Psychotherapie und Seelsorge: Theologisch-praktische Quartalschrift 1/2019
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Book preview
Psychotherapie und Seelsorge - Verlag Friedrich Pustet
Inhaltsverzeichnis
ThPQ 167 (2019), Heft 1
Schwerpunktthema:
Psychotherapie und Seelsorge
Andreas Telser / Michael Zugmann
Liebe Leserin, lieber Leser!
Boris Traue
Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge
Über individualisierende und kollektive Begleitung in der Beratungsgesellschaft
1 Sorgen als Handlungsform
2 Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Erwartungslagen
3 Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge
4 Wie ist kollektive Sorge möglich?
Susanne Heine
Menschenbilder hinter der Psychologie
1 Empirisches und seine Lücken
2 Empirie und Spekulation
3 Erkenntnistheoretisches Intermezzo
4 Zwei Varianten des „Selbst"
5 Cui bono?
Peter Trummer
Jesus als Therapeut
Neutestamentliche Streiflichter
1 Der dienende Jesus
2 Die zu Heilenden
3 Und was nun?
Klaus Kießling
Seelsorge und Psychotherapie: unvermischt und ungetrennt
1 Heil und Heilung in Seelsorge und Psychotherapie
2 Ungetrennt: ein historischer Streifzug
3 Unvermischt: eine Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität
4 Unvermischt und ungetrennt
Erwin Dirscherl
Die Frage nach dem Heil für Seele und Psyche als Frage nach Gott
Vom liebenden Aushalten der Anderheit und von der Fähigkeit, sich zu verlassen
1 Die Gefahr der Fragmentierung des Menschen: Vom Wagnis, aufs Ganze zu blicken
2 Soteriologie und Theozentrik: Die vorausgehende Liebe und Barmherzigkeit Gottes
3 Der „Psychismus der Seele" bei E. Levinas: Vom Umgang mit dem Wort Gottes ohne Instrumentalisierung
4 Haltung zeigen: Glaube als Stil der Gastfreundschaft bei Christoph Theobald
5 „Heilsame Haltungen": Das barmherzige Aushalten der Anderheit als Fähigkeit des Liebens
Adolf Trawöger
Braucht Seelsorge Psychotherapie?
Erfahrungen aus der Praxis
1 Vorbemerkungen
2 Gemeinsamkeiten, Differenzen und Übergänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge
3 Psychotherapeutische Hilfen für die Seelsorge
4 Zusammenfassung
Abhandlungen
Herbert Haslinger
Das II. Vatikanum und die Pastoraltheologie
1 Lernimpulse des II. Vatikanums für die Pastoraltheologie
2 Monita der Pastoraltheologie gegenüber dem II. Vatikanum
3 Das Problem der Konzilshermeneutik
4 Ein auswertendes Resümee
Eva Plank
„Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben" (Jer 29,11)
Die biblische Prophetengestalt und ihre Rezeption in der dramatischen Dichtung Jeremias von Stefan Zweig
1 Die neun Bilder des Dramas und ihre biblischen Bezüge
2 Fazit
Literatur
Ilse Kögler
Das aktuelle theologische Buch
Besprechungen
Eingesandte Schriften
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Redaktion
Kontakt
Anschriften der Mitarbeiter
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser!
Lange Zeit standen Psychotherapie und Seelsorge in einem gespannten Verhältnis. In der Psychotherapie herrschten Religionskritik oder gar Pathologisierung von Religion vor, in der seelsorglichen Praxis die Meinung, Psychotherapie sei für Gläubige nicht nötig, oder der Vorbehalt, Psychotherapie gefährde religiöse Überzeugungen und Praxis. Mittlerweile hat sich die Situation stark verändert. Mit Blick auf die Psychotherapie zeigt dies etwa das Positionspapier „Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie"¹ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Es hält fest, dass aus heutiger Sicht „eine kultur- und religionssensible psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Patienten mit unterschiedlichen Hintergründen notwendig ist und „Patienten mit psychischen Erkrankungen von ihrem Psychiater und Psychotherapeuten eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation einschließlich deren existenzieller, spiritueller und religiöser Dimension
erwarten. Diese Erwartung wird nicht durch Übernahme esoterischer Inhalte, spiritueller Rituale und religiöser Methoden in die Psychotherapie erfüllt, sondern durch einfühlsame Achtung gegenüber den religiösen oder spirituellen Bindungen der Patienten. Dabei sollten die Behandelnden „auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten". Mit Blick auf die Seelsorge wird deutlich, dass die Vorbehalte gegenüber der Psychotherapie geringer wurden. Und so sind viele Seelsorgerinnen und Seelsorger bestrebt, sich ein psychotherapeutisches Grundwissen anzueignen oder es zu erweitern. Dabei ist für Psychotherapie und Seelsorge wichtig, die professionellen Grenzen zwischen psychotherapeutischen Behandlungen einerseits sowie Seelsorge und spiritueller Führung andererseits zu kennen und zu respektieren. Zugleich kann eine Zusammenarbeit in vielen Fällen sinnvoll, heilsam und – in einzelnen Fällen – gar unverzichtbar sein. Dafür sind immer wieder Reflexion und Dialog notwendig, denen sich die sechs thematischen Beiträge unseres aktuellen Heftes widmen.
