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Der Weltenbefreier: Tybay 4
Der Weltenbefreier: Tybay 4
Der Weltenbefreier: Tybay 4
Ebook993 pages13 hours

Der Weltenbefreier: Tybay 4

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About this ebook

Dem Königreich Tybay steht eine neue Bedrohung bevor: Hochkönig Trevor. Der Herrscher über Königreiche auf vier Planeten befehligt eine gewaltige Armee gnadenloser Soldaten, feuerspeienden Zeros und magiebeherrschenden Druiden.
Tybay und die anderen Länder haben einem so übermächtigen Gegner kaum etwas entgegenzusetzen. Trotzdem gibt es Widerstand. Die Göttin, Tybays Allmacht, erwählt den jungen Prinzen Jamie als ihren Streiter. Kann es ihm überhaupt gelingen seine Heimatwelt zu befreien? Denn längst stehen nicht nur die Freiheit und das Überleben Tybays auf dem Spiel.
LanguageDeutsch
Release dateMar 18, 2019
ISBN9783945230411
Der Weltenbefreier: Tybay 4

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    Book preview

    Der Weltenbefreier - Tanja Kummer

    Zeittafel

    Auf den Windinseln

    Prinz Jamie Quinfee War sog die frische Meeresbrise in seine Lungen. Hier, direkt am Meer, war das Wetter im Hochsommer längst nicht so drückend heiß wie im Landesinneren Tybays. Zudem genoss er die maritimen Gerüche. Ganz im Gegensatz zu seiner Begleiterin Rana Thul. Seit sie auf der südlichsten Insel der Windinselgruppe angekommen waren, ging es ihr gesundheitlich zwar besser, doch alleine bei dem Anblick von Bootsdielen wurde sie grün im Gesicht. Und genau diesen stand Rana nun wieder gegenüber.

    »Ich kann nicht glauben, dass du freiwillig auf einem dieser Folterinstrumente mitfahren möchtest«, sagte die junge Frau entrüstet.

    »Kein Pferd, das ich kenne, läuft so schnell, wie diese Segelboote über die Wellen jagen. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, darauf zu reiten.«

    Rana starrte Jamie an. Ihre rotblonde Haarmähne, die ihr bis zu den Hüften hinabreichte, umwehte ihre Gestalt wie eine feurige Aura. Ihr ovales, blasses Gesicht empfand Jamie als besonders schön, wenn sich ihre Wangen bei Zorn oder körperlichen Anstrengungen leicht röteten. Ihre grüne Augen lagen unter langen, dichten Wimpern. Rana hatte außerdem die auffällige Größe ihres Vaters Degger geerbt, zusammen mit seinem sanftmütigen Charakter. So wie sie ihre bezaubernde Figur, nur nicht so üppig, von ihrer Mutter Ember mit auf den Weg bekommen hatte. Und ganz gleich wo Rana hinkam, dort bewunderte man ihre Schönheit. Und das, obwohl sie hauptsächlich Männerkleidung trug. Ihr selbst war das gleichgültig. Sie gab nichts auf derlei Äußerlichkeiten. Zudem war sie selbstlos und bescheiden. Darum war Rana nicht nur seine beste Freundin, sondern auch seine Beraterin und Kampfgefährtin. Er vertraute ihr. Blind und bedingungslos. Doch das bedeutete nicht, dass er immer auf ihren Rat hörte.

    »Morgen treten wir die Heimreise an. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, heute noch mit einem dieser Boote hinauszufahren. Wir sollten uns besser ausruhen«, empfahl Rana ihm.

    »Du kannst das gerne tun.« Jamie lächelte sie an. »Ich aber werde eine Runde drehen.«

    »Das Wetter ist ideal, Sire«, erklärte der Bootsbesitzer. »Der Wind ist uns wohlgesonnen und es ist nirgendwo auch nur ein Wölkchen in Sicht.« Der Mann, mehr als einen Kopf kleiner als Jamie, grinste ihn anzüglich an. »Falls sich Eure Gemahlin aber um Eure Rückkehr sorgen sollte, so gebe ich ihr mein Wort, dass ich Euch sicher zurückbringen werde. Und falls nicht, so würde ich mich gerne aufopfern, um mich um sie zu kümmern.«

    Rana wurde vor Zorn und Verlegenheit rot im Gesicht.

    Jamie lachte belustigt und dachte nicht im geringsten daran, den Mann über seinen Irrtum aufzuklären.

    »Aye, Kapitän, wohl denn«, rief er und sprang an Bord. Jamie reichte ihm ein paar Münzen, ehe er zu dem einzigen Mast in der Mitte des Bootes trat. Im Gegensatz zu dem flachen, relativ kleinen Rumpf wirkte der Mast überdimensional groß. Jamie blickt bewundernd hinauf und berührte das Holz ehrfürchtig. Er hatte Boote wie diese in der Heimatwelt seiner Mutter gesehen. Segelkatamarane nannte man sie dort, und sie waren unglaublich schnell und anmutig.

    Unterdessen löste Rana die Leinen, mit denen das Boot am hölzernen Pier vertäut war.

    »Viel Vergnügen«, wünschte sie Jamie zögernd und winkte ihm besorgt und ein wenig unsicher hinterher.

    Jamie verstand ihre Angst nicht. In seinen Augen war diese vollkommen unbegründet. Was sollte bei einer kleinen Segeltour passieren?

    Rana, Lord Ian und er waren gemeinsam als Delegation hier. Sie hatten die Einladung des Herrschers der Windinseln angenommen und waren angereist, um Verträge zwischen ihren Ländern zu verhandeln. Offiziell ging es dabei um neue und direktere Frachtrouten, damit verderbliche Handelsgüter schneller auf dem Seeweg transportiert werden konnten.

    Die Windinsel-Gruppe im Sturmmeer bestand aus sieben Inseln. Die Kleinen Fünf, wie die Einheimischen die nördlichen Inseln nannten, waren kaum bewohnt, aber stark bewaldet. Landwirtschaft wie Getreideanbau waren auf ihnen undenkbar, doch es gab vereinzelte Obstplantagen. Die Kleinen Fünf brachten ungefähr so viel Landfläche zusammen wie die mittlere Insel und dort erntete man genau so viel Holz und Obst. Die südlichste und größte Insel beherbergte den Regierungssitz, die Stadt Synthara. Die meisten Einwohner lebten hier und reisten per Boot zu den Teilen der Inseln, wo sie arbeiten konnten. Natürlich gab es viele Familien, die sich auf den Fischfang spezialisiert hatten. Dementsprechend groß war der Hafen und irgendwie besaß fast jede Familie ein Boot.

    Die Holzhäuser in Hafennähe ragten mehrere Stockwerke hoch, um möglichst viel Wohnfläche zu bieten. Das blieb einige Häuserzüge lang so, ehe sich dahinter das bescheidene, wenn auch großzügig bemessene Anwesen des Herrschers der Windinseln erhob. Zusammen mit seinen Verwaltern und Beratern regierte er dort und lehnte jede Titelbezeichnung ab. Er war einfach nur Kertchek. Darum war es in der Region auch nicht üblich, jemanden wie Jamie als Mylord anzusprechen. Die Gleichheit eines jeden Menschen waren dem Herrscher und dem Volk wichtig. Kertcheks Wurzeln entsprangen derselben Arbeiterklasse wie die seiner Untertanen. Seit acht Jahren regierte er nun das Land. Nach seinem Tod würden die Windinseln nicht wie bei einer Monarchie an dessen Sohn oder Familie weitergegeben, sondern an den nächsten, reichsten Händler fallen. So war auch Kertchek zu diesem Posten gekommen, der zwar die Hälfte seines Vermögens einforderte, so aber die Landeskassen immer wieder füllte. Und gerade in einem sehr kleinen Land, das wenig verschiedene Einkommensmöglichkeiten hatte, ergab das ein gutes System, die Ehre und den Reichtum zu erhalten. Wer sich von den Händlern nicht berufen fühlte das Amt des Herrschers anzunehmen, verlegte seinen Hauptsitz in die angrenzenden Häfen des Festlandes von Tybay oder Cortella. Und schon war er nicht mehr dazu berechtigt, Gebieter der Windinseln zu werden. Doch leider waren in den letzten Jahren immer mehr betuchte, einheimische Händler abgewandert. Dies hatte Handelspartner in das Geschäft gelockt, welche die Mentalität der Windaner – wie sich das Volk selbst bezeichnete – nicht verstehen wollten oder konnten. Schließlich fuhren die Windaner nicht nur zur See, um zu fischen oder Waren zu transportieren, sondern auch, um Handelsschiffe anderer Länder zu entern, wann immer sich die Gelegenheit bot. Jamie musste bei diesem Gedanken unbewusst grinsen, denn Lord Ian nannte die Windaner Wasserräuber. Piraten also, wenngleich diese Bezeichnung aus der Welt seiner Mutter stammte. Kleine Handelsschiffe waren hierbei die bevorzugte Beute der Piraten, da die größeren Schiffe zu schwer bewaffnet waren und es den Windaner schließlich nicht darum ging, dass jemand verletzt wurde, gleich auf welcher Seite. Sie betrachteten es eher als eine Art Sport, wenn sie mit ihren kleinen, schnellen und wendigen Booten das Handelsschiff wie ein Rudel Wölfe einkreisten, um einen Wegzoll zu verlangen. Einst war es üblich gewesen, diesen zu bezahlen. Als Austausch dafür erwarb man eine Flagge, die einen vor dem nächsten Übergriff für ein paar Tage schützte. Doch in den letzten Jahren hielten sich alle Seiten nicht mehr so richtig daran und es war zu bedauerlichen und blutigen Zwischenfällen gekommen. Das war einer der Gründe, warum Kertchek sie, und weiter Verbündete, zu diesem Treffen geladen hatte. Man würde neue Verträge brauchen, um alle Parteien zu schützen.

