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Kreuzfahrt zartbitter
Kreuzfahrt zartbitter
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Ebook518 pages7 hours

Kreuzfahrt zartbitter

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About this ebook

Elena freut sich auf dich, du allein darfst dich bei ihr unterhaken, die Kabine mit ihr teilen und diese wunderschöne Urlaubsreise in den hohen Norden mit ihr genießen, die auch gleichzeitig eine Reise durch Elenas Leben ist. Erlebe eine Kreuzfahrt mit berauschend schönen Momenten, aber auch mit allen tragischen Begebenheiten rund um Elenas Leben.
Es ist eine Reise, die dich zugleich tief in Elenas Gedankenwelt führt, sie wird sich mental vollkommen nackt vor dir machen, dir einen unbegrenzten Einblick in ihr Leben, ihre Psyche, ihre Ängste, Träume und Wünsche geben.
Elena verlässt ihr unerträgliches Leben, um sich für zwei Wochen unter die Lebenden, die in freudiger Urlaubsstimmung befindlichen Kreuzfahrtgäste zu begeben, sich wieder zu spüren, zu sich zu kommen, um eine Reise der Genüsse anzutreten und bis zum Ende der Kreuzfahrt zu einer Entscheidung zu gelangen: Sein oder Nichtsein.

"KREUZFAHRT zartbitter" ist eine Mischung aus einem Roman, also einer frei erfundenen Erzählung, und Erlebnissen, die aus der Wirklichkeit stammen, was dieses Buch zu einem sehr authentischen Leseerlebnis macht. Selbst einige von Elenas unglaublichen Träumen stammen von einer von Depressionen und Ängsten betroffenen Person und wurden direkt in den Nächten dokumentiert und zur Verfügung gestellt. Du wirst Elena als reellen Menschen empfinden, ihr so nahe kommen, als ob sie deine beste Freundin wäre.

Komm mit zu den überwältigenden Fjorden Norwegens, lasse dich verzaubern vom sanften Rauschen des Meeres, beeindrucken von der schönen Natur, dem Leben an Bord und lasse dich von der Leidenschaft infizieren, auf diese angenehme Art die Welt zu entdecken.
Ob es die Eindrücke von Hamburgs Industriehafen bei Nacht sind, die vielfältigen Kreationen des Lichts beim Auslaufen aus Invergordon, die Aussicht in luftiger Höhe am Bug der Marena beim Einfahren in den Geirangerfjord mit seinen majestätischen Bergen und beeindruckenden Wasserfällen, die nächtliche Neptuntaufe am Arctic Circle, die unvergesslichen Sonnenuntergänge oder die vielen Erlebnisse an Bord, ich bin sicher, dass ich dir ein sehr bemerkenswertes und interessantes Buch anbieten kann.
Hallo, darf ich auch etwas dazu sagen?
Ich bin es, Elena! Ich freue mich schon auf deine Gesellschaft, bitte begleite mich. Herzlichen Dank dafür!
LanguageDeutsch
Release dateJan 21, 2019
ISBN9783748161905
Kreuzfahrt zartbitter
Author

Riccardo H. Wood

Riccardo H. Wood wohnt in Deutschland / Bayern und schreibt unter Pseudonym. Bereits sein erstes Buch "Lenas Hölle" wurde zum Verkaufserfolg und hält sich nun schon seit Jahren in der Liste "Meist verkauft" des Verlags epubli. Mit "KREUZFAHRT zartbitter", einem Reality Roman, betrat der Autor abermals Neuland. Autorenhomepage: www.riccardo-h-wood.de

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    Book preview

    Kreuzfahrt zartbitter - Riccardo H. Wood

    kann.

    Kapitel 1: Aufbruch zu unbekannten Ufern

    Tag 1: Anreise Hamburg

    Ich sitze gerade im ICE, Fahrtrichtung Würzburg. Es ist Ende Juni, Samstag, kurz vor Acht und obwohl ich es gewohnt bin früh aufzustehen, steckt mir die Müdigkeit noch in den Knochen. Kein Wunder, dass ich am laufenden Band gähnen muss. Es ist meine erste Kreuzfahrt die mich erwartet, weshalb ich innerlich etwas aufgewühlt bin. Die Entscheidung was ich in den Koffer packe, fiel mir nicht leicht. Ja, zugegeben, was Unschlüssigkeit betrifft kann ich das Klischee der Frau voll bedienen. Im Kaufhaus zehn Kleidungsstücke anprobieren, drei mit nach Hause nehmen, sie vor dem Spiegel erneut prüfen, um sie am nächsten Tag allesamt wieder zurückzugeben. Vielleicht wirst du jetzt den Kopf schütteln, aber ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen. Am Ende habe ich mich wegen der Schlepperei für Minimalismus entschieden, also in erster Linie Zwiebellook. So bin ich mit wenigen Kleidungsstücken für jegliche Wetterlage gerüstet.

    Nachdem ich mehrmals checke ob ich nichts vergessen habe, meine Fahrkarte, der Pass, meine Reiseunterlagen und die Kreditkarte auch wirklich da sind, lehne ich mich entspannt zurück. Na ja, es war zumindest ein Versuch, ich bin alles andere als relaxt, denn die Nervosität und mein pochender Puls haben mich deutlich im Griff. Früher war das anders, war ich viel cooler, aber seit meiner Krankheit ist mein Selbstbewusstsein auf die Größe einer Haselnuss geschrumpft, was die Nervosität im Gegenzug steigen lässt. Ich kontrolliere alles tausend Mal, weil ich ganz sicher gehen möchte, dass ich das Schiff nicht verpasse.

    Ich versuche erneut zu entspannen und atme mehrmals tief durch, Nase ein, Mund aus, Nase ein, Mund aus, währenddessen sich mein Blick das erste Mal nach draußen richtet. Stell dir vor, du sitzt gerade jetzt direkt neben mir, in freudiger Erwartung auf eine schöne Reise, in deren Verlauf du mich nach und nach kennenlernen und vielleicht auch ein Stück weit verstehen kannst. Du wirst alles hautnah miterleben und an meinen Gedanken und Gefühlen teilhaben, versprochen.

