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Unser großes Album elektrischer Tage
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Unser großes Album elektrischer Tage

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Gewalt, Popkultur, Schmutz, Feminismus und urbane Slums: In einer eigenwillig in Szene gesetzten Sprache beschreibt Johanna Maxl in ihrem Debütroman das Lebensgefühl einer Generation. Gewitztes Verwirrspiel und tragischer Bericht zugleich, ist ihr literarisches Album die atemlos und schlaglichtartig erzählte Geschichte der Suche nach der offenbar grundlos verschwundenen Johanna, mutmaßlich die Mutter der hier im Kollektiv und einzeln sprechenden Kinder. Im Laufe der Geschichte, in der Erinnerungen an Johanna aufblitzen, Fragen nach ihrem Verschwinden gestellt und teilweise absurde Bruchstücke des mal kindlichen, mal jugendlichen Alltags preisgegeben werden, verlieren die Lesenden mit den Kindern den Boden unter den Füßen, und stürzen ins Offene. Maxls literarische Vermessung fluider Identitäten im 21. Jahrhundert ist die wie mit einer Handkamera gefilmte Dokumentation der Gegenwart: zu nah, zu fern, unscharf und überscharf zugleich.
LanguageDeutsch
Release dateOct 22, 2018
ISBN9783957576682
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    Unser großes Album elektrischer Tage - Johanna Maxl

    14

    KAPITEL 1

    In diesem Jahrhundert verschwinden

    Lügen, Lügen, Lügen

    & 1 Hundebaby

    Abends kamen die Menschen in ihren Autos, um Johanna mitzunehmen. Sie hörten laute Popmusik und manche von ihnen rauchten. Ihre Tätowierungen waren jedoch, selbst für unsere ungeschulten Blicke erkennbar, niemals geschmacklos. Zu dritt bauten wir uns vor ihr auf, als sie über den Rasen schritt. Wir sahen ihr tief in die Augen: Hör mal, du bist fast dreißig.

    Ah ja. Sagte Johanna mit ihrer drohenden Stimme, das glaube ich aber nicht. Außerdem habt ihr keinen Schimmer, was das bedeutet, dreißig. Es bedeutet nämlich gar nichts, also aus dem Weg, ihr Zwerge. Haut ab.

    Nachts weckte sie uns dann, wenn sie heimkam, drückte uns, dass unsere Rippen nur so krachten, erklärte:

    Ich habe euch wirklich furchtbar gern.

    Eines Abends war da ein Mann, im Sommer, der ihr ein müdes, unendlich müdes Hundebaby schenken wollte.

    Eines Tages verschwand sie. Im Winter. Sie vermutete wohl, unsere kleinen Köpfe würden über den Geschenken des folgenden Tages ihr Verschwinden verwinden. Nun fragen wir:

    Warum verschwand sie? Wird sie je zurückkommen? Wird sie uns je wieder mit diesen abweisenden Küssen bedecken.

    Als sie fort war, war uns, als fielen wir durch die Tage.

    Morgens, wenn wir aufwachten in unseren Betten, öffnete sich unter uns eine Luke, und aus ihr fielen wir in den Tag hinein und durch ihn hindurch, viele Stunden lang, bis auf dem Grund des Tages eine weitere Luke sich öffnete und wir zurück auf unsere Betten fielen.

    Es war etwas Unfassbares, eine unfassbare Entfernung, eine Slåttdal-Schlucht, aber auch – immer unsichtbare! – Pole, Lastwagen und noch viel mehr, man könnte auch sagen, ein Höllenschlund, lagen all die Jahre zwischen dieser Johanna und, nun ja, allem anderen.

    Da stand sie, da saßen wir, und sahen, wie ihr Po ganz leicht wackelte, wenn sie die Sahne schlug.

    Wir also waren die Kinder dieser Frau. Das wollte uns nicht in den Kopf. Und auch sie selbst schien erstaunt, wenn sie sich dann umdrehte und uns erblickte.