    Da sich in Lywell – die Regierungsstadt von Tybay und im Inland liegend – niemand so wirklich mit Schifffahrt auskannte, hatten König Shawn und seine Frau Grace beschlossen, Lord Ian damit zu beauftragen. Er sollte ihren Sohn Jamie, den Prinzen, begleiten. Lord Ian, der einst als Schmuggler tätig gewesen war, danach jedoch ein ehrenhafter Händler und Ratsmitglied wurde, kannte sich mit Schiffen, Handelsrouten und all diesen Dingen hervorragend aus. Zusammen mit Rana und einem halben Dutzend Soldaten, waren sie vor knapp einer Woche mit einem Handelsschiff angereist. Die ersten Tage ihres Aufenthalts hatten alle Gäste genutzt, um das Land und die Mentalität der Menschen besser kennenzulernen. Das war Kertchek sehr wichtig gewesen und Jamie hatte von Anfang an verstanden, dass dieses Kennenlernen die Verhandlungen zu Kertcheks Gunsten entscheiden sollte. Daher hatte sich Jamie vorgenommen, entsprechend achtsam an die Unterredungen zu gehen. Eine unnötige Vorsicht, wie sich dann aber herausstellte, denn Kertchek und seinem Volk genügte es, wenn Traditionen bewahrt und Parteien respektiert wurden. Ihr Stolz und ihr Ehrgefühl verbot es ihnen, sich selbst in zu großem Maß zu übervorteilen, und sich damit über kurz oder lang wichtige Verhandlungspartner zu vergraulen.

    Die Vibration, die das Holz des Mastes übertrug, holte Jamie aus seinen Gedanken zurück. Sie waren inzwischen außerhalb der Hafenanlage und die Mannschaft, zwei weitere Männer, hatten das Segel gesetzt. Der dazu gewonnene Schwung ließ den Mast erzittern, während das Boot selbst an Geschwindigkeit gewann.

    Die Segelboote der Windaner besaßen links und rechts der Plattform zwei große Rümpfe, die, wie man ihm gesagt hatte, hohl waren. Mit Tierhäuten und Teer hatte man die Stämme versiegelt und so einen leichten, auftreibenden Unterbau für das flache Floßdeck entwickelt, auf dem man Frachten und die Mannschaft transportierte. Zudem konnten die Boote kostengünstig gebaut werden, da das Rohmaterial auf den Inseln wie Unkraut nachwuchs.

    Da die Windaner auf ihren Booten sehr schnell unterwegs waren, war das für die Frische von Handelsware wie Obst oder Fisch von unschlagbarem Vorteil. Die Boote erfüllten zumindest auf kurzen Strecken ihren Zweck. Doch längere Fahrten waren ohne Stauraum für Frischwasser und Nahrungsmittel schwierig und bargen zudem unvorhersehbare Wetterrisiken. Immerhin konnte die See ab und an sehr ungnädig sein und Fracht und Besatzung ohne vorhandene Reling einfach über Bord spülen.

    Jamie sah auf das offene Meer hinaus, auf dem sich die Sonne als goldene Wellenkronen widerspiegelte.

    Jamie hatte mit Absicht genau diesen Katamaran ausgewählt. Denn gestern hatte Kertchek zur Unterhaltung seiner Gäste einen kleinen Wettstreit veranstaltet. Da waren ausschließlich Segelboote, mit nur einem Mann – dem Kapitän – zu einer Art Slalom unterwegs gewesen. Alle fünf Kontrahenten hatten natürlich versucht, die Ziele schnellstmöglich zu umfahren und als erster wieder im Hafen zu sein. Das Schauspiel hatte Jamie fasziniert und bereits gestern hatte er beschlossen, den Gewinner des Wettkampfs aufzusuchen und diese Fahrt zu unternehmen. Doch erst jetzt hatte sich die Gelegenheit ergeben.

    »Habt Ihr es Euch so vorgestellt, Sire?«, fragte der Kapitän.

    »Nennt mich Quin«, bot Jamie ihn an. Er benutzte die Kurzform seines Zweitnamens immer, wenn er nicht als Thronfolger erkannt oder angesprochen werden wollte.

    »Und ich bin Jaz, Sire«.

    »Ich habe Euch gestern fahren sehen, Jaz. Ihr wart der Beste.«

    »Danke, Sire. Doch es war knapp.«

    »In der Tat, aber bei der Göttin, Ihr habt das Boot so geneigt, dass ich glaubte, es müsse jeden Moment kentern.«

    »Niemals!« Jaz grinste. »Das ist der Vorteil unserer Boote. Wir können sie so stark krängen, dass wir sie auf einem Rumpf fahren, so wie Ihr das gestern gesehen habt. Sollen wir ein Versuch wagen?«

    »Noch nicht.« Jamie lächelte. Die Wellen, die nun vom Festland kamen, wurden härter und die Fahrt verlor etwas an Geschwindigkeit. Nun ließ Jaz das Boot abdrehen und sie tauchten in die Strömung des Kanals ein, der die beiden Länder trennte.

    Möwen überflogen das Boot, während plötzlich Wellentänzer auftauchten, um mit ihnen zu schwimmen. Die silberfarbenen Fische wurden etwa einen halben Meter groß. Sie hatten einen länglichen Kopf und einen schlanken, langen Körper. Aus ihrem Leib wuchsen vier flügelähnliche Flossen, die je nach Lichteinfall golden oder blau schimmerten. Damit war es ihnen möglich, fast hundert Meter zu fliegen. Jamie hatte schon oft gesehen, wie sie Schiffe begleiteten, doch zumeist aus einer höheren Position. Von dem flachen Deck aus waren sie fast auf Augenhöhe. Sie wirkten wunderschön, anmutig und sie glänzten wie flüssiges Silber. Und während sie sprangen, da konnte man meinen, sie würden fliegen. Zudem lächelten sie ununterbrochen, zumindest sah es so aus.

    Nun lächelte Jamie ebenfalls. Tief befriedigt, denn die Fahrt war jede Sekunde wert.

    »Sie passen sich unserer Geschwindigkeit an«, erklärte Jaz.

    »Habt Ihr sie schon mal in einem Rennen geschlagen?«

    »Ja, im Sturmmeer, wo die Winde günstig sind und mit einem leichteren Boot.«

    Jamie nickte und sah den Wellentänzer zu. Ein faszinierendes Schauspiel. Er genoss den Duft des salzigen Meeres und atmete tief ein. Die frische Seeluft reinigte seinen Geist, während die Sonne seine Haut umspielte und ihr einen dauerhaften Goldton verlieh. Zufrieden seufzend schloss er die Augen und lauschte dem Klang des Meeres.

