei kommt der Philosophie das zugute, was ihr oft als Schwäche ausgelegt wird: nicht konkret zu sein und überall mitzureden. Die Philosophie liefert kein Fachwissen. Der Philosoph ist ohne die Aneignung von zusätzlichem Fachwissen erst einmal nicht in der Lage, zu beurteilen, welche Ursachen der Fachkräftemangel hat oder ob es sinnvoll ist, Schrauben in Ecuador oder in Laos zu produzieren. Aber er ist in der Lage, die Faktoren zu beurteilen, die für die richtige Entscheidung relevant sind und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente zu strukturieren. Hier kann die Philosophie gegenüber den einzelnen Fachdisziplinen ihre ganze Stärke und Wirkmacht entfalten.
Die meisten Entscheidungen, die ein Mensch trifft, trifft er emotional und unreflektiert. Es kann jetzt hier nicht um den Forscherstreit gehen, ob dies 80% oder gar 100% unserer Entscheidungen betrifft. Es ist der größte Teil der Entscheidungen, der so getroffen wird, und eine Begründung wird zumeist erst nachgeliefert, um nachträglich irrationalen Entscheidungen einen rationalen Anstrich zu geben. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Philosophie, rationales Denken und Begründen zu stärken oder sogar zu ermöglichen. Die Rationalität muss der Entscheidung vorausgehen, statt ihr nachzufolgen, damit sinnvolles Handeln möglich ist.
Schließen möchte ich dieses Kapitel mit zwei Anekdoten über den ersten aller Philosophen, Thales von Milet, der um 600 v. Chr. lebte. Diese beiden Anekdoten möchte ich deshalb an den Anfang dieses Buches stellen, weil sie sehr bezeichnend für die Philosophie als Ganze sind bzw. für die Menschen, die Philosophie betreiben. Das, was über den Ersten der Philosophen erzählt wird, erzählt auch sehr viel über all seine Nachfolger, im Guten wie im Schlechten.
In der ersten Geschichte, die von Platon¹ überliefert ist, heißt es, dass Thales von Milet häufig nach oben in den Himmel geschaut habe, wenn er unterwegs gewesen sei, um den Lauf der Sonne und der Gestirne zu untersuchen. Es kam, wie es kommen musste: eines Tages fiel er dabei kopfüber in einen Brunnen. Zu allem Überfluss sei er dann noch von einer thrakischen Magd verspottet worden, dass er zwar alles wissen wollte, was am Himmel ist, aber von den Dingen auf der Erde keine Ahnung habe.
Um diese nicht ganz unberechtigte Anklage an die Philosophen und ihr Leben in den Wolken des Denkens direkt zu relativieren, die zweite Geschichte über Thales von Milet, überliefert von Aristoteles. ² Hier heißt es, die Leute hätten Thales Vorhaltungen wegen seiner Armut gemacht und ihm vorgeworfen, dass die Philosophie zu nichts nütze und brotlose Kunst sei – ein alter Vorwurf, der nichts an Aktualität eingebüßt hat. Thales reagierte auf diese Vorwürfe auf die philosophischste aller Weisen und schlug zurück: aufgrund seiner astronomischen Berechnungen wusste er, dass die nächste Olivenernte sehr reichlich ausfallen würde. Er nahm sein ganzes Geld und mietete bereits im Winter sämtliche Olivenpressen für einen sehr geringen Preis an. Als dann die Erntezeit kam und der Bedarf nach Olivenpressen sehr groß war, konnte er jeden Preis verlangen und verdiente in dieser Zeit ein Vermögen. „Auf diese Weise hat er demonstriert, dass es für die Philosophen ein leichtes sei, reich zu werden, wenn sie nur wollten", kommentiert Aristoteles anerkennend.
¹ Vgl. Platon, Theaitetos 174.
² Vgl. Aristoteles, Politik A 11.
