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Zukunft: Die Biografie
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Zukunft: Die Biografie

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Das Telefon wird sich nicht durchsetzen, der Tonfilm ebenso wenig und Computer brauche es weltweit vielleicht fünf Stück: Die Vergangenheit pflastert Prognosen, die falscher nicht sein könnten. Der Blick nach vorn ist ein menschliches Bedürfnis: In der Alten Welt suchten Wahrsager die Zukunft in den Eingeweiden von Tieren, im Mittelalter prägte die Erwartung des Welten- des die Politik. Uns hilft beim Blick voraus der Blick zurück: Seit Jahrhunderten entwerfen Philosophen, Schriftsteller, Naturwissenschaftler und Politiker künftige Welten. Wie dachten sie sich die Gesellschaft von morgen? Was trat ein, was nicht? Dass wir heute nicht mit dem Hubschrauber zum Supermarkt fliegen, wäre für die Visionäre der fünfziger Jahre eine herbe Enttäuschung. Für uns liegt hier die (tröstliche) Erkenntnis, dass nicht alles, was irgendwann einmal wahrscheinlich, wünschenswert oder sogar unausweichlich erschien, auch Realität wird. Wie malen wir heute unser Bild vom Morgen? Vom Technikoptimismus zur Astrologie, von der Apokalypse zum Fortschritt – ein unterhaltsamer Streifzug durch die Vergangenheit der Zukunft.
LanguageDeutsch
Release dateJan 1, 2019
ISBN9783710603648
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    Book preview

    Zukunft - Jan Martin Ogiermann

    I

    EINLEITUNG

    VIEL ZUKUNFT VORAUS

    Wie das Leben von einer beschreiben, die noch so viel vorhat? Die Zukunft ist im Wortsinn das, was auf uns zukommt, und das ist einiges. Europa und die Welt erleben seit Jahrhunderten einen sich beschleunigenden Wandel, der sich unabsehbar fortsetzen wird. Eine Biographie der Zukunft schaut im Jahr 2019 also weit zurück, zieht aber kein Resümee. Am besten stellen wir uns die Heldin dieses Buchs als vitale Sechzigjährige vor, die bereits genießt, was die Wissenschaft in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich erreichen wird: unerschöpfliche Jugendkräfte.

    Schon ein Blick auf die Schlagzeilen zeigt, wie viel Zukunft vor uns liegt, wie viele Befürchtungen und Hoffnungen uns umtreiben: „Die Natur stirbt – und die Welt schaut weg".¹ Es versteht sich von selbst, dass mit der Zukunft der Natur auch die des Menschen bedroht ist. Er verbraucht Ressourcen, verändert das Klima, und seine Zahl wächst. Seit den siebziger Jahren stellt sich die bange Frage, ob eine ökologische Katastrophe eintreten und die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert ein Massensterben wird erleiden müssen. Dieses würde wohl vor allem jene Milliarden von Menschen treffen, die nach wie vor in großer Armut leben und geringe Chancen haben, ihr Leben zu verbessern.

    In der internationalen Politik tobt ein „Kampf um die Weltherrschaft".² China und die USA, die unterschiedliche Gesellschaftsmodelle vertreten, stehen einander zunehmend feindlich gegenüber, von einem neuen Kalten Krieg ist die Rede. Beide Mächte konkurrieren unter anderem in der Telekommunikation, was sich wiederum auf die Politik auswirkt. US-amerikanische Stellen haben offiziell davor gewarnt, Mobilfunkausrüstung des chinesischen Herstellers Huawei einzusetzen, da diese für Spionagezwecke genutzt werden könnte. Washington hat den staatsnahen Konzern auch wegen Verstößen gegen die Iran-Sanktionen im Visier. Die Grenzen zwischen globaler Marktmacht und weltpolitischer Einflussnahme verschwimmen zusehends.

