Plattform Europa: Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können
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Die Öffentlichkeit in Europa ist heute national und digital organisiert – beides spielt Nationalisten und Populisten in die Hände. Die toxischen Diskurse über die Euro-Krise, den Brexit oder Migration haben die Europäer an den Abgrund gebracht, weil sie zwar übereinander, aber nicht miteinander reden. Die Digitalisierung könnte sie näher zusammenbringen, doch Facebook & Co. haben die digitale Öffentlichkeit privatisiert und zum Resonanzraum von Fakes und Trollen werden lassen. Die Plattform Europa will das ändern und das Internet endlich in den Dienst der Demokratie und Europas stellen.
Johannes Hillje
geb. 1985, ist Politikberater in Berlin und Brüssel und war Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Par-tei zur Europawahl 2014. Zuvor arbeitete er im Kommunikationsbereich der Vereinten Nationen in New York und in der heute.de-Redaktion des ZDF. Hillje hat an der London School of Economics einen Master-abschluss in Politics and Communication sowie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz einen Magister in Politikwissenschaft und Publizistik abgelegt.
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Book preview
Plattform Europa - Johannes Hillje
Europa.
_KAPITEL 1
DAS PROBLEM: EUROPA IM TEUFELSKREIS DER KRISENDISKURSE
DIE NEUEN PROEUROPÄER
Der Wandel, der sich in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs über die europäische Integration vollzogen hat, lässt sich in einem Mann personifizieren: Sebastian Kurz. Er trat drei Tage nach seinem Wahlsieg bei den Nationalratswahlen in Österreich 2017 vor die Mikrofone, um genau eine Botschaft zu platzieren: »Ich bin Proeuropäer.« Die Medien gestanden ihm dieses Label fortan unkritisch ein, auch politische Konkurrenten erhoben keinen Widerspruch. Gerade weil diese Bezeichnung im Widerspruch zu vielen Aussagen in seinem Wahlkampf steht, war es ein erster, sehr wichtiger »Spin«, den Kurz noch vor seiner offiziellen Vereidigung zum Bundeskanzler Österreichs setzte. Denn im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft wurde Wien zu einem politischen Machtzentrum Europas: Im Juli 2018 übernahm die Regierung Kurz den rotierenden Vorsitz des Rates der EU. Das vorsitzende Land hat für ein halbes Jahr die Hoheit über die Tagungsordnung des mächtigsten EU-Entscheidungsorgans, das sich aus den Chefs oder Ministern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Den Österreichern fiel diese Rolle in dem Moment zu, als die neue Regierung ein neues Kapitel in der Europapolitik des Landes aufschlug. Österreich galt lange Zeit in der Europäischen Union als östlichstes der westlichen Mitgliedstaaten. Seit dem Amtsantritt der konservativ-rechtspopulistischen Regierung ist es politisch eher das westlichste der östlichen Länder. Zu beobachten war dieser Wandel in der Vorbereitung und Ausführung des EU-Ratsvorsitzes.