    Der Kapitän steuerte auf die Öse des Kanals zu, während die Zeit verging. Jaz wollte bis fast zur Verengung fahren, ehe sie wenden und zurückkehren würden. Um die Hauptinsel einmal zu umsegeln, wären sie viel zu lange unterwegs. Schließlich erwartete ihn später noch Arbeit. Der Gedanke an den Abschluss diverser Verträge drückte seine gute Laune. Daher beschloss er, alles Geschäftliche für den Rest der Fahrt zu verdrängen.

    »Bitte gestattet mir eine Frage, Sire.«

    »Nur zu, Jaz.« Jamie öffnete seine Augen und sah ihn fragend an.

    »Ihr kommt aus Tybay, oder?«

    »Ganz recht, warum?«

    »Haben viele eurer Frauen feuerrotes Haar wie Eure Gemahlin?«

    Jamie blinzelte den Kapitän überrascht an. Erst jetzt, wo er so darüber nachdachte, da wurde ihm klar, dass die hier vorherrschende Haarfarbe braun oder schwarz war. Die meisten Windaner hatten eine bronzefarbene Haut, waren schlank, klein und kräftig, wenn auch etwas dürr. Was sicher daran lag, dass es hier nur wenige Masttiere oder Getreidefelder gab und Fleisch oder Korn daher teuer war. Fisch hingegen gab es im Überfluss.

    »Nein, so nicht.« Jamie grinste anzüglich und erinnerte sich an die Worte des Kapitäns, dass er sich um sie kümmern würde. Offenbar keine leeren Versprechungen Rana gegenüber. »Es gibt viele Frauen, deren Haupthaar Kastanienbraun ist. Doch Ranas Pelz gleicht mehr dem eines Fuchses und in der Sonne strahlen einzelne Strähnen golden. Sie ist wunderschön.«

    Jamie erinnerte sich ihres Körpers, wenn sie als Kinder zusammen unterwegs gewesen waren. Sie waren selbst dann noch nackt im See geschwommen, als ihre Eltern es längst als unschicklich bezeichnet hatten. Doch sie wuchsen wie Bruder und Schwester auf. Jamie empfand Rana sogar eher als Schwester wie Anna, die etwa fünf Jahre älter war als er. Von dem Altersunterschied von über sieben Jahre zwischen ihm und Necom ganz zu schweigen. Doch auch Jamies und Ranas unbedarfte Kindheit hatte nicht ewig angedauert. Mit ihrer ersten Monatsblutung wurde Rana zur Frau, während Jamies Prüfung zum Mann erst noch bevorstand. Ihnen beiden waren die spürbaren Veränderungen ihrer Körper und ihrer Freundschaft schwergefallen. Jamie dachte an den Schock, als er ein paar Jahre später, er war fast fünfzehn gewesen, Rana zum ersten Mal geküsst hatte. In diesem Moment hatte er es nicht wie ein Bruder getan, sondern wie ein Junge, der ein Mädchen küsste, das ihm gefiel. Danach hatte Rana eine Woche lang nicht mehr mit ihm gesprochen und ihn dann gebeten, es nie wieder zu tun. Inzwischen hatte Jamie sich damit abgefunden, dass ihre Freundschaft mehr Wert war, als eine körperliche Liebschaft. Doch ab und an bedauerte er es, ihr nie gesagt zu haben, dass er in sie verliebt war. Sehr sogar. Aber eine Verbindung dieser Art war auch von ihren Eltern aus unerwünscht.

    »Ihr seid ein wahrer Glückspilz«, sagte Jaz, der es ja nicht besser wusste. Jamie überlegte, ob er ihm die Wahrheit sagen sollte, doch das wäre jetzt einfach zu peinlich gewesen.

    In diesem Moment verabschiedeten sich die Wellentänzer, sie schwammen weiter auf das Nadelöhr zu, während Jaz und seine Mannschaft das Boot bei voller Fahrt, auf engstem Kreis, wendeten. Gischt spritzte Jamie ins Gesicht, als die ganze Gewichtsbelastung nur auf einem Rumpf herrschte, das Boot aber weder auseinanderbrach, noch kenterte. Jamie stieß einen Jubelschrei der Freude aus. Er genoss auch den kleinsten Augenblick, während die Männer, von Jamies Begeisterung angesteckt lachten.

    Danach waren sie viel zu schnell wieder zurück im Hafen von Synthara. Die Männer verabschiedeten sich voneinander und wünschten sich gegenseitig Glück. Dann sprang Jamie auf den Pier und folgte dem Weg zum Anwesen von Kertchek.

    Im Gegensatz zum heimatlichen Lywell waren die Häuser hier nicht aus Stein, sondern komplett aus Holz gebaut, dennoch sehr stabil. Zudem fand Jamie es ansehnlich und praktisch. Das Holz wuchs hier, musste nicht weit herangeschleppt werden und war einfacher zu verarbeiten.

    Die Menschen hier waren ausnahmslos freundlich, aber auch stolz und leidenschaftlich. Trotzdem war ihre offene Art eine Wohltat, um sich von den Förmlichkeiten des Hofes von Lywell zu erholen.

    Das Anwesen des Herrschers war ebenfalls aus Holz, auch wenn hier zumindest teilweise Stein verarbeitet worden war. Zudem war der Baustil im ganzen viel offener, da es hier selbst im Winter recht mild war. So kam es, dass fast alle Räume hell und sonnendurchflutet waren, was Jamie gefiel. Allerdings war es so auch schwerer, unentdeckt zu bleiben. Kaum zurück fing ihn Lord Ian ab. Und dieser sah ganz und gar nicht zufrieden aus.

    »Wo wart Ihr?«, fragt er barsch.

    »Ich bin in See gestochen, sozusagen.«

    »Das war dumm und gefährlich.«

    »Nicht gefährlicher als zu baden«, konterte Jamie verstimmt. »Ich hab mich dabei absolut sicher gefühlt.«

    Ian schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das nächste Mal nehmt Ihr einen Eurer Soldaten mit, wenn Ihr wieder das Bedürfnis verspürt, aufs Meer hinaus zu fahren.«

    »Weshalb? Wird er versuchen das Boot festzuhalten, falls es kentert? Oder etwa an Land zurückschwimmen, um Hilfe zu holen?«

    »Behaltet Euren Spott für Euch, Mylord. Euer Wohlbefinden wurde mir anvertraut und seid gewiss, dass ich dieses nicht leichtfertig aufs Spiel setzen werde.«

    »Ich bin kein kleines Kind mehr«, konterte Jamie.

    »In der Tat, das seid Ihr nicht.« Sein Blick sagte allerdings überdeutlich, dass Ian sich wünschte, er wäre eins. Am besten noch sein eigenes, welches er zur Strafe übers Knie legen könnte.

    Jamie grinste.

    »Kommt jetzt«, sagte Ian ungehalten. »Wir sollten mit den Verhandlungen fortfahren. Kertchek wartet bereits.«

    Der Prinz nickte. Er, Ian und Rana waren nicht einzigen gewesen, die Kertchek geladen hatte. Eine inhaltlich gleichlautende Einladung war auch an den Herrscher von Cortella, König Ernak, sowie an Khul Gurl aus Janeiro gegangen.

    König Ernak

    Cortella lag östlich von den Windinseln und profitierte wirtschaftlich am meisten von der Nähe. Doch König Ernak hatte nur einen zweitklassigen Berater und einen mittelständischen Händler zu den Verhandlungen geschickt, zu denen er von Kertchek eingeladen worden war. Beide Männer hatten keinerlei Befugnisse, irgendwelchen Abkommen zuzustimmen oder Verträge zu unterzeichnen, was ihre Anwesenheit sinnlos machte und fast schon einer Beleidigung gleichkam. Solch einen offenen Affront hätten Jamies Eltern jedenfalls niemals geduldet. Doch Kertchek war ihnen gegenüber ein freundlicher und zuvorkommender Gastgeber.

    Aber vielleicht überbewertete Jamie das aufgrund seiner Erlebnisse und der daraufhin gebildeten Meinung. Er zumindest hielt König Ernak für einen ich-bezogenen, gewalttätigen Pfau.

    Sechs Jahre zuvor.