    Aus China kam die Meldung über die Geburt der ersten genmanipulierten oder, freundlicher formuliert, genetisch optimierten Menschen. Das Erbgut der Zwillingsmädchen soll mittels der Genschere CRISPR/Cas auf die Immunisierung gegen HIV programmiert worden sein.³ Im Juli 2018 hatte der Europäische Gerichtshof die Anwendung von CRISPR auf Pflanzen faktisch eingeschränkt.⁴ Obgleich der Eingriff in China nicht autorisiert war, zeichnet sich ab, dass für technologische Innovationen je nach Weltregion überaus verschiedene Bedingungen herrschen. Die Innovationsmotoren stehen in China und den USA, weniger in Europa, dem Mutterkontinent der Hochtechnologie und des Fortschrittsglaubens.

    Eine umfangreiche Literatur erläutert dem Laien, welche Wunder der Wissenschaft in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten sind.⁵ Als das nächste große Ding wird die Künstliche Intelligenz gehandelt, dann die Quantencomputer. Die digitale Revolution ist noch am Rollen und wird sich, so die Annahme, eines Tages mit der gentechnischen Revolution verbinden. Dank exponentiell gewachsener Rechenleistung können Erbinformationen immer schneller ausgelesen und somit manipuliert werden. Sogar der Alterungsprozess einfacher Organismen lässt sich damit bereits bremsen. In einigen Jahrzehnten wird es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Menschen geben, die nicht altern, auch anderweitig genetisch optimiert sind und deren Gehirne direkt mit leistungsstarken Computern verbunden sind. Winzige Roboter werden durch ihre Blutbahnen schwimmen und jede Krebszelle schnell und zuverlässig eliminieren, ihre Körperkräfte mittels technischer Bauteile verstärkt sein. Im Vergleich zu diesen „Gottmenschen" sind wir jämmerliche Mängelwesen.

    An solche atemberaubenden Zukunftsbilder schließen sich unzählige Fragen an. Welche Regeln sollen für gentechnische Eingriffe gelten? Welche Instanz stellt sie auf? Wer darf länger leben? Soll nur der Markt darüber entscheiden, wer zuerst in den Genuss solcher Innovationen kommt? Und noch grundsätzlicher: Wird der Mensch, wenn er demnächst alles über sich weiß, die humanistische Grundidee beibehalten, dass er einen höheren, heiligen Wert hat? Wird er den Zauber, mit dem er sich umgibt, aufrechterhalten, wenn er genau weiß, wo die Grenze zwischen seiner genetischen Programmierung und seiner Freiheit verläuft? Oder sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es diese Freiheit nie gab?

    Nicht zum ersten Mal wird sich zeigen müssen, ob die christlich-aufklärerische Idee vom Menschen, die wie jeder Glaubensinhalt nicht allgemein und kulturübergreifend begründbar ist, einen dauerhaften, weltumspannenden Einfluss behält. Selbst wenn ihr dies gelänge, wäre nicht zu erwarten, dass der humanistische Mainstream unverändert aus diesen Umbrüchen hervorgeht. Er wird sich mit Strömungen wie dem Transhumanismus auseinandersetzen müssen, die den Umbau des Menschen enthusiastisch begrüßen und betreiben.

    Das Geld und das Wissen

    Die Lebensverlängerung ist ein Projekt von GV, vormals Google Ventures. Die technologische Avantgarde prägen überhaupt diverse Großunternehmen, insbesondere die „großen Vier" Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Apple. Das war nicht immer so. Im 20. Jahrhundert bestimmten Militär und Regierungen über Schlüsselbereiche wie Atomenergie und Raketentechnik. Globalisierung aber heißt bisher vor allem, dass Kapital, Wissen und Güter sich immer leichter um den Planeten bewegen. Davon profitieren transnationale Akteure wie Unternehmen wesentlich stärker als Einzelpersonen oder Staaten.