Nach dem Verhältnis zwischen Psychotherapie und Seelsorge aus soziologischer Sicht fragt Boris Traue. Er sieht in der Gesellschaft drei Formen des Sorgens und stellt Seelsorge als gemeindliche, kollektive Sorge der Psychotherapie als reparativer Sorge und dem Coaching als eskalativer Sorge gegenüber. Die entscheidende Frage bleibt, wie die Selbstsorge mit der Sorge um den Anderen und die Gesellschaft verbunden werden kann. Hier sieht Traue die Seelsorge als gemeindliche, kollektive Sorge besonders gefordert. Der Dialog zwischen Psychotherapie und Seelsorge braucht einen religionspsychologisch klaren Blick: Susanne Heine macht deutlich, wie voraussetzungsreich die Menschenbilder sind, welche die verschiedenen Schulen der Psychologie prägen, und dass nicht-empirische Annahmen über „das Wesen des Menschen" offengelegt werden müssen, damit Reflexion und Erfahrungsaustausch zwischen Psychotherapie und Seelsorge gelingen. Ebenso wichtig ist die Offenlegung des biblischen Welt- und Menschenbildes, das im Hintergrund der neutestamentlichen Erzählungen über Jesus als Therapeuten steht. In seiner Analyse der Texte und des biblischen Sprachgebrauchs deutet Peter Trummer so manche Heilungserzählung aus den Evangelien in ungewohnter und überraschender Weise und aktualisiert diese Deutungen auch für die heutige Zeit. Von dem engen Zusammenhang zwischen Heilung und Heil bei Jesus ausgehend, unternimmt Klaus Kießling einen historischen Streifzug, der zeigt, wie sich Seelsorge und Pastoralpsychologie von der Antike bis in die Neuzeit entwickelt haben. Er weist die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Seelsorge, Pastoralpsychologie und Psychotherapie aus und plädiert dafür, dass sich Seelsorge und Psychotherapie zueinander eigenständig, unvermischt und ungetrennt, verhalten können. Die Seelsorge und Psychotherapie gemeinsame Frage nach dem Heil für Seele und Psyche versteht Erwin Dirscherl letztlich als Frage nach Gott. Vor dem Hintergrund fragmentierter Lebenswirklichkeiten plädiert er dafür, theologisch den ganzen Menschen im Blick zu behalten. Die in den Mitmenschen wie in Gott eingetragene Andersheit eröffne einen Zwischen-Raum, der heilsame Haltungen gegenüber anderen ermögliche. Wie solch heilsame Haltungen in psychotherapeutischen Ansätzen und seelsorglichen Beratungskonzepten zum Tragen kommen, zeigt Adi Trawöger auf. Fallbeispiele zeigen, wie Seelsorge von psychotherapeutischen Zugängen profitieren kann, aber auch Psychotherapie von seelsorglichen Konzepten, weil Letztere die Sorge um den ganzen Menschen im Blick haben.
Zwei freie Beiträge bereichern unser erstes Heft des Jahres 2019: Herbert Haslinger ortet in seinem Artikel drei wichtige Lernimpulse des II. Vatikanums für die Pastoraltheologie hinsichtlich der Theologie des Volkes Gottes, der Offenbarung und der Pastoralität, benennt aber auch als Kritikpunkte am Konzil aus heutiger Sicht die Ausblendung der Gemeinde und die Ignorierung der Pastoraltheologie. Eva Plank gibt auf Einladung der Redaktion einen Einblick in ihre 2018 veröffentlichte Dissertation, in der sie nachzeichnet, wie Stefan Zweig in der dramatischen Dichtung „Jeremias" in neun Bildern die biblische Prophetengestalt auf dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse des 1. Weltkriegs rezipiert.
Werte Leserinnen und Leser!