    Jamie verspürte wenig Lust, seine Eltern nach Cobenera, der Regierungsstadt von Cortella, zu begleiten. Immerhin hatte man als dreizehnjähriger Junge einfach andere Dinge im Kopf. Doch König Ernak hatte Jamies Eltern zu einem festlichen Bankett geladen: 300 Jahre Cortella. Darum bestanden sie darauf, dass er, als königlicher Erbe des Hauses War, sie begleitete. Zum Glück gab es solche Termine eher nicht so oft, weshalb er zähneknirschend mitkam. Außerdem entfiel die wochenlange Anreise mit Pferd und Kutsche, da sich seine Eltern entschlossen hatten, den Weltenring zu nutzen – was selten vorkam. So kam es, dass Jamie und seine Eltern mit nur einem Schritt durch das magische Tor von Lywell, direkt nach Cobenera kamen. Ein Diener, der sich als Fharharr vorstellte, begrüßte sie im Hof und brachte sie zu ihrem Quartier.

    Jamie sah sich staunend um. Der Regierungspalast, der aus mehreren Gebäuden bestand, war eindeutig freizügiger bemessen als das heimische Schloss. Die Bauweise war nicht so hoch, nur dreistöckig mit flachem Dach. Die Gebäude hatten große, bodentiefe Fenster, die Rahmen goldfarben. Weiße, hauchzarte Gardinen hingen davor und flatterten sanft in der Brise. Die Fenster im obersten Stock waren vergittert. Womöglich, so dachte der junge Jamie, dass niemand hinausfallen kann.

    Im Innern gab es wenig zu staunen. Die Mauerwände waren gekalkt, kaum geschmückt. Wenn doch, dann nur mit schlichten, hellen Wandteppichen ohne Bildnisse. Gemälde sah Jamie keine. Dafür gab es reichlich ziemlich große Pflanzen. Seine Mutter stöhnte – ein Laut zwischen Missbilligung und Bewunderung.

    »Da hat wohl jemand einen grünen Daumen«, flüsterte sie.

    »Wer hat einen grünen Daumen? Und tut das weh?«

    »Und wie ist der grün geworden?«, fügte Jamie den Fragen seines Vaters hinzu.

    Das Lachen seiner Mutter hallte durch den leeren Gang.

    »Aber das sagt man doch nur so«, erklärte sie; oder auch nicht. Nachdem sie dem also nichts weiter hinzufügte, sah Jamie, wie sein Vater mit den Schultern zuckte und sie dem Diener schweigend folgten. Kurz darauf erreichten sie ein großzügiges Quartier mit zwei Schlafzimmern. In der Mitte des Logements befand sich ein kleiner, runder Teich mit weißen und rosafarbenen Seerosen.

    »Ich werd’ verrückt!«, rief seine Mutter entzückt. »Sieh nur!« Bewundernd umrundete sie den kleinen Teich.

    »Ich denke nicht, dass wir sowas in unserem Schlafzimmer brauchen.«

    »Stimmt. Sowas braucht kein Mensch. Aber es sieht einfach wunderschön aus.«

    »Grace«, sagte sein Vater sanft.

    »Nur weil es mir gefällt, heißt das nicht, dass ich es haben muss«, antwortete sie ungehalten.

    Jamie rollte mit den Augen. Seine Eltern stritten eigentlich so gut wie nie. Jedenfalls nicht, wenn er dabei war. Und ihm war auch gleich, ob es ein Streit war, oder eine Diskussion, wie es seine Mutter nannte.

    »Falls ihr etwas wünscht, dann könnt ihr nach mir läuten«, sagte Fharharr neben Jamie und zog sich unauffällig zurück. Seine Eltern, vertieft in einem Gespräch über Sinn oder Unsinn, und über grüne Daumen, bekamen davon nichts mit.

    Jamie erkundete unterdessen ihre Unterkunft. Außer dem Teich gab es einen Tisch mit sechs Stühlen. Und einige Liegen mit Kissen zum Ausruhen. Die beiden Schlafzimmer hatten jeweils Doppelbetten und Truhen.

    Eweligo hatte bereits dafür gesorgt, dass benötige Kleidungsstücke vorweg hierher gebracht worden waren. Eweligo. Das Elementarwesen war einzigartig in seiner Welt. Jedenfalls hatte Jamie nie zuvor einen anderen gesehen. Eweligo, gerade Mal eine Elle groß, sah wie ein sehr, sehr kleiner Mensch aus. Zudem wuchsen zwei libellenartige Flügel aus seinem Rücken. Seine Finger sahen etwas aus wie bei einem Frosch und es war ihm möglich, auch sehr schwere Dinge – für seine Statur – zu transportieren. Erschaffen durch und mit Magie, konnte er begrenzt Magie nutzen. Damit gelang es ihm, sich in eine beliebige Tierform zu verwandeln. Vorausgesetzt, dieses Tier war nicht größer als seine Ausgangsgestalt. Eweligo war schon mehr als zwei Jahrhunderte ein zuverlässiger Verbündeter und Freund der Königsfamilie.

    Jamie setzte sich auf das Bett, welches in der kommenden Nacht seins sein würde. Gelangweilt sah er sich um. Trommelte mit den Schuhen auf dem Boden. Hörte seinen Eltern eine Zeit lang beim Streiten zu. Langweilig. Stand auf und sah aus dem Fenster zur Stadt raus. Langweilig! Dann ging er zur Truhe, um seine Kleider für den Abend herauszuholen.

    Oben auf lag ein Bild. Jamie musste sofort grinsen. Rana hatte viele Talente – malen war keins davon. Dennoch war die Botschaft des Bildes klar und deutlich: Da stand ein Mädchen auf einer Wiese und streckte dem Betrachter die Zunge heraus.

    »Warte nur, bis ich wieder Zuhause bin.«

    Am frühen Abend begann die Festlichkeit. Es waren ziemlich viele Gäste geladen. Und jeder wurde persönlich aufgerufen und von König Ernak begrüßt.

    Cortellas König war ein kleiner Mann. Er war nicht mal so groß wie seine Mutter. Zudem hatte er O-Beine und eine Knollennase. Er war dunkelhaarig, gut gekleidet und trug pompösen Schmuck. Außerdem begann bei ihm fast jeder zweite Satz mit »Ich«.

    Nach der Begrüßung standen die Gäste zumeist in Gruppen beieinander und unterhielten sich. Auch seine Eltern begrüßten Freunde und Geschäftspartner. Für Jamie bedeutete das, dass er sehr lange still stehen und sich benehmen musste. Oder belanglose Gespräche über das Wetter und das Befinden führen. Das würde zu einer echten Herausforderung werden, da ihm fast augenblicklich langweilig war. Stattdessen überlegte er sich, wie er es Rana am besten heimzahlen konnte.

    »Spinnen!«, rief er daher, als ihn seine Mutter anstupste.

    Sie lachte. »Wo bist du mit deinem Kopf?«

    »Mein Kopf sitzt auf meinen Schultern«, erklärte er würdevoll. »Meine Gedanken jedoch sinnen nach Rache.«

    »Rache! Hört, hört!«, sagte der Gesprächspartner seiner Mutter belustigt. »Und an wem?«

    »An meiner Freundin Rana. Sie hat mir dieses Bild gemalt, weil ich heute hier sein muss.« Jamie zog das zusammengefaltete Bild aus seiner Hosentasche.

    »Junger Mann!«, mahnte sein Vater. »Achte besser auf deine Worte.«

    Jamie rollte mit den Augen. »Tut mir leid. Ich wollte sagen: Weil ich heute Abend hier sein darf.«

    »Wer will schon wirklich hier sein?«, lachte der Mann. »Ihr Junge ist ja ganz entzückend.«

    »Ich gebe mir Mühe«, sagte seine Mutter anerkennend.

    Endlich hatte Jamie das Bild auseinander, um es dem Herrn zu reichen. Doch dieser unterhielt sich nun bereits mit seinem Vater über Wassermühlen und, dass er eine der größten bauen wollte. Jamie seufzte.

    »Ja, ich weiß«, sagte seine Mutter. »Solche Empfänge können ziemlich langweilig sein. Es tut mir leid. Aber das gehört nun mal auch dazu. Sie sind sogar besonders wichtig.«

    »Ich weiß«, antwortete Jamie, der sich ja gar nicht beschwert hatte. Er faltete das Bild wieder sorgfältig zusammen und steckte es zurück in seine Hosentasche.