Es hat Tradition, dass die Regierungen ihren Ratsvorsitz unter ein Motto stellen. Bevor Österreich am Zuge war, führte die bulgarische Regierung die Union unter dem Slogan: »Zusammen sind wir stark«. Österreich wählte den Leitspruch »Ein Europa, das schützt«. Dieses Motto hatte die österreichische Regierung wenig originell formuliert, war es doch wortwörtlich aus Emmanuel Macrons Wahlprogramm kopiert. Mit »Une Europe qui protège« hatte er das Europakapitel seines Programmes zur Präsidentschaftswahl 2016 überschrieben.⁴ Der Slogan hatte im französischen Wahlkampf gut funktioniert, weil er sich an die multiplen Ängste einer breiten Mittelschicht des Landes richtete. Macron versprach Schutz vor den sozialen Bedrohungen der Globalisierung, vor der ruinösen Steuervermeidung multinationaler Unternehmen, vor den Folgen des Klimawandels, vor der Gefahr durch den Terrorismus. Nun sind Slogans aber nur Hülsen und können folglich ganz unterschiedliche Inhalte umschließen. So nutze die Regierung Kurz zwar denselben erfolgsgeprüften Wortlaut, stellte aber ein Thema an die oberste Stelle ihrer Agenda, das für Macron keiner Schutzpolitik bedurfte: »Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration«. Nach der Kurz’schen Interpretation dieses Mottos sollte Europa seine Bürgerinnen und Bürger in erster Linie vor Menschen beschützen, die ihrerseits auf der Suche nach Schutz sind und ja erst in Ermangelung legaler Fluchtwege nach Europa zu »illegalen Migranten« werden. Hinter dem Versprechen vom Schutz vor Schutzsuchenden steckt das Verständnis von Flüchtlingen als physischer Gefahr: Drei Tage vor Übernahme des EU-Ratsvorsitzes führte die österreichische Regierung mit der Polizei- und Militärübung »Pro Borders« öffentlichkeitswirksam vor, wie sie mit Radpanzern und »Black Hawk«-Kampfhubschraubern das eigene Volk vor dieser »Bedrohung« im »Ernstfall« schützen würde. Das Empfinden von einer akuten Gefahr von außen ist die Voraussetzung für ein Schutzverlangen im Inneren. Aus dieser Angst akquiriert sich die Unterstützung für das Projekt »Festung Europa«. Gewiss: Österreich übernahm den Ratsvorsitz der EU in einer politisch festgefahrenen und emotional polarisierten Lage, insbesondere in der Flüchtlingspolitik. Sebastian Kurz betonte unermüdlich sein Selbstverständnis vom »Brückenbauer« – ein zweites Etikett, das er sich neben dem Proeuropäertum anheftete. Vermitteln wollte er insbesondere zwischen der migrationskritischen Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien) und migrationsfreundlicheren Regierungen wie Deutschland, Spanien, Griechenland und (mit Abstrichen) Frankreich. Bei einem Treffen der Visegrád-Länder plus Österreich im Juni 2018 kündigte sich jedoch bereits an, dass Kurz eher Brückenkopf als Brückenfläche im Konflikt dieser Regierungen sein würde. Kurz und die vier osteuropäischen Regierungschefs verkündeten bei ihrem Treffen in Budapest, dass man sich in der Flüchtlingspolitik in allen Punkten einig sei: keine solidarische Verteilung von Asylberechtigten innerhalb der EU, militärischer Schutz der Außengrenzen sowie die Einrichtung von Zentren für die Asylantragstellung außerhalb der Union. Viktor Orbán sagt nach dem Treffen in einem Radiointerview: »Die Visegrád-Staaten, Österreich und Italien bilden ein Lager in der Migrationspolitik.«⁵ Die Gemeinsamkeiten zwischen Wien und den Regierungen, die sich hinter der Vision vom »Europa der Vaterländer« vereinen, beschränken sich allerdings nicht auf die Asylpolitik. Und hier vollzieht sich der europapolitische »Shift« Österreichs: Auch wenn es um Kürzungen im EU-Budget geht oder um die Beschneidung sozialer Rechte von in Österreich lebenden EU-Bürgern, hat die ÖVP/FPÖ-Regierung insgesamt einen Kurs eingeschlagen, bei dem sich die EU stärker »zurücknehmen« – so stand es in den offiziellen Prioritäten der österreichischen Ratspräsidentschaft – und die Mitgliedsstaaten entscheiden lassen soll.