    Von Aschaffenburg aus fahren wir, man kann fast sagen gleiten wir, am Main entlang, der eher aussieht wie ein ruhiger, stiller, nicht endender See, als ein fließendes Gewässer. Hin und wieder schweben feuchte, grauweiße Nebelschwaden vermeintlich völlig schwerelos über der Wasseroberfläche, so, als ob sie den Gesetzen der Schwerkraft nicht gehorchen müssten, was mich auf schönes Wetter hoffen lässt. Es fährt sich entspannt und ruhig, ich bin überrascht wie angenehm das Reisen mit der Bahn sein kann. Mehrere kleine, verschlafene Orte, tiefgrüne, dichte Wälder, einzelne lichte Baumgruppen und üppige, sattgrüne Wiesen auf sanften Hügeln fliegen in hohem Tempo vorbei, bis mir fast schwindelig wird.

    Der freundliche Kellner reicht Kaffee, der mir als Wachmacher dienen soll. Ich rieche intensiv daran, um den köstlichen, aromatischen Duft aufzusaugen, den es gratis zum Trinkgenuss dazu gibt. Im Moment klammere ich mich an jeden Genuss der meine Tage bereichern kann. Vielleicht magst du dir auch eine Tasse Kaffee holen, ich warte gerne auf dich.

    Darf ich fortfahren? Meine Wohnung habe ich ganz ordentlich verlassen, alle verderblichen Lebensmittel sind aufgebraucht, das war mir wichtig, denn ich bin nicht sicher wer die Wohnung als nächstes betreten wird.

    Jetzt packe ich mein Tomaten-Mozzarella-Brötchen aus, ein riesiges Teil, welches ich vor der Abfahrt teuer erstanden habe. Mist, verdammt, ich hasse diese weiße Pampe die sie auf den Belag gespritzt haben, die schon beim ersten Bissen zwischen den Hälften herausgequollen ist und bereits einen hässlichen Fleck auf meiner frisch gewaschenen Jeans hinterlassen hat, noch bevor ich an Bord komme. Schmeckt ansonsten aber sehr lecker, schade, ich kann dir leider nichts anbieten. Gerade während ich mir das letzte Stück gierig in den Mund stopfe und versuche, meine klebrigen Finger erfolglos an der Serviette abzuputzen, wird der Bahnhof Würzburg aus einem krächzenden Lautsprecher angekündigt und schon kurz darauf quietschen die Bremsen, was meinen Puls sogleich in die Höhe schnellen lässt.

    Verdammt, das ging aber rasch, hätte wohl nicht so viel mit dir quatschen sollen. Mit einem Anflug von Panik schnappe ich Jacke und Trolley, um durch den schmalen, mir unendlich lang erscheinenden Gang hindurch in Richtung Tür zu hasten. Immer wieder stoße ich an die zwischen den Sitzen geparkten und in den Gang hineinragenden Trolleys anderer Fahrgäste. „Entschuldigung", jetzt habe ich noch den Fuß eines Reisenden überfahren, gut, dass ich nicht so viel eingepackt habe. Der Rest meines Kaffees steht noch im Abteil, aber es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens du kannst in Ruhe austrinken.

    Mein Aufenthalt im Bahnhof Würzburg beträgt circa eine Stunde, extra lang, weil ich ein Mensch bin der auf Sicherheit bedacht ist und mir bei der Buchung sieben Minuten zum Umsteigen einfach zu kurz vorkamen. Auf der Anzeigetafel kann ich allerdings erkennen, dass ich das locker geschafft hätte, aber nun habe ich Zugbindung und muss warten.

    Ich streife umher wie eine streunende Katze, ohne Ziel, während ich fast jede Minute auf meine Uhr schaue, damit ich mich rechtzeitig auf den Weg zum Bahnsteig machen kann. Ich stöbere durch dutzende von bunten Zeitschriften, ohne mich wirklich dafür zu interessieren, durchforste Tische mit kuscheligen, süßen Plüschtieren und lasse meinen Appetit vom Duft frisch gebackener Brötchen und Croissants anregen. Aber auf dem Schiff gibt es sicher auch viele Köstlichkeiten und ich möchte mir nicht schon jetzt den Magen bis zum Anschlag vollstopfen. Trotzdem kann ich nicht widerstehen und kaufe mir ein verdammt verführerisch riechendes, frisch gebackenes Croissant, sozusagen als Notration für alle Fälle, denn es gilt noch circa dreieinhalb Stunden Fahrt zu überbrücken.

    Schon eine Viertelstunde früher stehe ich oben auf dem ungemütlichen, zugigen Bahnsteig, um den Anschluss ja nicht zu verpassen und anhand der Anzeigetafel mehrmals zu überprüfen, ob ich mich am richtigen Gleis befinde. Ich kann nicht widerstehen, das Croissant muss dran glauben, denn es riecht sogar durch die Tüte hindurch und ruft: „Beiß mich." Ja, natürlich trieft es vor Fett, das kann ich schon an der durchgeweichten Serviette erkennen, aber es schmeckt einfach göttlich.

    Sorry, wenn ich dir schon wieder Appetit mache. Gegenüber erblicke ich die steil aufragenden fränkischen Weinberge, deren Rebstöcke wie mit dem Lineal gezogen in exakt parallel verlaufenden grünen Linien bergab verlaufen. Sie lassen mich sofort an ein gutes, kühles und fruchtiges Glas Bacchus denken, dessen leichte Säure schon beim Gedanken daran ein Prickeln in meinem Gaumen und ein Will-ich-haben-Gefühl in meinem Gehirn auslöst, das ich nicht so einfach verdrängen kann.

    Die Wagennummer zwei, in dem sich mein reservierter Platz befindet, rauscht an mir vorbei. Mist, egal, einfach erst mal einsteigen. Nach gefühlt zwanzig Minuten erreiche ich gehetzt und mit von Schweißperlen übersäter Stirn den richtigen Wagen und somit auch den gebuchten Sitzplatz. Meinen Trolley hieve ich mit Unterstützung eines freundlichen Herrn ganz oben in die Gepäckablage, runter kommen sie alle, denke ich schon etwas weiter. Hoffentlich hält meine Deo durch, nicht dass ich bereits beim Einchecken müffele. Ich bin wohl der einzige dumme Fahrgast der an der falschen Stelle stand. Vermutlich gibt es irgendwo Orientierungshilfen am Bahnsteig, hab ganz vergessen mich zu informieren.

    Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich in den Sitz fallen, Hauptsache ich bin da. Geschafft, jetzt muss ich nicht mehr umsteigen, jetzt kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Meine Sitznachbarin regt mich auf, scheint andauernd auf meinen Fleck zu schielen, wenn alle Stricke reißen schneide ich den einfach raus und zerfleddere den Stoff etwas, das fällt heutzutage weniger auf als Flecken, die bis jetzt noch keine Mode waren. Im Geiste strecke ich ihr die Zunge raus, wie eine freche Göre und nun verordne ich mir wieder ein paar tiefe Atemzüge, Nase ein, Mund aus, es tut gut, ich entspanne etwas.

    Eventuelle Verspätungen nicht mit eingerechnet, haben wir nun gut drei Stunden Zeit bis zum nächsten Ziel, dem Hamburger Hauptbahnhof. Die Zeit werde ich nutzen, um ein wenig mit dir zu plaudern, um dir zumindest ein grobes Bild von mir zu geben. Ich bin fünfundvierzig Jahre jung, ein Meter fünfundsiebzig groß, schlank, aber nicht dünn. Mit meinem Körper, auch mit dem was ich an weiblichen Attributen zu bieten habe, bin ich nach wie vor zufrieden, ohne dass ich damit angeben möchte. Mein Haupt zieren volle, brünette, bis über die Schulter reichende Haare, die ich wie heute meist offen trage. Meine Augen beschrieb mein Exmann als warm, rehbraun und unwiderstehlich. Nun weißt du es schon, ich bin geschieden. Kinder die darunter leiden müssten habe ich keine, was die Sache sicherlich etwas einfacher macht.

    Natürlich war es ein weiterer schwerer Schlag für mich, als mir Frank offenbarte, dass er mich verlassen wird, aber ich konnte und wollte ihn nicht aufhalten. Er kann nichts dafür, ich verstehe ihn sogar, weshalb ich ihm, dumm wie ich bin, keine Steine in den Weg gelegt habe, obwohl ich ihn noch immer liebe. Während ich mich umschaue fallen mir mehrere Kofferbanderolen auf, die ebenso bunt wie meine bedruckt sind. Aha, wir sind nicht die einzigen mit diesem Ziel. Irgendwie komme ich mir gerade ziemlich gläsern vor, jeder kann sehen wohin unsere Reise geht.

    Gegen dreizehn Uhr dreißig, es ist kaum zu glauben, der Zug ist pünktlich um zwölf Uhr vierundfünfzig in Hamburg angekommen, steige ich in den blau-weißen Shuttlebus, der die Kreuzfahrer vom Bahnhof zum Terminal befördert. Um meinen Trolley muss ich mich nun nicht mehr kümmern, was ich mit Erleichterung aufnehme, denn das Gepäck wird von vielen fleißigen Heinzelmännchen an Bord gebracht.

    Schau dir das an, es ist kaum zu fassen. Im ersten Moment sehe ich nur eine riesige Front mit Fenstern und Balkonen. Es sieht aus wie ein sehr breites Hochhaus, nur viel schöner und bunter gestaltet. Erst als ich meinen Kopf nach links und rechts drehe, kann ich den Bug und das Heck erkennen, es handelt sich also doch um ein Schiff.

    Allmächtiger, das ist der glatte Wahnsinn, völlig verrückt, schierer Gigantismus, so wirkt es zumindest in diesem Moment auf mich. Es ist die „Marena", ein gerade erst vier Monate junges Kreuzfahrtschiff einer neu gegründeten Reederei. Kaum zu glauben, dass sie nicht einfach umkippt wie ein Fahrrad, das man abstellt ohne den Ständer auszuklappen. Ich verstehe nicht viel von Schiffstechnik, aber vermutlich steckt das Steh-Auf-Männchen System dahinter. Unten schwer, oben leicht. Ja, so muss es sein. Ganz geheuer ist mir das allerdings nicht, hoffentlich kommt keine Monsterwelle die das Teil einfach umwirft. Richtige Angst habe ich aber nicht wirklich, denn damit würde sich meine bevorstehende Entscheidung erübrigen. Ich möchte dir zwar nicht andauernd Sorgen machen, aber durch diese Gedanken musst du durch, wenn du dich entschlossen hast mich auf diesem Weg zu begleiten.

    Das Einchecken funktioniert trotz des großen Andrangs reibungslos und ehe ich mich versehe, bin ich von einem Fotografen hinter einem großen Eichenholz-Steuerrad, zusammen mit einem Matrosen im Arm abgelichtet und nachdem ich den unendlich langen Wurm von Gangway durchschritten habe, finde ich mich im Bauch des monströsen Schiffs wieder.

    Weil ich offensichtlich völlig orientierungslos dastehe, weist mir eine freundliche Dame, im perfekt sitzenden blauen Kostüm der Reederei, den Weg zum Atrium, sozusagen dem Zentrum, dem Herzen der Marena. Als ich dort ankomme, fällt mir förmlich die Kinnlade herunter.

    Voller Ehrfurcht stehe ich in einem schier unglaublich großen, über die ganze Schiffsbreite und viele Decks hinaufreichenden, voll verglasten Bereich. Es kommt mir vor, als ob ich mich im riesigen Bauch eines Wals befinden würde, eine Vorstellung, welche die vielen Stahlrippen an den Außenwänden untermalen. Allerdings ist der Raum von Licht durchflutet, es ist der größte Wintergarten den ich je gesehen habe.

    Sechs, ebenfalls großflächig verglaste, fast gänzlich frei schwebende Aufzüge katapultieren die Gäste in atemberaubender Geschwindigkeit von Deck zu Deck. Ich lasse mich in einen Ledersessel plumpsen, damit ich den majestätisch anmutenden Anblick weiter genießen kann. Alles glitzert und blinkt wie in einer surrealen Welt. Schon der Blick nach oben macht mich ganz schwindelig. Mir fällt sofort auf mit welcher Liebe, mit welchem unglaublichen Aufwand jeder Quadratzentimeter dieses Kreuzfahrtschiffs gestaltet ist. Bunte Teppichböden, edle, mit Intarsien versehene und in unterschiedlichen Holzarten kombinierte Parkettböden. Lebensfrohe, farbenstrotzende Gemälde an sich dezent zurückhaltenden Wänden. Alles sorgfältig aufeinander abgestimmt, wie ein Kunstwerk. Schade, ich glaube ich kann dir meine Begeisterung vermutlich gar nicht richtig vermitteln, aber vielleicht warst du auch schon an Bord eines ähnlichen Kreuzfahrtschiffs und kennst dieses Gefühl.