    Nachdem König Ernak alle Gäste begrüßt hatte, ging man gemeinsam in den angrenzenden Raum. Dort war eine große Tafel aufgestellt worden, an der die Gesellschaft Platz fand, ehe man die Speisen auftrug.

    Nach dem Essen war Jamie schon versöhnlicher gestimmt. Zudem hatte er Gefallen daran gefunden, eine der Dienerinnen zu beobachten, die nur ein paar Jahre älter als er aussah. Sie lächelte ihm immer wieder zu. Und er lächelte zurück. Sie war recht ansehnlich, wobei Jamie versuchte, nicht auf ihren kugelrunden Schwangerschaftsbauch zu starren. Seine Mutter hätte keiner Dienerin in ihrem fortgeschrittenen Zustand noch erlaubt zu arbeiten. Da war sie unnachgiebig wie eine Mauer.

    »Brauchst du was?«, fragte ihn die Dienerin jetzt.

    »Nein, vielen Dank.« Er lächelte verlegen. »Wie ist dein Name?«

    »Jamie!«, ermahnte ihn sein Vater von rechts.

    »Darf ich dich nach deinem Namen fragen?«

    Die junge Frau lachte. »Ich bin Empathea. Und du?«, verlangte sie freundlich zu erfahren, obwohl sie ja gehört hatte, wie er hieß.

    »Jamie«, antwortete er dennoch. »Du bist … sehr hübsch«, platzte es nun aus ihm heraus, da er keine Ahnung hatte, was er sonst sagen sollte.

    »Jamie«, lachte jetzt seine Mutter von rechts.

    »Danke!«, sagte Empathea, nickte ihm zu und ging.

    »Was war denn das?«, fragte seine Mutter verblüfft.

    Jamie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nur höflich sein.«

    »Sie ist eine von König Ernaks Frauen«, erklärte nun sein Vater, der als einziger schon öfters hier gewesen war.

    Seine Mutter blinzelte bei dieser Offenbarung verwirrt. »Wie bitte? Eine seiner Frauen? Wie viele hat er denn? Und warum läuft sie hier wie eine Dienerin herum?«

    »Das weiß ich nicht genau. Aber es ist mehr als eine. Eher ein Harem, wenn ich das Wort richtig verwende. Und das ist hier wohl so üblich. Es gibt in Cortella keinen Rang einer Königin.«

    »Ach echt?« Sie sah zu König Ernak hinüber. Ihre Lippen kräuselten sich, ehe sie ein deutlich hörbares verächtliches »Hmpf« ausstieß. »Was finden die Frauen nur an dem?«

    Shawn lachte. »Ist diese Frage ernst gemeint? Vor unserem Sohn?«

    Die Wangen seiner Mutter erröteten sanft und sie sah zu ihrem Mann hin; mit verliebtem Blick.

    Jamie verdrehte die Augen.

    Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse. Ein Schrei. Poltern. Noch ein Schrei und dann verwirrtes und neugieriges Schweigen.

    Jamie sah Empathea. Offenbar war einer der Gäste rasch aufgestanden, hatte sie aber nicht gesehen und beide waren zusammengestoßen. Dabei war ein ganzer Krug Wein über den Schoss eines weiteren Gastes verschüttet worden.

    »Du ungeschicktes Weibsstück!«, keifte König Ernak. »Komm her!«

    »Bitte, es tut mir leid«, flehte sie ängstlich.

    »Es war meine Schuld. Verzeiht mir«, bat der Mann, welcher den Unfall verursacht hatte, während der Gast mit dem Rotweinfleck nicht erfreut wirkte.

    »Eine einfache Entschuldigung wird da ja wohl kaum genügen«, sagte dieser prompt ziemlich ungehalten, und warf eine Serviette auf seinen Schoß.

    »Ich sehe das auch so! Fharharr!«, rief König Ernak.

    »Nicht«, flehte die junge Frau, während der Diener sie zu ihrem Ehemann zerrte. Vor diesem drückte er sie zu Boden und König Ernak streckte ihr seinen nackten, rechten Fuß entgegen.

    »Es tut mir leid«, winselte Empathea und küsste seinen Fußrücken.

    »Igitt«, zischte seine Mutter kaum hörbar.

    »Zehn Hiebe für deine Unachtsamkeit.«

    »Bitte«, weinte Empathea inzwischen. »Von jetzt an werde ich ganz …«

    »Ich denke, für deinen Widerspruch hast du dir weitere zehn verdient.«

    Empathea heulte auf. In der Stille des Raumes klang es fast wie ein Schrei.

    Fharharr zerrte sie ein Stück von seinem Gebieter weg, dann öffnete er seinen Gürtel und nahm ihn ab.

    »Los, mach schon!«, befahl er ihr.

    Mit zittrigen Fingern öffnete Empathea das Oberteil ihres schlichten Kleides. Dann schob sie es hinunter. Entblößte ihren Oberkörper mit kleinen runden Brüsten und einen Rücken voller fast verheilter Striemen.

    »Oh!«, keuchte seine Mutter.

    Sein Vater legte seine Hand über die ihre, dann drückte er zu.

    Jamie verstand die Botschaft sofort: Bleib sitzen und sag kein Wort. Er konnte sehen, wie seine Mutter beim ersten Schlag erzitterte, fast, als hätte der Hieb sie ebenfalls getroffen. Und auch Jamie zuckte bei Empatheas Schrei zusammen. Zwei. Drei.

    »Aufhören!«, brüllte Jamie und sprang auf.

    Tatsächlich hielt Fharharr inne.

    »König Shawn, bringt eure Brut zum Schweigen«, befahl König Ernak wütend.

    »Ich denke, dies ist kein angemessener Anblick für ein Kind«, sagte seine Mutter und stand auf. Ohne sich zu verabschieden zog sie Jamie in Richtung Tür.

    »Nein!«, schrie Jamie schrill und stemmte sich gegen ihren Griff. »Nein. Ich will nicht mit!«

    »Sei still«, herrschte sie ihn leise fauchend an.

    »Will niemand hier ihr helfen? Das ist ungerecht! Sie hat nichts falsch gemacht«, schrie er verzweifelt.

    »Er ist ihr Mann und König. Er kann mit ihr tun, was auch immer ihm beliebt.«

    »Bei der Göttin, Mama!«

    »Komm jetzt«, befahl sie ihm.

    »Aber …«

    »Nichts aber!«, unterbrach ihn sein Vater und donnerte mit der geballten Faust so heftig auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Du gehorchst jetzt deiner Mutter und gehst mit ihr in unser Quartier. Sofort.«

    »Ja, Vater«, sagte Jamie. Er warf einen letzten Blick auf Empathea. In dieses verängstigte und schmerzverzerrte Gesicht, dessen Anblick er sich schwor niemals zu vergessen. Dann ging er gehorsam davon, während Empatheas Schreie ihn verfolgten.

    Es wurde sehr spät, bis sein Vater ins Zimmer kam. Er sah müde und verärgert aus und trat an den Tisch, an dem sie saßen und gewartet hatten. Sein Vater küsste seine Mutter, kam dann zu ihm, legte seine Hand auf seine Schulter, drückte sanft zu und sagte: »Ich bin sehr stolz auf dich. Und jetzt wird es Zeit, dass du ins Bett gehst.«

    Jamie gehorchte schweigend. Doch er konnte nicht an Schlafen denken. In seinem Kopf waren Empatheas Schreie. Und ihr Gesicht.

    »… ihr geht?«, fragte seine Mutter leise.

    »Ich weiß es nicht.« Jamie hörte seinen Vater stöhnen. »Nach etwa der Hälfte Hiebe war sie bereits ohne Besinnung. Aber Ernak hat sie weiterschlagen lassen. Danach haben andere Frauen sie weggetragen. Ich denke, sie haben sich um sie gekümmert.«

    »Wie schrecklich. Ich bin froh, dass ich das nicht sehen musste.«

    »Hmm.«

    »Was hast du?«

    »Ernak will, dass sich Jamie bei ihm entschuldigt.«

    »NIEMALS!«, brüllte Jamie aus dem Bett heraus.

    Jamie hörte Schritte, dann sah er seine Mutter die im Türrahmen stand. Sie lächelte ihn liebevoll an, dann nickte sie.