    Die beträchtlichen Migrationsströme verstellen den Blick darauf, dass der auf seinen Körper angewiesene Einzelne in der vernetzten Welt immer im Nachteil ist. Für einen jungen Mann aus Westafrika, der mit den Familienrücklagen auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa aufbricht, gilt das ganz offensichtlich. Ihn zieht es aus der globalen Provinz in die europäischen Metropolen, wo die Geld- und Informationsströme dicke Knoten bilden. Ein Mitglied der englischsprachigen, mobilen, akademischen Klasse bewegt sich zwar auf denselben Pfaden wie Kapital und Wissen, aber immer noch viel langsamer als diese. Nie könnte er mit dem Tempo mithalten, in welchem riesige Summen von einem Kontinent auf den anderen fließen, doch kann er ihnen wenigstens folgen. Der einsprachige, sesshafte Europäer verspürt weder den Leidensdruck des Armutsmigranten, noch hat er die Kompetenzen des Weltbürgers. Er bleibt, wo er ist – und fühlt sich als Verlierer.

    Den Geld- und Wissensströmen stehen nach wie vor territorial definierte Staaten gegenüber und versuchen, diese zu lenken, allen voran die USA und China. Oft erscheint der Staat schwach. Die in der EU zusammengeschlossenen Regierungen können sich nicht einmal darüber einigen, die US-amerikanischen Tech-Riesen gemeinsam zur Kasse zu bitten, geschweige denn darüber, ihre unverhältnismäßige Marktmacht einzudämmen. Internationale Zusammenarbeit tut Not, doch selbst die transatlantischen Handelsbeziehungen werden von einem US-Präsidenten angegriffen, der den menschlich verursachten Klimawandel leugnet und für seine Wähler Arbeitsplätze in Kohleminen zurückholen will.

    Nach zwei Jahren Trump sitzt Washington an erstaunlich langen Hebeln. Wie groß die Macht Washingtons auch in der vernetzten Welt noch ist, zeigt das Schicksal des (kremlfernen) russischen Oligarchen Oleg Deripaska, der von einem Tag auf den nächsten aus dem Geschäftsleben verschwand, als US-Behörden ihn mit Sanktionen belegten. Entsprechend groß ist die Sorge europäischer Unternehmen, auch sie könnte im Zuge der amerikanischen Iranpolitik dieser Bannstrahl treffen. Zugleich hat der Präsident der – nach dem Crash von 2008 gründlich sanierten – Wall Street erlaubt, weitgehend ungehindert Kapital zu bewegen. Er verflüssigt damit die Ströme, die er an anderer Stelle umzuleiten versucht.

    Die Konkurrenz zu China hat die US-Administration unter Trump verschärft. Damit sinkt nochmals die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden großen Zukunftsmächte den Unternehmen wirksame Regeln oder gar humanistisch begründete Ziele auferlegen werden. Aktuell ist es deshalb am wahrscheinlichsten, dass sich die Entwicklung zum Gottmenschen zwar vorwiegend nach Gewinninteressen, nicht aber auf einem einigermaßen freien Weltmarkt vollziehen wird. In welchem Maß Washington und Peking diesen Wettlauf aktiv beeinflussen werden, ist schwer zu sagen, aber sie tun es längst und werden es weiterhin tun. Unter ökonomischen Gesichtspunkten wären die Europäer deshalb besser beraten, wenn sie versuchten, die Welle zu reiten, statt sie zu kanalisieren oder gar aufzuhalten. Ihr Rückstand wächst täglich.