Angesichts von Flucht und Migration steht die in diesem Heft thematisierte, sich verändernde Konstellation von Psychotherapie und Seelsorge vor neuen Herausforderungen: PsychotherapeutInnen, Pfarrer, PsychologInnen, pastorale MitarbeiterInnen und PsychiaterInnen treffen immer öfter auf Menschen, die sich über Erlebtes und Erlittenes, wenn überhaupt, in einer religiös gefärbten Sprache mitteilen – dazu bedarf es mehr denn je einer interreligiösen Kompetenz in beiden Feldern.² Damit kommt dieser Fragestellung eine besondere Relevanz zu. Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Andreas Telser und Michael Zugmann (für die Redaktion)
¹ Michael Utsch u. a., Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie, in: Spiritual Care 6:1 (2017), 141–146.
² Vgl. Jonathan Morgan / Steven J. Sandage, A Developmental Model of Interreligious Competence. A Conceptual Framework, in: Archive for the Psychology of Religion 38 (2016), 129 –158.
Boris Traue
Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge
Über individualisierende und kollektive Begleitung in der Beratungsgesellschaft
♦ Der Autor, Soziologe an der TU Berlin, nähert sich der gesuchten Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Psychotherapie mittels eines Verständnisses des Sorgens, das für die Ausbildung individueller wie kollektiver Identität maßgeblich ist. Als Handlungsform kann das Sorgen, soziologisch betrachtet, in drei Formen institutionalisiert auftreten und dabei unterschiedliche Funktionen erfüllen. In ausdifferenzierten Gesellschaften und den in ihnen sich zu bewährenden Individuen werden diese Funktionen verschieden nachgefragt. Alle drei Formen des Sorgens sind mit dem Anspruch konfrontiert, die Balance von Selbst und Gesellschaft auszutarieren. (Redaktion)
Die Ausweitung der psychotherapeutischen Angebote seit den 1960er-Jahren¹ ist nicht unumstritten. Kulturen der therapeutischen Zuwendung und Selbstzuwendung werden als Ausdruck eines kulturell verankerten Narzissmus² und als Mitursache einer zu weitgehenden Individualisierung³ kritisiert. Weiter wird moniert, therapeutische und seelsorgerische Praktiken schränken die individuelle Handlungsfreiheit ein⁴ oder vertiefen die Zwänge einer Gesellschaftsform, die auf die Steigerung von Leistungsfähigkeit und ‚Employability‘ ausgerichtet ist.
Mit der wissenschaftlichen und literarischen Entdeckung des Unbewussten zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert hatte sich allerdings allmählich und schließlich auf breiter Ebene die Ansicht durchgesetzt, dass Selbst- und Weltverhältnisse miteinander zusammenhängen, und dass ein gelingendes Verhältnis zur Mitwelt ein gelingendes Verhältnis zu sich selbst voraussetzt. Der Selbstbezug gilt in der therapeutischen Kultur als durch Expertenhilfe veränderbar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die Psychotherapien schließlich verstärkt in die universitäre sowie außeruniversitäre Ausbildung eingebunden und als Teil der Gesundheitsversorgung teilweise auch öffentlich finanziert.
Beide Positionen – die therapiekritische und die klinische – haben ihre Berechtigung. Aus einer soziologischen Perspektive sollte es nicht primär darum gehen, psychotherapeutische und seelsorgerische Angebote zu begrüßen oder zu kritisieren. Vielmehr sollte sie Hinweise darauf gewinnen, welche Kompetenzen und Orientierungen durch unterschiedliche therapeutische Begleitungsangebote vermittelt werden. In diesem Beitrag soll die beraterische Sorge zunächst als triadische Handlungs- und Beziehungsform eingeführt werden, die auf die Steigerung der Handlungsfähigkeit abzielt. Im Rückgriff auf soziologische Handlungstheorien, die auf Spinoza zurückgehende vermögenstheoretische Perspektive sowie die Religionsphilosophie von Josiah Royce werde ich drei Formen des vermögenssteigernden Sorgens unterscheiden. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen egalitäre und kollektive Formen des Sorgens möglich sind.
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass das Selbst, obwohl im Körper fundiert, ein Produkt von Kultur und Gesellschaft ist.⁵ Selbste werden durch Instanzen der Subjektivierung⁶ auf organisierte Art und Weise gebildet: im Elternhaus, in der Schule, der Arbeitswelt, im Sport, in der Beratung, in der Seelsorge und einer Reihe weiterer Felder und Milieus. Wir können also von einem institutionalisierten Selbstverhältnis sprechen. Das Selbst ist in zentralen Aspekten ein gesellschaftliches Produkt, und diese Produktionsweisen werden in spezialisierten Diskursen reflektiert: Medizin, Psychologie, Ökonomie, Soziologie, Theologie etc. unterhalten jeweils eigene Problematisierungen und Interventionsformen. Seelsorge, Psychiatrie, Psychotherapie und Beratung sind also institutionalisierte kommunikative Formen dieser Produktion von Subjektivität.