    »Schlaf jetzt, mein Liebling, wir besprechen das morgen.«

    »Da gibt es nichts zu besprechen«, erklärte er trotzig.

    »Dir sollte klar sein, dass dies zu einem politischen Eklat führen kann.«

    »Mir egal!«

    Seine Mutter seufzte.

    »Ich sehe das wie Jamie«, knurrte Shawn.

    »Wirklich?« Seine Mutter drehte sich überrascht um. »Dann hast du auch sicher nichts dagegen, wenn ich mich nach Empathea erkundige, oder?«

    »Nein. Mich wundert es nur, dass du deine Füße so lange hast stillhalten können«, erklärte sein Vater. »Und? Wie willst du das machen?«

    »Ich gehe einfach zu Empatheas Unterkunft und schaue, wie es ihr geht.«

    Jamie setzte sich auf. »Kann ich mit?«

    »Ganz sicher nicht!«, sagten beide gleichzeitig. »Du wirst jetzt schlafen, junger Mann«, fügte seine Mutter hinzu.

    Natürlich war Jamie noch wach, als seine Mutter Stunden später zurückkehrte. Er hätte nicht schlafen können, selbst wenn er gewollt hätte.

    Stattdessen stand er auf und schlich zum Türrahmen, um das Gespräch besser zu verfolgen.

    Zunächst berichtete seine Mutter, wie sie sich bei den anderen Frauen erkundigt hatte, wo sie Empathea finden könnte. Zuerst hatte ihr das niemand sagen wollen, offenbar hatten die Frauen furchtbare Angst bestraft zu werden, wenn sie es sagten. Doch seine Mutter hatte nicht aufgegeben, und war schließlich belohnt worden. Als es im Palast ruhiger geworden war, hatten sie Grace geholt und nahmen sie mit in die Frauenunterkunft. Diese lag unterm Dach und bot zwar alle notwendige Annehmlichkeiten, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fenster vergittert waren und Wachen im Schloss die Frauen allzeit bewachten. Allerdings nur, ob sie zu fliehen versuchten. Nicht, ob noch eine Frau mehr in das Quartier ging.

    »Daher war das ziemlich einfach«, gestand seine Mutter Shawn. »Aber Empathea, das arme Ding. Sie war völlig zerbrochen. Wir alle haben gesehen, dass sie schon oft Hiebe mit dem Gürtel bezogen hat, dennoch löste die Bestrafung am heutigen Abend eine Frühgeburt aus. Leider kam das Kind mit der Nabelschnur um den Hals zur Welt, was das Baby getötet hat. Das hat ihr jeden klaren Verstand geraubt«, berichtete seine Mutter leise. »So ein furchtbarer Schicksalsschlag. Das hat sie einfach nicht verkraftet. Saß noch immer im Bett, mit dem toten Kind im Arm, als mich die Frauen zu ihr brachten. Aber ganz gleich was ich zu ihr sagte, sie hat mich gar nicht gehört. Wiegte sich jammernd vor und zurück und wisperte verzweifelt den Namen ihres toten Kindes.«

    »Wir hätten nichts tun können. Und wir können es auch jetzt nicht.«

    »Ich weiß«, seufzte seine Mutter. »Aber sie hätte unsere Tochter sein können. Ich kann nicht glauben, dass sie Eltern hat, die sowas zulassen.«

    »Denkst du, diese hätten eine Wahl?«, fragte Shawn. »Soweit ich weiß heiratet Ernak Frauen wie es ihm beliebt. Er befiehlt es ihnen und ihren Familien einfach. Ich habe auch gehört, dass er eine ganze Schar an Kindern hat, die irgendwo anders aufgezogen werden, weil er sie nicht um sich herum haben will. Dort befinden sich jene Frauen, die er aus dem Harem verstoßen hat.«

    Jamie sah, wie sich seine Mutter an ihren Mann schmiegte und ihn küsste.

    »Ich will nach Hause«, sagte sie in einem Ton tiefster Sehnsucht und Verzweiflung. »Das alles hier macht mich unfassbar traurig.«

    »Wirklich? Nein, ich fühle mich dankbar.«

    »Dankbar?«, fragte sie überrascht.

    »Ja.« Sein Vater lächelte. »Dafür das ich euch habe. Euch und eure Liebe.« Er küsste Grace zärtlich, dann stand er auf. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen. Ich wecke Jamie.«

    Khul Gurl

    Im vergangenen Winter

    Jamie parierte seinen Wallach Cole zum Halten. Dann ließ er die Zügel los, um etwas zu trinken. Unterdessen zog der Reisetross an ihm vorbei.

    Er bevorzugte es alleine zu reisen, oder in kleinen Gruppen. Sobald ein Wagen, oder eine Kutsche, mit dabei war, wurde die Reise zur Tortur. Doch in diesem Fall hatte er keine andere Wahl gehabt. Sein Bruder Necom hatte darauf bestanden, dass er und seine Frau in einer Kutsche reisten, um nicht wie heruntergekommene Landstreicher bei ihrem Gastgeber einzutreffen. Sie alle waren nämlich von Khul Gurl zu dessen Hochzeit eingeladen worden. Für Jamie immer noch eine überraschende Geste.

    Jamie war gerade mal neun Jahre gewesen, als Khul Gurl versucht hatte, ein eheliches Familienbündnis mit Tybay zu erzwingen. Dieser hatte nämlich geplant, die Tochter des Ratsmitgliedes des angrenzenden Gebietes zu heiraten. Stattdessen hatte sein Bruder Necom Delora zur Frau genommen und mit einer geschickten Strategie Khul Gurls weitere Absichten vereitelt. Immerhin hatte Khul Gurl geplant gehabt, falls man der Trauung nicht zustimmte, Tybay in einen Krieg zu ziehen. Und später, gegenüber den Windinseln und Cortella hatte er behaupten wollen, das viel größere und reichere Tybay hätte Janeiro angegriffen. Damit erhoffte er sich Soldaten und finanzielle Unterstützung von den anderen Ländern. Doch Khul Gurl hatte weder das Familienbündnis noch die Kriegsunterstützung bekommen, sondern war mit seinen intriganten Plänen komplett gescheitert. Folglich kannte nun jeder das verbissene Gemüt von Khul Gurl, der sich nicht nur darum bemühte sein Land vor dem Ruin zu schützen, sondern sich auch nach einem Erben verzehrte.

    Und zumeist, wenn sich zwei streiten, profitiert ein Dritter davon. In diesem Fall war das König Ernak von Cortella. Er nutzte die Lage, um dem offenbar leicht beeinflussbaren Khul Gurl ein Bündnis mit seinem Land zu bieten. Nach und nach kündigte Khul Gurl die bestehenden Handelsverträge mit Tybay, um diese mit Cortella zu schließen. Nicht immer ein gutes Geschäft für Cortella. Denn gleichgültig wie irregeleitet die Wünsche Khul Gurls auch sein mochten, so war er doch ein harter Verhandlungsgegner, der das höhere Ziel – den Schutz seiner Untertanen und den Reichtum seines Landes – nicht aus den Augen verlor. Dennoch gelang es König Ernak, Khul Gurl über Jahre hinweg zu blenden und ihn nach und nach davon zu überzeugen, dass Cortella ein besserer Verbündeter als Tybay sein würde. Um den älteren Mann dann vollends zu ködern, bot König Ernak ihm eine Hochzeit mit einer reichen Adelstochter aus dem Haus der Gordonen aus Cortella an. Besser noch, er akzeptierte die Bedingung von Khul Gurls, dass dieser die Frau erst schwängern dürfte, ehe er sie heiratete, um endlich seinen Thronfolger garantiert zu wissen.

    Zur Hochzeit hatte Khul Gurl dann, zum Zeichen, dass nun alle Streitigkeiten von vor zehn Jahren mit Tybay beigelegt wären, explizit auch Jamies älteren Bruder Necom und dessen Frau Delora geladen.

    Die Kutsche fuhr an Jamie vorbei und seinen kalten, ungeschickten Händen entglitt der Wasserschlauch. Jamie grinste. Sein Bruder, hatte offenbar die klügere Wahl getroffen. In der Kutsche war es zu dieser winterlichen Jahreszeit mit Sicherheit wärmer, trotzdem bevorzugte Jamie den Rücken seines Pferdes. In diesem Moment begann der Schneeregen von neuem und Jamie hoffte nur, dass sie ihr Ziel erreichten, bevor die Kutsche im Schlamm hängen blieb.