    Gut gedacht ist weit daneben

    Wie wenig die soeben angedeuteten Vorhersagen und Empfehlungen wert sein könnten, offenbart ein Blick in die jüngere Vergangenheit. 1995 sagte der US-amerikanische Publizist und Zukunftsforscher Alvin Toffler (1928–2016) in einem Interview:⁶ „Zukünftig wird es viel mehr kleinere, hochspezialisierte Firmen geben. Größere Unternehmen wiederum werden nichts mehr mit dem gemein haben, was heute eine Firma ausmacht, multinationale Organisationen ähneln dann nicht mehr General Motors oder Siemens. Es kommt, jetzt schon, zu neuartigen, vorübergehenden Firmenzusammenschlüssen, die projektgebunden arbeiten." Über das, was damals plausibel erschien, können die Vorstände von Alphabet – früher Suchmaschine, heute Unsterblichkeitsforschung – nur müde lächeln. Zwar können in der digitalen Gründerzeit findige Programmierer-Unternehmer in wenigen Jahren ein Vermögen verdienen. Doch wer kauft ihnen das Start-up für viel Geld ab? Alphabet zum Beispiel.

    Schon in den sechziger Jahren kam die Vision einer „Computerdemokratie auf, in der sich die Bürger direkt und aktiv einbringen würden. Toffler 1995: „Im Internet, an das schon Millionen Menschen angeschlossen sind, gibt es keine zentrale Kontrolle. Das bedeutet ganz neue Spielregeln. Hitler hätte es schwer in einer Medienwelt, die interaktiv funktioniert, mit direktem Rückkanal. Statt ‚Heil Hitler‘ würde es wahrscheinlich heißen: ‚Verzapp dich.‘ Die neuen Medien werden die Politik grundlegend verändern. Ja, nur eben nicht so, wie es einmal gut gedacht war. Manchmal bringt gerade die Schlichtheit der Botschaft ihrem Absender viele Likes ein. Ein twitternder Trump mit seinen Unwahrheiten und Ressentiments genügt schon, da stellt man sich einen twitternden Hitler lieber nicht vor.

    Noch einmal Toffler: „Computer und Telekommunikation wirken in hohem Maße dezentralisierend: Dadurch lässt sich die Warenproduktion auf die ganze Welt verteilen, sie findet nicht mehr nur in wenigen, hochgradig überbevölkerten Ballungszentren statt. Das könnte einen Prozess der Deurbanisation zur Folge haben, der wiederum die Umwelt entlastet. Wir könnten den Berufsverkehr radikal verringern, auf diese Weise ließen sich auch Energieverbrauch und Autoabgase reduzieren. Heute nutzen viele Arbeitnehmer das Angebot, pro Woche einen Tag „Home-Office einzulegen, aber sonst lautet der Befund: sich leerende Landschaften, rapide wachsende Städte, immer mehr Autos. Und doch könnte Toffler immer noch recht behalten, nur eben nicht für 2019, sondern für 2029 oder 2039.

    Eine Vorhersage zu treffen ist das eine, den Zeitpunkt ihres Eintretens zu prophezeien das andere. Im Jahr 2011 stellte der Physiker und Zukunftsautor Michio Kaku fest, dass trotz anderslautender Vorhersagen – man könnte bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgehen⁷ – die US-amerikanischen Einkaufszentren noch immer gut besucht waren.⁸ Sieben Jahre später ist das retail massacre in vollem Gange, eine mall nach der anderen macht dicht. Es dauerte eben nur ein paar Jahre länger, bis eine kritische Masse von Konsumenten sich entschied, das Sofa für den Einkauf nicht mehr zu verlassen. Dieses Zeitproblem kannten bereits die Weissager des Alten Orients, die in den Lebern von Schafen lasen. Sie gaben deshalb immer den Zeitraum an, auf den sich ihre Frage an die Götter bezog.

    Da viele Neuerungen sich gegenseitig beeinflussen, ist es von großer Bedeutung, wann genau welches Ereignis eintritt. Zum Beispiel darf man davon ausgehen, dass es immer mehr Bakterienstämme geben wird, die gegen Antibiotika resistent sind. Und man darf davon ausgehen, dass sich Bakterien genetisch verändern lassen werden. Doch was kommt zuerst? Es wäre für viele Menschen eine Frage von Leben und Tod. Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive des Geoengineering. Wird der Klimawandel so schnell ablaufen, dass der Mensch ihn durch gezielte Eingriffe nicht mehr wird aufhalten können? Oder wird der Mensch genug Zeit haben, um in wirksamer Weise Wetterveränderungen herbeizuführen und Sonnenstrahlen abzulenken?