1 Sorgen als Handlungsform
Die Sorge – bzw. das Sorgen– ist ein Handlungstypus, mit dem ein Individuum (bzw. ein Kollektiv) ein anderes Individuum interpretiert und ihm diese Interpretationen mitteilt, um diesem künftige Handlungen zu erleichtern, indem seine Handlungsvermögen verbessert werden. Die Spezifik des Sorgens besteht darin, dass die Verbesserung der Handlungsvermögen einer anderen Person Ziel der ‚begleitenden‘ Handlung einer sorgenden bzw. beratenden Person ist. Die eigenen Ziele einer Sorge tragenden Person werden dabei zugunsten der Handlungsvermögen der versorgten Person zurückgestellt. Die elterliche Sorge ist ein idealtypisches Beispiel für diese Form des Handelns, bei dem die Erwartungen des Sorgenden zurückgestellt werden zugunsten desjenigen, für den gesorgt wird. Die ‚Frühgeburt‘ des Menschen erfordert, dass die Eltern die Bedürfnisse von Säuglingen interpretieren, ihnen gewissermaßen die Wünsche und Nöte ablesen und diese angemessen befriedigen. Nun geschieht dieses Zurückstellen nur im Grenzfall ganz ohne ‚Hintergedanken‘. Dieser Hintergedanke besteht darin, dass die Verbesserung der Handlungsfähigkeit für die Sorgenden selbst – oder für Dritte – Vorteile hat. Die Sorge zeichnet sich also durch eine dreistellige oder triadische Figuration aus, wie bereits der Soziologe Erving Goffman festgestellt hat:
„Ich weise darauf hin, dass die Ideale, die Dienstleistungen in unserer Gesellschaft zugrunde liegen, ihren Ursprung in folgendem Fall haben: der Dienstleister ist aufgefordert, ein komplexes physikalisches System zu reparieren, wieder herzustellen oder zu flicken – das System ist dabei das persönliche Objekt oder der persönliche Besitz des Klienten […] Wir haben es mit einem Dreieck zu tun – Praktiker, Objekt, Besitzer –, das eine wichtige Rolle in der westlichen Gesellschaft gespielt hat."⁷
Goffman wirft damit die provokative Frage auf, wem das Selbst „gehört".
Beratung, Therapie und Seelsorge sind empirische Formen sorgenden Handelns in triadischen Figurationen.⁸ Eine Person interpretiert eine andere mit der Absicht, deren Handlungsfähigkeit wiederherzustellen oder zu steigern. Die Sorge steht damit in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei untrennbar miteinander verbundenen Polen: dem höchstpersönlichen ‚Verstehen‘ eines Anderen einerseits, der Steigerung seiner Vermögen mit einem Nutzen für Dritte andererseits. Die Interpretation eines anderen Subjekts, die diesem sorgend mitgeteilt wird, kann die Handlungsfähigkeit dieses Subjekts steigern, einschränken und lenken: es handelt sich um eine ‚Führung der (Selbst-)Führung‘.⁹
2 Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Erwartungslagen
Das Handlungsvermögen ist ein Anliegen, das in allen differenzierten Gesellschaften mit individualisierenden Leistungszuschreibungen Anlass von Erziehungs- und Beratungsbemühungen ist. Wenn der Einzelne etwas leisten können soll, unternimmt die Allgemeinheit – in Gestalt von Unterweisung, Beratung und Sanktion – systematische Bemühungen, diesen durch ‚care work‘ zur künftigen Bereitstellung der von ihm geforderten Leistungen zu befähigen.