    Es wurde früher Abend bis sie ankamen. Dennoch war es bereits so dunkel, dass Jamie von dem Gebäude außen fast nichts sehen konnte. Inzwischen war er bis auf die Knochen durchgefroren, so wie alle Reiter.

    Im Innern erinnerte Khul Gurls Schloss stark an Lywell. Mauerwände, Steinboden, Teppiche und Gemälde. Wenngleich auch alles ein wenig dunkler und älter wirkte. Oder weniger gut erhalten und gepflegt. Janeiro war, mit den Windinseln, eins der kleinsten Länder ihrer Welt. Zumindest wenn die Karten seiner Welt die Abmessungen richtig darstellten. Dafür hatte es erstaunlich viele Einwohner, was nicht zuletzt daran lag, dass es hier kostbare Rohstoffe gab. Edelsteine, Gold und Seide waren die Haupthandelsgüter. Das meiste Geld aus dem Gewinn ging in den Ankauf von Lebensmitteln, die nicht ausreichend auf der Halbinsel wuchsen, oder dort gar nicht heimisch waren. Darum war das Land nur halb so reich, wie es sein könnte. Dennoch, die Geschäftspartner, welche Zugang oder gute Verträge mit Janeiro hatten, waren so oder so Gewinner. Womöglich konnte Tybay ja nach der Hochzeit wieder neue Verhandlungen mit Khul Gurl führen. Nahrungsmittel gab es in Tybay im Überfluss.

    Die Vermählung war noch an diesem Abend und Jamie hatte nicht halb so viel Zeit, um sich vorzubereiten, wie erwartet. Dennoch nahm er sie sich und genoss zuerst einmal ein heißes Bad, damit alle seine Körperteile wieder warm werden konnten, denn seine Füße spürte er schon seit Stunden nicht mehr.

    Danach zog er sich rasch an und holte seinen Bruder und Delora ab. Seine Schwägerin war eine Schönheit. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint und ihre schlanke Figur schlichte, weiblichen Formen. In ihrem schmalen und länglichen Gesicht, mit vollen, roten Lippen, saßen zwei außergewöhnlich türkisfarbenen Augen. Ihr Haar, das in tiefschwarzen Wellen auf ihren Schultern lag, rundete das schöne Gesicht ab.

    Ab und an fragte Jamie sich, wie es seinem schüchternen Bruder gelungen war, ihr Herz zu erobern. Oder was die beiden miteinander verband. Natürlich liebten sie sich, doch genügte das? Denn Delora sah stets irgendwie traurig und unerfüllt aus, wann immer er sie sah. So auch jetzt. Allerdings konnte er es ihr nicht verdenken, dass sie sich in ihrer Haut in dieser Umgebung nicht wohl fühlte.

    Offenbar spürte Necom das ebenso.

    »Du machst dir zu viele Gedanken, Liebste«, sagte er einfühlsam. »Morgen um diese Zeit ist der alte Mann verheiratet und alle Differenzen der Vergangenheit vergessen und vergeben.«

    »Dann, mein lieber Gemahl, vergibst du zu schnell.«

    »Necom hat Recht. Es macht keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben. Wir alle müssen nach vorne sehen. Für uns. Für das Volk. Für das Land.«

    Delora nickte. Aber sie schien nicht überzeugt zu sein.

    Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Einer ihrer Diener begleitete sie, er trug ihr Gastgeschenk. Eine kleine Truhe mit Geschmeide und Goldmünzen, keine unbedeutende Summe.

    Der Thronsaal sah aus wie der Rest des Schlosses und wirkte zudem erstaunlich verwaist. Es waren vielleicht gerade mal zwanzig Personen darin. Einer davon war König Ernak, der Jamie abfällig zulächelte, ehe er Necom und Delora musterte. Seit dem Zwischenfall in Cobenera waren alle diplomatischen Verhandlungen versandet und Jamie hatte König Ernak seither auch nicht mehr gesehen. Der Mann hatte sich jedoch kaum verändert.

    Jamie trat als erster vor Khul Gurl, der in seinem Thronstuhl wie ein nasser Sack hing. Einst, so hatte man ihm versichert, wäre Khul Gurl ein stattlicher Krieger gewesen. Doch die Bürde des Regierens und sein sehnlicher Wunsch nach Nachwuchs hatten ihn zerfressen. Und so saß vor ihnen ein Mann im fortgeschrittenen Alter, mit langer Haar- und Bartmähne, faltigem Gesicht und einem ausgemergelten Körper, zumindest soweit sie das beurteilen konnten. Wenigstens war Khul Gurl gut gekleidet. Von seiner Braut war weit und breit nichts zu sehen.

    Er verbeugte sich. »Ich bin Jamie Quinfee War und überbringe die besten Wünsche meiner Eltern zu Eurer Hochzeit, Khul Gurl.« Jamie richtete sich auf. »Meine Eltern schicken zudem dieses Hochzeitsgeschenk.«

    Der Diener trat vor. Doch anstatt dass Khul Gurl nun von einem seiner Diener das Geschenk entgegennehmen ließ, damit dieser es seinem Herrn vorführte und öffnete, winkte er den Diener ungehalten weg. Verwirrt sah der Diener zu Jamie.

    »Stelle es zu den anderen Truhen«, befahl Khul Gurl ihm und richtete sich grunzend auf.

    »In meiner Begleitung befindet sich mein Bruder Necom und seine Gemahlin Delora.«

    Die beiden erbrachten ihre Ehrerbietung, während der alte Mann zu lachen begann. Ein gemeines, hässliches Lachen während er Delora abschätzend aus kleinen, dunklen Rattenaugen musterte.

    »Habt Dank, Prinz Necom, für Euer überaus großzügiges Geschenk. Und damit meine ich nicht dieses hier …« Khul Gurl wies mit einer abwertenden Geste auf die kleine Truhe, die der Diener zu den anderen Geschenken gestellt hatte. Schwankend stand er auf und trat näher zu ihnen.

    Jamie wollte nach dem Mann greifen, damit er nicht versehentlich fiel. Doch da war bereits König Ernak an seiner Seite.

    Jamie runzelte verwirrt die Stirn.

    »Was wolltet ihr sagen, mein Freund?«, fragte König Ernak.

    Khul Gurl lachte wieder und fuhr lallend fort: »Ich meinte Danke dafür, dass Ihr mich vor ein paar Jahren vor der Torheit bewahrt habt, erneut eine unfruchtbare Hure zu heiraten.«

    Jamie begriff, dass der Mann bereits sturzbetrunken war. Ein Umstand, der allen hier peinlich schien – außer König Ernak.

    »Das sollten wir feiern, nicht wahr? Bringt mehr Bier!«, sagte dieser nun auch prompt.

    Delora hinter Jamie schniefte hörbar.

    »Eine derartige Beleidigung ist unerhört. Ich erwarte eine Entschuldigung!«, rief Necom aufgebracht.

    »Eine Entschuldigung«, sagte König Ernak. »Ich warte ebenfalls noch auf eine«, erklärte er und sah Jamie herablassend an.

    »Ich habe Euch auch heute nichts zu sagen.« Jamie drehte sich um. »Wir gehen!«

    »Der Stolz eurer Familie wird einst euer Untergang sein«, rief König Ernak ihnen hinterher.

    Sie waren umgehend abgereist, jedoch nur soweit gefahren wie sie mussten, um eine warme Unterkunft zu finden. Denn inzwischen war der Schneeregen in einen heftigen Schneesturm übergegangen. Erst am nächsten Tag machten sie sich auf den Rückweg. Begleitet von der Kälte des Winters und der in ihren Herzen.

    Während ihrer Reise zurück nach Lywell waren Delora und Necom noch schweigsamer als ohnehin schon. Selbst in den Wirtsstuben in denen sie rasteten, sprachen sie kaum mit ihm, obwohl sich Jamie redlich bemühte.