⁶ Selbst wenn man in manchen Einzelfragen wie der Verteidigungspolitik zu mehr europäischer Kooperation bereit sein mag, hatte sich Österreich in der gegenwärtig wichtigsten Auseinandersetzung über die Zukunft der Europäischen Union klar positioniert: Nicht ein starkes Europa, sondern die starke Nation soll der Ort von Souveränität sein. Kurz steht für ein »Europa mit weniger Europa«. Es ist auf sein kommunikatives Geschick zurückzuführen, dass er sich trotz seiner national ausgerichteten europapolitischen Agenda unwidersprochen als »Proeuropäer« bezeichnen kann. Er darf dieses Etikett mittlerweile sogar für seine gesamte Regierung reklamieren, die FPÖ inklusive, weil der Kanzler seinem Koalitionspartner abgewöhnt hat, den Austritt aus dem Euro und ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft zu fordern. Die europäische Gemeinschaft nicht verlassen zu wollen, gilt nach der Lesart von Kurz schon als proeuropäisch. Die Gleichung wenn ich nicht dagegen bin, bin ich dafür geht allerdings nicht auf. Im ersten Artikel der Europäischen Verträge ist formuliert, dass die EU-Mitgliedsstaaten eine immer tiefergehende Union (»ever closer union«) zwischen den Bürgerinnen und Bürgern Europas schaffen wollen. Im Kern war das jeher das Leitmotiv, das der Politik der EU-Institutionen und »proeuropäischen« Länder zugrunde lag. Ganz im Sinne Helmut Kohls. Europa ist demnach nicht Status quo, sondern ein Weg zu einer vollkommeneren Gemeinschaft. Diesen Weg der Vertiefung wollen Kurz und das »Vaterländer«-Lager nicht gehen. Wenn diese Regierungen »Ja« zu Europa sagen, dann sagen sie »Ja« zu einem zurechtgestutzten Europa: Eines, dass die Nationalstaaten stärkt, Kompetenzen renationalisiert, die Entscheidungen im Europäischen Rat mit Einstimmigkeitsprinzip zwischen nationalen Regierungen trifft und den supranationalen Institutionen ihre legislative, ja insgesamt politische, Potenz raubt. Nur ist ein solches Europa ein Europa des Nationalismus und damit das Gegenteil von dem, was die EU-Verträge langfristig vorsehen.
Warum lohnt es sich, auf der Selbsternennung von Sebastian Kurz zum »Proeuropäer« so sehr herumzureiten? Weil sie ein Zeugnis für das Diskursversagen über europäische Politik ist, das in diesem Kapitel ausführlich problematisiert wird, und deren Ursachen im zweiten sowie eine Lösung im dritten Teil des Buches beschrieben werden. Kurz ist eine weitreichende sprachliche Verschiebungsleistung gelungen, die das heutige Denken über Europa prägt: Lange Zeit wurden jene politischen Kräfte in Europa als »proeuropäisch« bezeichnet, die möglichst bald mehr Integration innerhalb der Europäischen Union durchsetzen wollten. Das »Pro« stand dabei nicht so sehr für den eigentlich Wortsinn (»für«), sondern eher für »Progression«. Man versprach sich eine bessere Zukunft in einer schnell fortschreitenden Vertiefung der EU. »Contra-Europäer« gab es – abgesehen von einigen rechtspopulistischen Pionieren – lange Zeit kaum, auch deshalb konnte »pro« mit »mehr« statt nur mit »für Europa« gleichgesetzt werden. In vielen EU-Ländern verlief die Konfliktlinie im politischen Mainstream zwischen jenen, die eine schnellere europäische Integration wünschten (meist sozialdemokratische, liberale und grüne Kräfte) und solchen, die es langsamer angehen wollten oder mit dem Status quo zufrieden waren (meist konservative Parteien). Bis zur Eurokrise waren Proeuropäer in der Regel europäische Föderalisten, also Unterstützer einer föderalen Struktur der EU mit europäischer Regierung. Ein Prinzip, das sich auch in Konzepten wie den »Vereinigten Staaten von Europa« oder der »europäischen Republik« niederschlägt. Proeuropäer fühlten sich als Vorreiter auf dem alternativlosen Weg zur Vollendung der Union. Die WELT beschrieb diese politische Spezies am 12. Oktober 2012 noch wie