Die Frage, wie ein Bedarf nach Seelsorge, Psychotherapie und anderen Formen von Beratung aufkommt, kann also nicht einseitig von den KlientInnen her gedacht werden. Erst die Verschränkung der jeweiligen Anliegen von Individuen, Professionen und Staat kann erklären, wie es zur Herausbildung unterschiedlicher Formen von Sorge kommt. Der Bedarf nach Beratungsangeboten bemisst sich nach den gesellschaftlichen Anforderungsprofilen, die an Subjekte gestellt werden. Unter welchen Bedingungen es den beratenden Professionen gelingt, sich für die Befriedigung des Bedarfs nach diesen Steigerungsformen menschlicher Existenz zuständig erklären zu können, hängt von einer Reihe von Bedingungen ab. Entscheidend sind dabei die in der Professionssoziologie beschriebenen Vorgänge der Mandatierung und Lizensierung: Staatlich oder verbandlich organisierte Agenturen delegieren Aufgaben an Professionelle (LehrerInnen, Geistliche, Ärzte, PsychotherapeutInnen). Diese erhalten also ein Mandat für die Bereitstellung sorgender Praktiken. Im Gegenzug werden berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten geschaffen, also Bildungsgänge, die absolviert und erfolgreich abgeschlossen werden müssen – die Lizenz wird zur Voraussetzung für die legitime Ausübung der Tätigkeit, die damit zum Beruf gemacht wird und einer sozialen Schließung unterliegt. Eine gelingende soziale Schließung einer Berufsgruppe verschafft ihr ein besonderes Prestige, das sie ungerne wieder abgibt.¹⁰ Im Kern der Aufgaben der beratenden Professionen steht die Steigerung der Handlungsfähigkeit. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat bereits in den 1930er-Jahren handlungstheoretische Überlegungen vorgestellt, die für die Einschätzung der Beratung hilfreich sind. Parsons schlägt vor, Handlungen nach kulturellen Mustern der Handlungsorientierung zu unterscheiden („pattern variables").¹¹ Zwei der insgesamt sechs Variablen sind hinsichtlich der Sorge hilfreich: Parsons unterscheidet erstens zwischen Affektivität und affektiver Neutralität. Affektivität wird mit kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung in Verbindung gebracht, affektive Neutralität mit Bedürfnisaufschub. Eine zweite Unterscheidung betrifft die Differenz zwischen einer Orientierung am eigenen Wohl und am Gemeinwohl: Sind die Handlungsvermögen auf die Erreichung individuellen Nutzens oder an der Verwirklichung des Gemeinwohls ausgerichtet?
Parsons übersah allerdings die motivationale Bedeutung unterschiedlicher Affekte: Freude hat andere Wirkungen als Angst, beide unterscheiden sich von der Trauer. Die Affekte hängen außerdem mit der Orientierung auf sich selbst oder auf Kollektive zusammen. Um diesen Besonderheiten gerecht zu werden, soll Parsons Vorschlag erweitert werden.
Die Frage der Handlungsvermögen und ihrem Zusammenhang mit den Affekten wird von Baruch de Spinoza (1632 –1677) in die Philosophie eingebracht. Seit den 1960er-Jahren wird Spinozas Philosophie wieder verstärkt in der sozialtheoretischen Diskussion aufgegriffen,¹² um Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wandel zu diskutieren: Die vermögenstheoretische Perspektive Spinozas wirft die Frage nach der Entstehungsweise kollektiver Handlungsfähigkeiten auf, der ‚potentia multitudinis‘. Spinozas Affektenlehre ist damit ein wichtiger Bezugspunkt für das philosophische und sozialwissenschaftliche Konzept der Handlungsfähigkeit (engl. agency, frz. agence). Er versteht unter der „agendi potentia (Kraft/Fähigkeit zu handeln) ein ‚Selbstbeharrungsvermögen‘ des Körpers und des mit diesem Körper verbundenen Geistes, das als Conatus bezeichnet wird: das, „wodurch jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt
¹³. In Spinozas vermögenstheoretischer Perspektive beruht das Handeln auf einer Eigendynamik des Begehrens, die in der spätmittelalterlichen Conatuslehre verhandelt wird (conatus lat. für gr. ὁρμή – Trieb, Streben), die Spinoza unter dem Einfluss der Naturwissenschaften reinterpretiert: Ähnlich wie Körper im Rahmen einer Physik ausgedehnter Körper ihre Bewegung aufrechterhalten, strebt das Sein belebter Körper nach Aufrechterhaltung ihres Begehrens. Ob diese Aufrechterhaltung realisiert oder verhindert wird, zeigt sich an leibgebundenen Affekten, die der Geist erfassen kann. Die Affekte wirken auf die Handlungsvermögen des Körpers und dadurch auch auf die des Geistes, insofern der Geist erlebte Freude mit den Ideen in Verbindung bringt, die mit den Affekten einhergingen: „Unter Affekte verstehe ich die Erregungen des Körpers, durch welche die Handlungsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt werden, zugleich auch die Ideen dieser Erregungen."¹⁴ Affekte werden zwar erlitten, aber auch in einer Distanzierungsbewegung vom Geist erfahren und werden