    Ihr also seid meine Kinder, schien ihr Blick zu sagen, aber wo verflixt kommt ihr denn her? Wie ist das denn zugegangen, dass ihr jetzt hier sitzt und mich aus euren Augen anschaut, ja ist es denn nicht so, dass wir einander misstrauisch beäugen, dass wir mitnichten sicher sind, ob uns gefällt, wen wir da sehen?

    Dann kam sie mit der Sahneschüssel auf uns zu, und während sie auf uns zukam, da wankte die Welt, und gar nichts war mehr klar, alles konnte passieren. Das war ein schöner Zustand. Sie tat aber ganz still einem jeden einen Löffel Sahne zu seinem Apfelkuchen auf und setzte sich zu uns, während wir aßen.

    Obwohl sie sich gar nicht zu bewegen schien, konnten wir über unseren Kaugeräuschen und unserem Schlucken ihren unpraktischen Schmuck klingen hören, sie trug ein paar goldene Armreife, die jeder für sich ganz zart waren, am linken Handgelenk, und eine hochmoderne goldne Halskette, die schon etwas kräftiger war, und deren Anhänger etwas von technischem Zeitalter und Maschinen ausstrahlte.

    Wir schlichen uns heimlich an sie heran, wenn sie am Küchentisch saß. Interessieren wir dich eigentlich?

    fragten unsere Köpfe, die plötzlich über dem Rand der Tischplatte erschienen.

    Hm?, fragte sie und nahm ihre Kopfhörer ab. Sie richtete sich auf und sah verständnisvoll und großherzig in unsere Gesichter hinunter.

    Niemand kennt das Leben, versicherte sie und bestreute uns lachend mit Grashalmen, die sie die ganze Zeit zu genau diesem Zweck in ihrer Hand gehalten hatte.

    »Was man hier denkt, entsteht in Wirklichkeit«, sagte Seidelbast verheißungsvoll.

    »Das ist, wie Sie einsehen werden, ein hervorragender Zeitvertreib.«

    Wir saßen auf der Couch, sahen Filme, und vor der Couch lag diese Person; als Insel. Wenn sie zurückdachte an die Jahre, die sie mit uns verlebt hatte, erinnerte sie sich an nicht viel mehr als ein, zwei, drei kleine Gestalten, vielleicht, die mit ihr in diesem Haus gewohnt hatten, an Gelegenheiten, als sie am Fenster gestanden und hinausgesehen hatte; an einen Baum, der nie ein Vogelnest enthielt, und wie im Sommer ganz kurz und ganz nah Bienen an ihrem Ohr summten.

    Ganz, als wäre das ihre eigene verdammte Kindheit gewesen, und nie die unsere.

    Manchmal hat sie auch bemerkt, wie die Stille im Haus sich fraglos danach anhörte, als schliefen Tiere, in der oberen Etage vermutlich, sie wünschte sich ein Rudel Löwen, doch ein Rudel Löwen war zu unwahrscheinlich. Trotzdem nahm sie sich vor, wobei sie mit verschwenderischer Langsamkeit ihre Garderobe pflegte, Gegenstände von hier nach dort bewegte, falls dort oben Tiere wären, sich mit überzeugender Selbstverständlichkeit zu ihnen zu legen und, wenn sie weiterzogen, mitzukommen. Dann nahm sie ein Bad. Als sie oben ankam, waren keine Tiere mehr da.

    Als lustig bezeichnete Johanna alles Mögliche: Du hast so lustige Haare. Heute sah ich am Fenster ein lustiges Tier. Ich weiß, wir leben in diesem lustigen Jahrhundert. Damit meinte sie das 21. Jahrhundert.

    Nachts saß das 21. Jahrhundert mit unserer Johanna in der Küche und erzählte ihr Witze über sich selbst.