    Ein weiteres Problem der Vorhersage liegt in der menschlichen Neigung, einmal erkannte Prozesse schnurstracks in die Zukunft fortzuschreiben. Zum einen drohen stets unvorhergesehen Ereignisse, denn diverse Supervulkane könnten jeden Augenblick ausbrechen, und eine mögliche Anwendung von Atomwaffen ist schon allein durch deren Existenz gegeben. Zum andern geben Verschiebungen im menschlichen Verhalten solchen Prognosen Unrecht. So gingen bis in die siebziger Jahre die Bevölkerungstheoretiker regelmäßig von mehr Geburten in den westlichen Ländern aus, als dann tatsächlich eintraten. Unterläuft den Demographen für die südlichen Länder derselbe Fehler?

    Ohne vernünftigen Zweifel wird die Weltbevölkerung weiterhin wachsen, doch wie lange, und wie schnell? Wird 2050 das Maximum erreicht oder doch erst nach 2100? 1972 prognostizierte die Studie Die Grenzen des Wachstums einen Höchststand von 9,2 Milliarden Menschen in den frühen 2040er Jahren. Die UNO ging 2014 bei 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit von 9,6 bis 12,3 Milliarden im Jahr 2100 aus.⁹ In dieser Schicksalsfrage wurden die problematischen Szenarien also nicht von der Realität widerlegt, sondern wegen aktueller Vorgänge verschärft. Aber auch die kurzfristigen Konjunkturen sind uneindeutig. Während das südliche Afrika schneller wächst als erwartet, sank in Marokko oder Bangladesch die Geburtenrate überraschend früher als gedacht.

    Und dann ist da noch die qualitative Seite des Wandels. Wir werden nie wissen, ob die Geburtenrate in Europa auch ohne die Antibabypille derartig abrupt gesunken wäre. Fest steht nur: Sie war plötzlich da und die Frauen gebaren weniger Kinder. Wissenschaftliche Fortschritte, die sich aufgrund ökonomischer Interessen schnell durchsetzen, können die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens kurzfristig ändern. Darauf können sich selbst behutsame Prognosen kaum einstellen.

    Europa, Mutter der Zukunft

    Solche Erkenntnisprobleme werden das Zukunftsdenken nicht aufhalten. Konfrontiert mit der immensen Dynamik der globalen Zivilisation können wir gar nicht anders, als zu spekulieren, wohin die Reise geht. Die Entfaltung dieser Dynamik ging von Europa aus, das – ungefragt – die Welt globalisiert hat. Die Erfahrung dieses Energieschubs musste das Nachdenken darüber anregen, woher all die Veränderung kam und wohin sie führen würde. Mit dem wirkungsvollen Handeln der Entdecker und Erfinder wuchs die Frage nach dessen Konsequenzen. Auf christlichem Nährboden erwuchs der Fortschrittsglaube der Aufklärer, der wiederum die europäische Tatkraft zusätzlich beflügelte. Die Zukunft im heutigen globalen Sinne ist somit ursprünglich ein Phänomen des europäischen Weltteils, der folgerichtig im Mittelpunkt dieser Biographie steht.