    Ich muss gestehen, ich habe noch keinen Plan, zumindest nicht für diesen Moment. Wollen wir erst ganz nach oben fahren? Ich hoffe, du bist schwindelfrei, denn ich bin es nicht wirklich. Es ist aber nicht mein einziges Problem, ich fühle mich generell nicht wohl in Aufzügen. Die Vorstellung, dass so ein Fahrstuhl auch mal stecken bleiben könnte, ich mir den Sauerstoff und den Platz über Stunden hinweg mit mehreren vielleicht nach Schweiß riechenden Menschen eng zusammengezwängt teilen müsste, oder dass das Seil reißen, oder der Boden nicht halten könnte und wir in die Tiefe stürzen, gehört zu meinem Grundrepertoire der Ängste wenn ich einen Aufzug betrete, weshalb mir gerade etwas flau im Magen wird.

    Ich freue mich, dass es eine dreiköpfige Gruppe nicht mehr rechtzeitig schafft die schließende Tür zu blockieren und wir alleine fahren dürfen. Es ist schon vorgekommen, dass ich wieder ausgestiegen bin, wenn ich mich zu eingezwängt gefühlt habe.

    Während der Fahrt fällt mein Blick auf der einen Seite in das abgrundtiefe Atrium, auf der anderen Seite, über die Flure hinweg, kann ich durch die Außenverglasung einen großen Teil des Hafengeländes überblicken, eine Aussicht, die mein Mangen nicht zu mögen scheint. Soweit mir bekannt ist, gibt es fünfzehn Decks, aber dieser Aufzug fährt, aus mir unerklärlichen Gründen, nur bis Deck 12.

    Einen kurzen Flur und eine Tür weiter stehe ich auf dem riesigen Pooldeck, abermals staunend, wie großzügig es hier zugeht.

    „Willkommen an Bord der Marena, Ihr Kapitän Boris Decker", steht unter einem überdimensionalen Konterfei eines strahlenden, gutaussehenden Mannes in Uniform, das mir von einer riesigen LED-Wand entgegenleuchtet, sicher größer als ein Fußballtor.

    Es ist warm, geschätzte fünfundzwanzig Grad umschmeicheln meinen Körper, weshalb ich sehr gerne eine Runde schwimmen würde. Im Gegensatz zu manch anderen Gästen, habe ich meine Badesachen noch im Trolley, an den ich zu diesem Zeitpunkt leider nicht ran komme. Da fehlt mir einfach die Erfahrung, vielleicht hättest du es besser gewusst. Ich beschließe eine Treppe nach oben zu gehen, zur Sonnengalerie, die mit einer Vielzahl sommerlich gelber Liegen bestückt ist und einen Blick nach unten zum Außenpool bietet. Es gibt eine weitere Treppe, welche ich ebenfalls in Angriff nehme, ich bin ja schließlich neugierig und stelle fest, dass es an Bord ganz schön anstrengend sein kann.

    Während sich mein Blick über die Reling nach unten richtet, fühlen sich meine Knie plötzlich weich wie Butter an und mein Herz pumpert, obwohl ich nicht weiß, ob es an der Anstrengung oder an der Höhe liegt. Grob überschlagen könnten es circa vierzig bis fünfzig Meter sein, gefühlt sind es jedoch einhundert.

    Da steht sie, die Elbphilharmonie, die ich ehrfürchtig betrachte. Ein abenteuerliches Glashaus auf rotem Sockel, eines der größten Desaster Hamburgs. Aber es besitzt schon eine gewisse Anmut und ist wohl zu einem richtigen Publikumsmagnet geworden, Glück im Unglück für die Stadt.

    FKK-Deck, diese drei Anfangsbuchstaben stechen mir sofort ins Auge. Es sind nur wenige Schritte bis ich einen vorsichtigen Blick in den geschützten Bereich werfen kann. Nachdem ich weit und breit niemanden entdecken kann, wage ich mich ein Stück weiter, um den Sichtschutz herum. Liegen, Handtücher und zwei Whirlpools, es ist alles da was man braucht. Ist das meine Rettung? Kann ich mich hier einfach nackig machen? Aber du musst weggucken, zumindest wenn du ein Mann bist, nein, war ein Scherz, ha, ha!

    Etwas ungewohnt fühlt es sich schon an, während ich mich unter freiem Himmel abdusche, nackt, sozusagen mitten in Hamburg, und nun in den angenehm temperierten Whirlpool steige. Ich entscheide mich spontan für einen der Knöpfe und bereits nach wenigen Sekunden umschmeicheln meinen Körper Millionen von weichen, wohlklingend blubbernden, sanften Luftblasen. Mit geschlossenen Augen genieße ich diesen köstlichen Moment, hier kann ich entspannen, abschalten, ich bin angekommen, es ist ein Traum. Mal sprudelt es an den Füßen, mal bahnen sich die prickelnden Luftblasen am Po und Rücken entlang den Weg nach oben, oder gleichzeitig rund um meinen ganzen Körper, entsprechend der Einstellung die ich vorgebe.

    Nachdem ich mich lange genug im warmen Wasser geaalt und entspannt habe und gerade mit Schrecken auf meine runzeligen Finger starre, beschließe ich, das Becken zu verlassen. Natürlich bin ich neugierig auf den Rest des Schiffs, du nicht auch? Gerade als ich splitternackt auf der obersten Stufe der Treppe ankomme, betritt ein betagtes Pärchen das FKK-Deck. Flucht nach vorn, oder nochmal rein ins Becken? So prüde bin ich nun auch wieder nicht, weshalb ich Opi den Anblick gönne, kostet ja nichts.

    Während ich in der offenen Dusche ohne Abtrennung stehe, schaut sich das Pärchen in aller Ruhe um. Sie, mit edlem Kostüm, schickem Hütchen und High-Heels, mit denen selbst die meisten dreißigjährigen Mädels Probleme hätten. Er, am Stock gehend, in feinem Zwirn, mit Krawatte und Sakko. Vielleicht verstehen sie das Wort FKK nicht, oder sie sehen nicht mehr gut, was mir entgegen käme. Als ich fertig bekleidet das Deck verlasse, macht sich das Pärchen gerade in zwei Liegestühlen breit.

    Eine laute Durchsage trifft mich ohne Vorwarnung, erschreckt mich heftig und lässt mich zusammenzucken, wie ein scheues Reh. Die Kabinen sind fertig und können bezogen werden, heißt es, und es wird eindringlich auf die Seenotrettungsübung um siebzehn Uhr hingewiesen, die vor dem Auslaufen stattfindet und für jeden Gast gilt, was mehrmals betont wird.