    Es nippte an seinem Whisky mit Milch und blickte misstrauisch auf zu ihr: Falle ich dir denn noch nicht lästig? Aber nein, sprach Johanna, das Jahrhundert besänftigend; du bist sehr lustig! Da stürmte es hinaus auf die Straße! Unheilvoll, sich wandelnd. Es hatte ihr nicht geglaubt. Da rannte die Dunkelheit vom Himmel, vor dem Jahrhundert flüchtend. Da rannte die Dunkelheit. Und durch das löchrige Futter ihres Mantels fielen die gestohlenen Tage, und lagen nutzlos auf der Straße herum, und sonstiger Unrat, lag nutzlos auf der Straße herum. Begrub die Künstlerin und Millionärstochter Lana Del Rey unter sich.

    Da rannte die Dunkelheit.

    Johanna tat, als wäre das alles nie passiert, als ginge alles einfach weiter wie bisher. Sie mochte Marilyn Monroe, als wäre das so schwer gewesen, und sie konnte unmöglich sprechen, ohne dass in ihrem Gesicht kleine sexy Sachen passierten. Nachdenklich leckte sie sich das Rot von den Lippen. Dabei stellte sie sich vor, wir Kinder müssten aus einem extra Land hergekommen sein, wo alle so klein waren, wo alle in ihren kleinen Autos die zarten Straßen befuhren und ihren kleinen Zielen zusteuerten, wo selbst die Würstchen, Kätzchen und Äpfel kleiner waren, und ja sogar das Geld und die Ozeane und selbstverständlich alle Herzen.

    Immerzu begegnete sie uns, als wolle sie uns verführen. Wofür übte sie? Dann kam My week with Marilyn in die Kinos, und wir mussten mit ihr hingehen. Wir bekleckerten uns über und über mit Eiscreme. Mit unseren klebrigen Händen hielten wir sie fest, so lange wir konnten. Manchmal sah sie Leuten in die Augen und dachte sich: Da ist ja ein Mensch drin. Oder sie sah jemanden nur von hinten und dachte sich: Da drin ist ja ein Mensch versteckt. Das ist das 21. Jahrhundert. Das ist das 21. Jahrhundert. Das ist das 21. Jahrhundert!

    Wir fragten sie, was das sollte, dass sie uns eigentlich keine Geschichten erzählte, wir hatten gehört, dieses Verhalten sei normal, wir hatten gehört, thematisiert würden bisherige Lebensinhalte der Erzählenden.

    Sie erklärte, easy peasy, wie es war: es war, wenn sie sich an ihr Leben bis hierher erinnerte: als nähme jemand ein Buch, hielte es dicht vor ihr Gesicht, und striche ganz schnell durch die Seiten. Es war eine Unmöglichkeit, auch nur einen einzigen Buchstaben oder den Gegenstand einer der Abbildungen festzuhalten. Sie machte es mit uns; hielt ein Buch hoch, und ließ ganz schnell vom Ende her die Seiten vorbeifliegen. Wir erkannten aber doch etwas, einen Tiger und einen Elefanten. Wir wissen nur nicht, auf welchem von beiden sie davongeritten ist.

    Über alle Dinge, die wir mit unseren Lippen berühren, wissen wir nur sehr wenig.

    Und wir fragen uns! Wird sie je zurückkommen? Warum verschwand sie? Wird sie uns je wieder mit diesen wütenden Küssen bedecken?

    Diese Person war, wie wir jetzt wissen, nichts weiter als eine Verheißung, sie sagte uns folgende Sachen zu dem Thema: Kinder sind Verheißungen. Verheißungen sind zum Beispiel Länder, oder genauer, Städte, in denen man nicht lebt, doch in die man ziehen könnte. Metropolen.

    Erwachsene Menschen sind in der Regel keine Verheißungen. Auf rätselhafte Art gelingt es ihnen, nicht die Verheißung einer zwanzig Jahre älteren Person zu sein, auch nicht die

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