    Da die Zukunft nie ist, sondern immer nur sein wird, existiert sie allein in unserer Vorstellung. Unser kritisches Denken und unsere Phantasie machen sich Bilder von Welten, die vielleicht einmal entstehen werden. Das beginnt mit Statistiken und ihrer mutmaßlichen zeitlichen Fortschreibung, es endet mit abenteuerlichen Science-Fiction-Technologien, die erst in einigen Jahrtausenden die letzten Grenzen menschlicher Existenz sprengen könnten. Diese Biographie konzentriert sich auf jene erdachten Zukünfte, die von ihren Urhebern als einigermaßen realistische Möglichkeiten gemeint waren. Ihr Zeithorizont liegt in der Regel bei einigen Jahrzehnten, höchstens wenigen Jahrhunderten.

    Der Lebensweg unserer Heldin „Zukunft" beginnt im Alten Orient, wo sie, wie alle Kinder, vieles ausprobierte und auch gerne an Zusammenhänge glaubte, die für Erwachsene keinen Sinn ergeben. Diese frühe Zukunft war noch ganz anders als die heutige, nämlich disparat, kurzsichtig und ängstlich. Und sie war der unseren ähnlich, war sie doch von den eigenen Kenntnissen begeistert und doch fatalistisch.

    II

    DER HIMMEL UND DIE LEBER

    „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern."

    André Malraux

    In der Alten Welt gehörte Weissagung zum Alltag der Menschen und beeinflusste politische Entscheidungen. Sie versprach, Ereignisse zu kennen, bevor sie geschahen. Die dem Menschen unzugängliche Zukunft, aber auch verborgenes Wissen über Vergangenheit und Gegenwart sollte mit Hilfe der Götter und ausgefeilter Methoden in Erfahrung gebracht werden. Weissagung, lateinisch divinatio, was sich von divinus – göttlich – ableitet, war laut dem Philosophen Chrysipp „eine Kraft, die die von den Göttern den Menschen gegebenen Zeichen erkennt, wahrnimmt und erklärt". Sumerer, Babylonier, Griechen, Etrusker und Römer lasen aus der Leber von Opfertieren Hinweise auf das, was auf sie zukommen könnte.

    Unsere Kenntnisse der Divination ähneln einem beschädigten Wandbild, das an einigen Stellen viele Details wiedergibt, aber viel mehr noch unsere Phantasie herausfordert, große und kleine Fehlstellen zu füllen. So geben auf Tontafeln geschriebene Protokolle aus dem Zweistromland ein detailliertes Zeugnis darüber ab, wie eine Leberschau ablief, doch sind die weiteren Ereignisse oft unklar. In der griechischen Geschichtsschreibung sind die großen Zusammenhänge deutlicher, nicht aber die Details der Entscheidungsfindung. Verhältnismäßig viele Texte liegen aus der späten Römischen Republik vor, wo Weissagungen zu Gegenstand und Waffe in mörderischen Staatskrisen wurden.

    Über Jahrtausende wurde die Leberschau vom Iran bis an den Atlantik praktiziert, so dass sich die Alte Welt auch als Zivilisation der Leberschau bezeichnen lässt. Die Methode offenbarte Wissen über eine Zukunft, die unmittelbar vorausliegt. In einer Welt voller unsichtbarer, göttlich gewollter Wirkungen machte sie diese im Vorhinein sichtbar. Dabei konnte es vorkommen, dass die Götter dem Weissager einer feindlichen Stadt eine gegenteilige Nachricht übermitteln. Das aber störte nicht weiter in einer Zeit, als die Menschen eine große Akzeptanz für Uneindeutigkeit aufbrachten. Dieses inkonsequente und magische Denken erlaubt es, die Epoche der Leberschau mit der Kindheit der Zukunft gleichzusetzen.