    Voller Erwartung krame ich meine Bordkarte hervor, auf der die Kabinennummer vermerkt ist: Deck 11, Kabine 11150. Die Kabine zu finden dürfte nicht so schwer sein, denke ich zumindest und steige in den Aufzug, um den Knopf für Deck 11 zu drücken. Dabei fällt mir auf, dass der Knopf für Deck 13 fehlt. Vielleicht existiert das Deck auch gar nicht. Weißt du vielleicht warum? Will die Reederei das Schiff größer darstellen als es wirklich ist? Nein, vermutlich nicht. Vielleicht ist es nur Aberglaube, weshalb Deck 13 fehlt. Ja, so wird es sein, denn für alle anderen gibt es Tasten.

    Nachdem ich meinen Schiffsplan auseinandergefaltet und mehrmals gedreht habe, glaube ich zu wissen, in welche Richtung ich gehen muss. So, hier gehts lang, ich bin mir ziemlich sicher. Nach circa einhundert Metern Fußmarsch durch den langen Flur bin ich in einem Bereich angelangt, in dem es keine Kabinen mehr gibt. Entschuldigung, das war die falsche Richtung, jetzt müssen wir den ganzen Weg wieder zurück. Erst nach dem Passieren unzähliger Türen, erblicke ich endlich meine Kabinennummer, die ich sicherheitshalber nochmals mit meiner Bordkarte vergleiche.

    Ich bin richtig, und ja, ich habe tief in die Tasche gegriffen und mir den Luxus einer Balkonkabine gegönnt, denn, ich brauche unbedingt eine Verbindung zur Außenwelt, damit ich mir nicht eingezwängt wie im Gefängnis vorkomme. Ich weiß nicht ob du das verstehen kannst, es ist so eine Art Platzangst, zumindest ansatzweise, aber auch der Tatsache geschuldet, dass ich immer einen zweiten Fluchtweg benötige, denn bei einem Feuer an Bord könnte der Flur ausfallen. Ebenso ausschlaggebend für meine Entscheidung war allerdings der Grund, dass ich es einfach schön haben und der Natur möglichst nahe sein möchte, auf meiner vielleicht allerletzten Reise.

    Gespannt auf das was sich hinter der Tür verbirgt, stecke ich meine Bordkarte in den Schlitz unter der Klinke. Ein kleines, grünes Lämpchen blitzt kurz auf und die Tür lässt sich öffnen. Meine Augen leuchten, Wahnsinn, ich bin begeistert, du auch? Tut mir leid, du kannst es ja nicht sehen, aber dazu später.

    Schnell ins Bad, Pipi machen, meine Blase drückt mittlerweile gewaltig. Huch, jetzt bin ich aber erschrocken, die Spülung macht ein riesiges Getöse, da müsste man drei Hände haben. Zwei, um sich die Ohren zuzuhalten und eine, um den Spülknopf zu drücken. Irgendwie fühle ich mich gezwungen nochmals zu spülen. Linke Hand am linken Ohr, rechter Oberarm am rechten Ohr und vorn hinuntergebückt mit der rechten Hand spülen, geht doch. In der Kloschüssel scheint es einen riesigen Sog zu geben, ich stelle mir gerade vor wie ein gut bestückter Mann im Sitzen spült und sein bestes Stück in den Schlund des gefräßigen WCs hineingesaugt wird, dann ist das Teil weg, aua.

    Trotz des Tageslichts betätige ich nun alle Lichtschalter welche ich in der Kabine verstreut finde, es sind viele, aber ich brauche es möglichst hell. Früher war das nicht so, aber, seitdem es mich erwischt hat, fühle ich mich in schlecht ausgeleuchteten Räumen nicht mehr wohl. Vermutlich ist es ein Tribut meiner Krankheit, was meine Stromrechnung zuhause ziemlich belastet. Als Nächstes reiße ich die große Schiebetür auf, trete auf meinen kleinen, aber ausreichend großen Balkon hinaus, um die Aussicht auf Hamburg und die klare, aber freundlich warme Seeluft zu genießen.

    Es herrscht reges Treiben, an Land und auch auf der Elbe. Mächtig große Schiffe schieben sich, majestätisch langsam, wie riesige Fremdkörper durch die Stadt. Fähren kreuzen den unruhigen Fluss hektisch und wenige kleine Boote schaukeln wie Nussschalen auf dem aufgewühlten, trüben Fahrwasser.

    Der direkte Blick über die Reling nach unten weckt die tief in mir schlummernde Höhenangst und sorgt schon wieder für ein flaues Gefühl in meinem Magen, aber ich bin sicher, dass ich mich daran gewöhnen werde. Erst mal rein und etwas genauer umsehen. Ach du heilige Sch…, entschuldige bitte, aber mir ist fast das Herz stehen geblieben, als der Signalton für die Seenotrettungsübung überraschend und unbarmherzig laut ertönte, was mich innerlich in Aufruhr versetzt hat.

    Macht nichts, ich kann dir die Kabine auch später beschreiben. Schwimmweste, Schwimmweste, spreche ich vor mich hin, während ich mich erst sortieren muss. Natürlich ist es die letzte Schranktür welche ich öffne, hinter der sich vier rote, verschnürte Pakete verbergen, die nach Rettungswesten aussehen. Ich greife mir eins und versuche hektisch die Verschlüsse zu öffnen, was mir schließlich, trotz zitternder Finger, irgendwie gelingt. Jetzt klappe ich die Weste auf und schaffe es, aber nur mit viel Mühe, das Teil über meinen Kopf zu streifen, obwohl ich der Ansicht bin, dass er eigentlich nicht sonderlich dick ist. Es hängen mehrere schwarze Bänder verloren an mir herunter und noch während ich überlege wie ich die Weste schließen soll, klopft und ruft es an meiner Kabinentür, was für eine Hektik, scheiß Urlaub.