Philosophie als Fragen
Was ist ein Philosoph und wie sieht er aus? Wenn man dazu einen normalsterblichen Passanten auf der Straße befragt, kommt im Regelfall folgendes heraus: ein Philosoph ist ein älterer, weiser Mann, lebt im Idealfall in einer Höhle als Eremit und meditiert den ganzen Tag. Den Mitbürgern, die ihn demütig um Rat bitten, gibt er weise Sätze mit auf ihren Lebensweg, die ihnen bei entscheidenden Lebensfragen weiterhelfen sollen. Dieses Bild des Philosophen ist hier natürlich überzeichnet und klischeehaft dargestellt, dennoch ist erstaunlich viel von diesem Bild in den Köpfen der Menschen präsent, zumal sich dieses Bild eines Philosophen durchaus historisch belegen lässt, man denke an Diogenes in der Tonne.
Nun lebt jedoch die Philosophie von einer anderen Grundhaltung, und um die soll es in diesem Buch gehen: es handelt sich um die Grundhaltung des Fragens. Die Philosophie entfaltet ihre Kraft nicht durch die weisen Sprüche, nicht durch ihre Antworten, sondern durch ihre Fragen, durch ihre Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und sie immer neu zu hinterfragen. Platon und Aristoteles haben das Staunen, das fragende Betrachten der Welt, als den Grund der Philosophie herausgestellt, und diesem Auftrag muss auch ein heutiger Philosoph gerecht werden, gerade wenn er in der Beratung seine Relevanz beweisen will. Die Wurzel der Philosophie besteht nicht in der Weitergabe von Lebensweisheiten, sondern im Staunen über die Wirklichkeit, im Bezweifeln vermeintlicher Sicherheiten, in der Suche nach rationalen Kriterien, die Wirklichkeit endlich erklärbar zu machen.
Die Wirklichkeit immer neu zu hinterfragen, ist der Anspruch der Philosophie, an den auch sie selbst sich immer wieder erinnern muss. Dies gilt auch für einen Mann wie Aristoteles selbst. So schreibt er in seiner „Geschichte der Tiere", dass Frauen weniger Zähne als Männer hätten.³ Interessanterweise wurde dies auch 2.000 Jahre lang widerspruchslos geglaubt, bis jemand vor 200 Jahren auf die Idee kam, nachzuzählen.
Jede Antwort, die gegeben wird, muss immer neu auf ihre Gültigkeit befragt werden und in diesem Fragen entsteht die Dynamik der Wissenschaft, auch der Philosophie und damit gewinnt die Philosophie eine völlig andere Perspektive als die des apathischen Höhlenbewohners. Das Philosophische am Philosophen ist nicht die Ruhe der Antwort, sondern die Dynamik des Fragens. Nur so ist die Philosophie nicht ein Narkosemittel für das Denken, sondern sein Stimulans.
Vielleicht mag es überraschen: die Phasen der Philosophiegeschichte, in denen es der Philosophie vorrangig um die Vermittlung einer ruhigen und gelassenen Grundhaltung ging, waren erstaunlich kurz. Es ist wohl kein Zufall, dass unsere heutige Zeit in ihrer Ruhelosigkeit voller Faszination gerade auf die stoische Philosophie der Antike blickt, aber repräsentativ für die gesamte Philosophie ist sie eben nicht. Die Fähigkeit, in einem apathischen Zustand unangenehme Verhältnisse „stoisch" zu erdulden, ist nicht das, worum es der Philosophie eigentlich geht. Von den großen Philosophen der Geschichte ist zwar zumeist überliefert, dass sie sehr konzentriert gedacht haben – und Konzentration braucht auch Ruhe –, aber die Ruhe selbst macht noch keine Philosophie aus. Entsprechend geht es der Philosophie eigentlich nicht darum, die Menschen zu beruhigen und stillzustellen, sondern darum, aus einem Fragen heraus eine denkerische Dynamik zu entwickeln. Bestehende Verhältnisse sollen nicht stoisch geduldig ertragen, sondern neugierig und kritisch hinterfragt und rational beurteilt werden. Denken wird durch Fragen angeregt und um dieses geht es der Philosophie, wenn sie nicht in küchenpsychologische Ratschläge oder esoterische Lehren abgleiten will. Die Philosophie ist nicht die Ruhe der Antwort, sondern die Dynamik des Fragens.
³ Vgl. Aristoteles, Hist. An. 2,3: „Bei Menschen, Schafen, Ziegen und Schweinen haben die Männchen mehr Zähne als die Weibchen."
Philosophie als Methode
Die Philosophie verfügt bereits in der Antike