    Ein König sieht klar

    Assurbanipal, König von Assyrien, ist ein gebildeter Mann und stolz darauf, wie eine Inschrift verkündet: „Ich … bin in die Wissenschaft von den Vorzeichen am Himmel und auf der Erde eingeweiht, diskutiere in der Versammlung der Gelehrten, deute mit den erfahrensten Leberschauern die Leberomen. Ich kann komplizierte, undurchsichtige Divisions- und Multiplikationsaufgaben lösen, habe schon immer kunstvoll geschriebene Tafeln in schwer verständlichem Sumerisch und mühsam zu entzifferndem Akkadisch gelesen, habe Einblick in die Schriftsteine aus der Zeit vor der Sintflut, die ganz und gar unverständlich sind."¹

    Assurbanipal, König des Assyrischen Reichs

    Wissen, das ist für diesen Herrscher des siebten Jahrhunderts vor Christus zunächst die Kenntnis von den „Vorzeichen am Himmel und auf der Erde", dann erst folgen Mathematik und alte Sprachen. Die Zeichen sind überall: im alltäglichen Lebensumfeld, in Krankheitssymptomen, in Träumen, vor allem aber in den Gestirnen und in den Organen von Opfertieren. Der König zieht sie für seine Entscheidungen beinahe täglich zu Rate.

    Im Jahr 652 v. Chr. fällt sein Bruder und Vasall Schamasch-schumaukin, König von Babylon, von ihm ab, ein Bürgerkrieg ist die Folge. Mindestens dreizehn Mal – so viele Tontafeln zu dieser Sache erhielten sich im assyrischen Staatsarchiv – wendet sich Assurbanipal in dieser Sache an die Götter und bittet sie, mittels der Leber von Opfertieren zu signalisieren, ob seine Vorhaben erfolgreich sein werden. Soll die Armee zu Felde ziehen? Habe ich den richtigen Kriegsplan? Wird der Rebell meinen Truppen in die Hände fallen? Werden sich andere Herrscher in der Region am Krieg beteiligen? Werden die Streitkräfte Assyriens den Gegner überwinden?

    Wichtigster Adressat der Fragen ist der Sonnengott Schamasch, der mit stets derselben Formel angerufen wird: „Schamasch, großer Herr, antworte mir mit einem klaren Ja auf das, was ich Dich frage. Die Zeremonie findet mit den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen statt, oft nach einer mit Beschwörungen verbrachten Nacht. Der Rauch von Zedernholz verlockt Schamasch dazu, sich mit sechs Götterkollegen den Angelegenheiten eines Sterblichen zu widmen und über dessen Anliegen einen Rechtsentscheid zu fällen. Die Frage flüstert der „Seher (Opferschauer) – besser gesagt nuschelt er, denn er trägt Zedernholzspäne im Mund – einem idealerweise makellosen, leuchtend weißen, männlichen Lamm ins linke Ohr, bevor er es mit einem Schnitt durch die Kehle schlachtet. Im Moment der Opferung schreiben die Götter dem Körper des Lammes ihre Botschaft ein. Der Wettergott Adad überbringt sie mit dem Wind und beschriftet die Leber. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Das Organ heißt auch „Tontafel der Götter" und tatsächlich ähnelt sie dem mesopotamischen Beschreibstoff in Form, Farbe und Größe. Die Kerben, welche der Seher in Augenschein nimmt, erinnern an die Kerben, die er selbst oder sein Assistent mit ihren keilförmigen Griffeln in den Ton des Opferprotokolls drücken.

    Tonmodell einer Orakelleber

    Der Seher löst Fleisch aus der Schulter, grillt es und legt es zusammen mit dem Bauchfett auf einen Opfertisch. Dann zieht er die Leber des rücklings auf einem Tisch liegenden Schafs mit der rechten Hand aus dessen Bauch und inspiziert nacheinander zwölf Leberregionen, die im Kreis gegen den Uhrzeigersinn angeordnet sind – sie entsprechen dem Himmelsrund mit den Tierkreiszeichen. Die Regionen des Organs heißen unter anderem der „Blick, der „Pfad, das „Palasttor oder, im Falle der Gallenblase, die „Bittere. Der Lesende achtet auf Knoten, Kerben, Blasen, Löcher oder die Spuren von Parasiten, und darauf, ob sie sich im jeweiligen Bereich auf der

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