    Ich öffne und werde sogleich von einer netten, aber bestimmt auftretenden Sicherheitskraft in Richtung der Musterstation verwiesen. Zeit zum Orientieren blieb mir nicht, aber ich werde ohnehin vom Strom der Passagiere mitgespült und immerhin ist mir bekannt, dass ich auf Deck 7 muss. Die Aufzüge sind gesperrt und ich nutze mit vielen anderen Gästen zusammen die Treppen, eine richtige Völkerwanderung. Ganz schön stressig so ein Urlaub, findest du nicht auch? Nachdem ich auf dem vorgesehenen Platz stehe, schaffe auch ich es, mit Hilfe einiger kampferprobter, hilfsbereiter Seebären, meine herumhängenden Gurte anzulegen. Verschnürt wie ein Paket, ein Gurt klemmt sogar in meinem Schritt, stehe ich nun brav da, Schulter an Schulter, beziehungsweise Weste an Weste und harre der Dinge.

    Die ganze Veranstaltung dauert länger als geplant, da es Gäste gibt die der Meinung sind, nicht mitmachen zu müssen. Nachdem sie dann persönlich, mit vollem Namen und Kabinennummer ausgerufen wurden, trotten auch sie unter tosendem Applaus, aber auch von vereinzelten Buh-Rufen begleitet, heran. Nach der langweiligen Einweisung in den Gebrauch der Rettungswesten und Sicherheitsvorschriften in Englisch und Deutsch, beendet der Kapitän die Übung mit einer Durchsage.

    Endlich Urlaub, denke ich, und kehre zu meiner Kabine zurück, um die Rettungsweste, hoffentlich, auf nimmer Wiedersehen zu verstauen. Erst jetzt merke ich, dass mein Magen nach etwas Essbarem giert. Es ist zwanzig vor Sechs, also noch etwas Zeit bis die Restaurants öffnen, die ich nutzen werde, um dir meine tolle Kabine zu beschreiben. Schön, dass du bei mir bist, denn alleine würde ich mir ziemlich einsam vorkommen.

    Also schau: gleich im Eingangsbereich, rechts, befindet sich das Bad, mit Dusche und diesem Ungeheuer von Absaug-WC. Alles blitzt und blinkt, so, als ob wir die ersten Gäste wären. Das Doppelbett besteht aus zwei zusammengeschobenen Einzelbetten, die ich sogleich ein Stück auseinanderrücke, etwas Privatsphäre muss schließlich sein. Die Kopfseiten der Betten und die Decke schmückt ein weiß/weinrot gestreifter Baldachin, was die Kabine sehr wohnlich erscheinen lässt. Neben dem WC gibt es eine zweite Tür, die ich neugierig öffne. Mein Herz hüpft vor Freude, als ich eine kleine Ankleide vorfinde, hier kann ich meinen ausgeprägten Ordnungssinn voll ausleben.

    Die Kabine ist mit einem Schreibtisch, einer Couch mit angrenzendem Bücherregal und weiteren Annehmlichkeiten ausgestattet, die ich nicht alle aufzählen möchte. Sie wirkt jedenfalls sehr einladend auf mich, ich bin sicher, wir werden uns hier wohlfühlen. Aber jetzt habe ich Hunger, kurz frisch machen und ab gehts.

    Auf dem Schiffsplan im Treppenhaus kann ich ersehen, dass sich die meisten Restaurants auf Deck 6, im Bereich des Hecks befinden. Nach einer kurzen Orientierungsphase schaffe ich es herauszufinden, in welche Richtung ich gehen muss, allerdings kommt mir alles sehr verwirrend vor, ich hoffe, dass ich mich in den kommenden Tagen daran gewöhnen kann.

    Wenig später stehe ich im Restaurantbereich und entschließe mich kurzerhand für das „Bella Casa", aus dem mir bereits köstliche Pizzagerüche entgegen strömen, die meinen Magen sofort heftig aufbegehren lassen. Wow, ich kann dir das Angebot nicht wirklich beschreiben, es ist schier unbegrenzt. Suppen, Salate, unzählige Vor- und Nachspeisen, Parma-Schinken, Gemüse, Fisch, Fleisch und vieles mehr, ein einziges Schlaraffenland.

    Ich nehme an einem Zweier-Tisch Platz und überlege, wie es mit den Getränken funktioniert. Wein und Wasser werden in Karaffen serviert und alle anderen Getränke können selbst gezapft werden. Ich entscheide mich für Weißwein, der nur wenig später in Form einer Ein-Liter-Karaffe vor mir steht, kleinere Mengen gibt es hier wohl nicht. Ich sehe schon, du musst mir helfen, ich hoffe du magst Weißwein. Prost, schmeckt sehr lecker, ist genau mein Ding, äußerst fruchtig, aber trotzdem nicht zu süß.

    Mein Plan vornehm, Gang für Gang und in der üblichen Reihenfolge zu speisen, ist kläglich gescheitert, nachdem ich es nicht geschafft habe an den verführerisch duftenden Hauptspeisen vorbeizukommen. Nun befinden sich fünf verschiedene Hauptgerichte mit Beilagen und ein paar Blättchen Alibisalat dicht gedrängt und aufgehäuft auf meinem Teller, was mir nun ganz peinlich ist. Ich ärgere mich über mein eigenes ungebührliches Benehmen und beschließe schnell einen Teil wegzuessen, um mich nicht schon am ersten Tag vor den anderen Gästen zu blamieren.

    Danach gibt es einen extra Salatteller, Wurzelbrot mit Käse, drei Eisbällchen und ein Stückchen Kuchen. Ich bin erstaunt, welche Mengen in meinen Magen hineinpassen, obwohl es für mich nichts Neues ist, dass ich über den Hunger hinaus esse. Das liegt offensichtlich daran, dass mein Magen kein guter Kostverwerter ist und den größten Teil der Speisen wohl nicht aufschließen kann und deshalb einfach durchschleust, was für viele von Übergewicht geplagte Menschen sicherlich sehr nützlich wäre.

    Erst jetzt merke ich, dass ich mich hoffnungslos überfressen habe, ich kann es leider nicht anders ausdrücken. Ein extrem unangenehmes Völlegefühl zwingt mich dazu, einen edlen Grappa Prosecco zu bestellen, den ich sofort hastig hinunterkippe, damit er in meinem Magen für Ordnung sorgt. Natürlich ärgere ich mich über meine eigene Dummheit, es war nicht das erste Mal, dass ich übertrieben habe. Ja, zugegeben, jetzt bin ich ziemlich platt, aber es spricht ja nichts dagegen hier etwas sitzen zu bleiben.

    Während ich an meinem köstlichen Weißwein nippe, um die Schwere meiner Essensschwangerschaft zu vertreiben und um wieder etwas Leichtigkeit zu erlangen, werfe ich in Gedanken einen Blick zurück, auf mein bisheriges Leben. Vielleicht wäre es an der Zeit etwas von mir zu erzählen. Ich hoffe, es wird dir nicht zu langweilig. Aber keine Angst, ich werde mich bemühen mein Leben und meine Krankheit in kleinen, verträglichen Häppchen zu servieren, die ich dir während unserer Reise nach und nach anbiete. Wie es mit mir so weit kommen konnte und auch die Zusammenhänge, weshalb es geschehen ist, darüber habe ich schon sehr häufig nachgedacht. Jetzt, zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, kann ich es zwar nachvollziehen, aber wirklich verstehen kann ich es trotzdem nicht. Es ist wichtig meine Kindheit mit einzubeziehen, damit du die Zusammenhänge erfassen kannst.

    Mein Vater war als selbständiger Schreinermeister tätig. So kam es, dass ich sozusagen in den Räumlichkeiten der Schreinerei aufgewachsen bin. Bis ich in die Schule kam, diente das Firmenbüro als Spielzimmer. Später nutzte ich einen der beiden Schreibtische, um meine Hausaufgaben zu erledigen, während sich meine Mutter am anderen um Lieferscheine, Rechnungen und Korrespondenz der Schreinerei kümmerte. Es war damals eher die Regel, als die Ausnahme, dass mein Vater in der Werkstatt oder auch bei Montagearbeiten Hilfe, vielleicht auch nur Gesellschaft benötigte, wie ich heute vermute. So war ich bereits als Kind, im Alter ab sechs Jahren, fest in den Arbeitsablauf der Schreinerei integriert.

    Über die ganzen Jahre hinweg konnte ich meine Hausaufgaben nur ganz selten ungestört erledigen, denn es war an der Tagesordnung, dass ich zwischendurch kleine Helferarbeiten erledigen musste. Mal zwei Bretter zusammenhalten, damit mein Vater die Schraubzwingen ansetzen konnte, mal schnell die Werkzeuge vom Vortag aus dem Transporter ausladen oder die Werkstatt kehren, wenn der Staub und die Späne überhandnahmen. Es gab keine Zeit der Ruhe und Entspannung für mich, keine Zeit, mich vom Druck der Schule zu erholen und nur wenige Stunden, um mit anderen Schulkindern zu spielen. Den Umständen geschuldet, habe ich im Laufe der Zeit viel gelernt und mir dabei völlig unbewusst die genaue - oder besser gesagt penible - Arbeitsweise meines Vaters angeeignet. Alles musste perfekt sein, fast immer genauer und sorgfältiger, als es der Zweck erfordert hätte.

    Wenigstens etwas Lob für unsere Bemühungen, das uns sicherlich gut getan hätte, gab es weder für meine Mutter, noch für mich. Höchstens das Lob des kleinen Mannes, wenn es nach dem Abschluss einer Arbeit mal keine Kritik gab, was selten genug vorkam.

    In den Augen meines Vaters haben meine Mutter und ich viel falsch gemacht. Vielleicht erkläre ich es dir mit drei Wegen, welche zwei Dörfer verbinden. Sie sind alle gleich lang und trotzdem waren für meinen Vater zwei Wege falsch. Ich wusste nie auf welche Art und Weise ich die Arbeit erledigen sollte und habe mich meist für die falsche entschieden. Trotz des gleichen Ergebnisses, war sie nicht richtig und wurde kritisiert.

    Jahrelang nur versuchen, es anderen recht zu machen, schränkt den Blick ein, verhindert, dass sich ein Kind entfalten kann und schwächt den eigenen Willen. Meine Mutter war nicht besser dran, aber sie konnte es - zumindest wirkte sie so auf mich -, wohl besser wegstecken, als ich es vermochte. Im Laufe der Zeit empfand ich das Leben unter der Herrschaft meines Vaters als große Last, als Psychoterror, wie ein Damoklesschwert das ständig über mir schwebte und mir die Luft zum freien Atmen nahm. Es gab keinen Tag mehr in meinem Leben auf den ich mich freuen konnte und keinen einzigen Augenblick, in dem ich die psychische Belastung aus meinen Gedanken verbannen konnte.

    Kapitel 2: Ablegen mit Herzklopfen

    Es ist punkt zwanzig Uhr fünfundvierzig, als ich ein beängstigendes Rumpeln unter meinen Füßen spüre, welches ich den Maschinen und den Schiffsschrauben zuordne. Die fast armdicken Seile sind bereits eingeholt, also gerade jetzt, in diesem Moment, beginnt unsere Reise.

    Mein Herz pocht, eine Mischung aus Nervosität, Angst und Unruhe breitet sich rasend schnell in mir aus, denn, außer den Eckdaten dieser Reise, weiß ich nicht wirklich was mich erwartet, es ist eine Fahrt in unbekannte Gefilde.

    Ganz langsam, kaum merklich, setzt sich das Schiff in Bewegung, drückt sich der Rumpf parallel von der Kaimauer ab, was mein Herz höher schlagen lässt. Ausparken, sich seitlich aus der Parklücke herausschieben, der Traum vieler Autofahrer. Erst nachdem wir etwas Abstand gewonnen haben, schiebt sich die Marena gleichzeitig vorwärts und in diesem Augenblick erfasst mich ein Gefühl der Wehmut und Hoffnung zugleich.

    Eine Viertelstunde später erreichen wir die Fahrrinne und passieren die Elbphilharmonie, deren Scheiben das weiche, liebliche Licht des Abendrots freundlich widerspiegeln. Verdammt, ich habe ganz vergessen mich bei meiner besten Freundin Julia zu melden, um ihr zu sagen, dass ich heil angekommen bin, denn sie macht sich große Sorgen, wenn sie nichts von mir hört.

    Nach meinem Kommando „Klick", mit ausgestrecktem Arm, zählt das Handy runter und erstellt brav ein Selfie von meinem grinsenden Gesicht, mit dem teuersten Prunkbau Hamburgs im Hintergrund.

    „Hi Julia, bin gut angekommen, laufen gerade aus. Alles bestens, Grüße an den Rest deiner Familie, G&K",

    tippe ich rasch ein und versende die Nachricht.

    Gruß und Kuss, du wirst dich vielleicht wundern, aber Julia liebt die Nähe von Menschen, sie legt großen Wert darauf, gedrückt, geküsst und geherzt zu werden, weshalb ich das gerne in meine Nachrichten mit einbaue.

    „Toc, Toc, Toc,"

    Nein, es hat nicht an der Tür geklopft, es ist nur der Klingelton meines Handys für eingehende Nachrichten, ich liebe ihn.

    „Hi, meine Süße, genieße deine schöne Reise, komm heil wieder, Kuss zurück, auch von Tom und der Rasselbande

    HDL."

    Julia ist, im Gegensatz zu mir, meist rund um die Uhr online und antwortet in der Regel sofort. Tom ist ihr Gatte und zur Rasselbande zählen: die fast zwei Jahre alte Mia und der fünfjährige Emil, Julias kleine, goldige Monster, um die ich sie beneide.

    Es ist kurz vor Sonnenuntergang und obwohl die glühende Sonne bereits sehr tief steht, verzaubert sie das gesamte Hafenviertel mit ihrem warmen, goldgelb und rötlich schimmernden Licht. Ich stehe nun auf der Steuerbordseite und winke wildfremden Menschen zu, welche die Marena von den Landungsbrücken aus euphorisch verabschieden. Als nun das Lied „Sail Away" aus den Deckslautsprechern erklingt, habe ich Pipi in den Augen. Es gibt an Bord zwar keine Segeln die wir setzen könnten, trotzdem geht mir die Melodie, die irgendwie nach Abschied klingt, sehr nahe.

    Abschied von meinem Leben? Abschied von meinem alten Leben in ein Neues? Eine Fahrt ins Ungewisse, vielleicht ein Aufbruch zu neuen Ufern? Ich kann es dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Ich bin sehr ergriffen, fühle mich vielleicht gerade so wie der Matrose einer Hansekogge vor hunderten von Jahren, der zusammen mit seinen Kameraden aufbricht, um über die Weltmeere zu segeln. Unumkehrbar, eine Fahrt in unbekanntes Terrain, fernab von dem mir so vertrauten Festland. Ich bekomme schon jetzt Gänsehaut am ganzen Körper. Kannst du es nachempfinden?

    Während sich der große Stahlkoloss majestätisch an Altona vorbei durch die Fahrrinne schiebt, herrscht noch reger Schiffsverkehr auf der Elbe. Die Dämmerung ist bereits hereingebrochen und mittlerweile stehe ich ganz vorn am Bug, in schwindelerregender Höhe. Es kommt mir plötzlich alles so ruhig vor, so friedlich. Nur ein sanftes, tiefes Wummern der Maschinen ist zu hören. Sozusagen fast lautlos gleiten wir an vier nebeneinanderstehenden und in verschiedenen Farben angestrahlten riesigen Tanks vorbei, die mit ihren aufgemalten Schleifen und auch in ihrer Form aussehen wie gigantische Ostereier.

    Eine Vielzahl identischer Hafenkräne steht für uns sauber und eng aneinandergereiht auf der Backbordseite Spalier, so, als ob sie uns verabschieden wollten. Sie werden von unzähligen Strahlern zum Leben erweckt und erinnern mich an riesige Dinosaurier, welche uns die Hälse entgegenrecken. Vermutlich warten sie hungrig auf das nächste Containerschiff, um alle gleichzeitig über seine Ladung herzufallen. Es ist wirklich beeindruckend, ich hätte nie gedacht welche Anmut und Ausstrahlung von einem Industriehafen ausgehen kann.

    Der Kapitän Boris hält uns über die Bordlautsprecher auf dem Laufenden, so erfahre ich, unter anderem, dass zurzeit der Lotse das Oberkommando auf dem Schiff führt. Ich stehe hier wie angewurzelt, denn ich bin in jeder Hinsicht schwer beeindruckt.

    Irgendwo auf dem Freideck der riesigen Marena steppt der Bär, läuft gerade die Sail Away Party an. Selbst von hier aus ist der Rhythmus der Musik deutlich zu vernehmen und der Bass der wohl übermächtigen Boxen am Körper zu spüren, aber es interessiert mich im Moment nicht.

    Die Villen der Reichen ziehen zu meiner Rechten vorbei und kurz darauf passieren wir die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm-Höft. Am Sandstrand der Elbe zündet eine kleine Gruppe von Jugendlichen ein Batteriefeuerwerk, das mein Herz erfreut. Ob es als Abschied für einen Passagier gedacht ist? Vielleicht für Oma, Opa, Eltern, Freundin oder sonst jemanden? Das wäre auf jeden Fall eine schöne Geste, würde mich auch freuen mit einem Feuerwerk verabschiedet zu werden, weshalb ich es einfach für mich, also für uns beide vereinnahme und als persönliches Geschenk annehme. Sie winken uns zu, und Kate Winslet, alias Rose winkt zurück. Du darfst jetzt auch winken!

    Der laue Fahrtwind streicht mir über die Arme, weckt ein gutes Gefühl in mir. Es ist genau das, was mich zurzeit am Leben hält. Ich bin süchtig nach Gefühlen, nach Genüssen, süchtig mich zu spüren, süchtig danach meinem derzeitigen Leben etwas Positives abzuringen. Ab und an schaffe ich es sogar, aber immer nur für einen Augenblick. Die positiven Gefühle und Gedanken halten leider nicht lange genug an, verschwinden so schnell wie Regentropfen in heißem Wüstensand und kurz darauf ist mein Höhenflug schon wieder vorbei und ich blicke in einen noch tieferen Abgrund.

    Ich möchte dir nichts vormachen, ich muss ehrlich und offen zu dir sein. Die letzten Jahre habe ich oft daran gedacht meinem Leben ein Ende zu bereiten, aber ich war bisher nicht mutig genug dazu. Du darfst es ruhig wissen, denn sollte ich mich wirklich dazu entscheiden, könntest du mich ohnehin nicht aufhalten. Ich möchte nur, dass du mich verstehst. Meine Krankheit hat einen Namen, aber er gefällt mir nicht. Ich weiß nicht ob ich ihn in meinem Tagebuch nennen werde. Er war für mich immer negativ behaftet, ein Begriff für etwas, das nur schwer zu verstehen ist, ein Begriff, den ich früher mit Personen in Zusammenhang gebracht habe die faul sind und keine Lust mehr haben zu arbeiten.

    Es geht um eine Krankheit die man den Betroffenen nicht unbedingt ansehen kann, eine Erkrankung, die von vielen nach außen hin gekonnt überspielt wird

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