    Zurück in Lywell hatte ihr Vater alle restlichen Verträge für aufgehoben und nichtig erklärt. Zudem wurden die Grenzen von Janeiro nach Tybay für alle Händler geschlossen. Auch ihre Handelsschiffe durften in Tybays Häfen nicht mehr anlegen, auch nicht, um neue Vorräte an Bord zu nehmen. Dies stieß auf heftige Kritik der Bewohner in den Hafenstädten, die unter anderem davon lebten, die Schiffsbesatzungen zu versorgen. Doch die Königin sprach ihnen Entschädigungen zu, mit denen sie sich leicht eine neue Existenz aufbauen konnten. Und während Jamie hingegen fürchtete, dass diese drastische Reaktion seines Vaters als offene Kriegsdrohung in Janeiro aufgefasst werden würde, geschah gar nichts. Keine Entschuldigung. Keine Kriegserklärung. Nur Schweigen. Die Außenpolitik nach Janeiro schien versumpft zu sein.

    Mit dem Frühling verbreiteten sich die Gerüchte. Das Volk zitierte Khul Gurls Beleidigung mit flüsternden Stimmen und Necom und Delora zogen sich noch weiter aus der Öffentlichkeit zurück. Jamie fand, dass es keinen Grund gab, sich zu schämen. Sich zu verstecken war so, als würden sie den gesichtslosen Stimmen recht geben. Und so kam es, dass mit dem beginnenden Sommer böse Zungen im Volk plötzlich munkelten, dass Necom erst Nachkommen zeugen könnte, nachdem Jamie gekrönt war, er geheiratet und einen eigenen Thronfolger haben würde. Allerdings sprachen sie öfters davon, dass Necom mit dem Anspruch auf den Thron auch seine Manneskraft verloren hätte. Jamie verlangte es danach, den beiden irgendwie zu helfen, genau wie seinen Eltern. Doch es gab absolut nichts, was sie für Necom und Delora hätten tun können.

    Inzwischen neigte sich der Hochsommer seinem Ende entgegen. Bald schon würde das Getreide eingebracht werden und Jamies Reise zu den Windinseln stand bevor.

    Am Tag vor seiner Abreise traf überraschend Necom in Lywell ein. Er lebte inzwischen mit Delora auf dem Anwesen ihrer Eltern, das knapp einen Tagesritt von der Grenze zu Janeiro lag.

    »Ich bin froh, dich noch erreicht zu haben. Ich muss dringend mit euch sprechen«, sagte Necom zu Jamie, als sie sich begrüßten. Gemeinschaftlich gingen Jamie, Necom und ihre Eltern in das Beratungszimmer.

    »Was ist der Grund deines Besuches?«, fragte ihre Mutter.

    »Khul Gurl ist tot«, platzte es aus Necom heraus.

    »Was ist passiert?«, verlangte ihr Vater zu erfahren.

    »Vor etwa zwei Wochen wurde Khul Gurls sehnlichster Wunsch endlich erfüllt, und er wurde Vater eines kleinen Jungen. Danach müssen sich die Ereignisse dort überschlagen haben, wir haben viele Gerüchte gehört. Eins davon ist, dass seine Frau ihm nach der Geburt des Erben zugeflüstert hätte, dass dieses Kind in Wahrheit gar nicht seinen Lenden entsprungen wäre. Stattdessen sei es der Bastard einer Liebschaft. Einer Liebschaft mit König Ernak, der einzige andere Mann, der in ihre Nähe durfte. Und diese Worte hätten dem alten Mann so zugesetzt, dass er einfach tot umgefallen ist. Andere munkeln, seine Frau hätte ihn vergiftet. Wie Khul Gurl auch ums Leben kam, ist leider vollkommen ohne Belang für uns«, berichtete Necom aufgeregt. »Jedenfalls hat sich seine Gemahlin noch am selben Tag zur Regentin ernennen lassen. Sie entsagte den eigentlichen Zielen des Königs Ernak von Cortella, ihm das Land nun wie vereinbart zu übergeben. Damit wurde bestätigt, dass sie mit König Ernak geschlafen hat, der das Gelingen seines Vorhabens – Janeiro an sich zu reißen – nicht von der Zeugungskraft eines alten Mannes abhängig hatte machen wollen. Wie dem auch sei, jung, dumm und nicht weniger eitel als ihr verstorbener Gemahl glaubte sie, sich über den Willen ihres Gönners hinwegsetzen zu können, glaubte, dass König Ernak es nicht wagen würde, einen Krieg gegen Janeiro zu führen, wo er sich diesen doch recht kostspieligen und zeitintensiven Plan ersonnen hatte. Sie wurde eines Besseren belehrt. Der Krieg zwischen Cortella und Janeiro dauerte nur Stunden. Das viel kleinere und ärmere Land, mit seiner doch recht schlecht ausgerüsteten und wenig ermutigten Armee fiel frei von Verbündeten ohne nennenswerten Widerstand. Die frisch ernannte Regentin und ihr Baby wurden öffentlich hingerichtet, als Lektion für das Volk, dass Verrat nicht geduldet wird. Janeiro fiel durch Kriegsrecht an König Ernak von Cortella. Als ich das hörte, bin ich so schnell ich konnte hierhergekommen.«

    Ihre Mutter schwankte und ihr Vater griff nach ihrem Arm und bugsierte sie zärtlich zu einem Stuhl. Necom schüttete ihr einen Schluck Wein ein und reichte ihr den Kelch.

    Jamie jedoch schritt zum offenen Fenster und sah in den sommerlichen Schlossgarten hinaus. »Wir sind Schuld an dem, was geschehen ist.«

    Hinter sich hörte er, wie seine Mutter pustete und gleich darauf heftig hustete.

    »Was meinst du?«, fragte ihr Vater verwirrt.

    »Na ja, er hat es gesagt. König Ernak. Dass unser Stolz uns zu Fall bringen wird.« Jamie drehte sich um.

    »Wann?«, krächzte seine Mutter japsend. Offenbar hatte sie sich richtig böse verschluckt.

    »An der Hochzeit. Als Khul Gurl Delora und mich beleidigte.«

    »Er hat keine Kosten und Mühen gescheut, um uns das auf diese Art zu beweisen.«

    »Lächerlich«, flüsterte ihre Mutter mühsam.

    »Kannst du dich noch an unseren Besuch in Cortella erinnern?«

    Jamie nickte.

    »Du hast dich schon als junger Mann immer auf dein Gefühl für richtig und falsch verlassen können. Ehrgefühl. Treue. Verbundenheit. Das zeichnete das Geschlecht unserer Familie aus. Wir haben uns immer um die Unseren gekümmert. Das kann man nicht gerade von König Ernak behaupten.«

    Jamie nickte. Dennoch blieb dieses seltsame, unbehagliche Gefühl in seinem Bauch.

    »Sucht er Krieg mit Tybay?«, fragte Necom besorgt. Die unterschwellige Frage, ob er und Delora, so nah an Cortellas Grenzen, nun noch sicher waren, schwebte im Raum.

    »Er hegt keinen Groll gegen dich. Nur gegen uns«, erklärte sein Vater.

    »Ja, uns drei.« Jamie nickte. »Dennoch. Der Mann ist unberechenbar. Womöglich wäre es besser, wenn ihr erst mal nach Lywell kommen würdet. Nur bis wir wissen, was König Ernak als nächstes plant.«

    »Wir werden Eweligo schicken, damit er Delora holt«, sagte ihre Mutter und sie lächelte Necom an. »Keine Sorge, Schatz. Sie ist bald hier.«

    Necom nickte. »Wir sollten Eweligo danach nach Cortella schicken. Vielleicht kann er herausfinden, ob König Ernak ein Heer aufstellt.«

    Jamie schüttelte den Kopf. »Ich empfände es als schändlich und unehrenhaft Eweligos Fähigkeiten so einzusetzen. König Ernak würde, wenn das sein Plan sein sollte, auch niemals sein Heer so offen ausstellen. Er würde es eher im Verborgenen tun. Außerdem wurde auch König Ernak von Kertchek zu den Verhandlungen eingeladen. Wir sollten ihn einfach fragen.«

    »Wir?«, wollte sein Vater erfahren.

    »Nun, nach den neusten Ereignissen dachte ich, dass wenigstens du mich begleiten würdest.«

    »Nein. Dein Vater und ich haben vollstes Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten.« Seine Mutter lächelte.

    Jamie nickte. Doch ihm war nicht wohl bei der Angelegenheit. Und es überraschte ihn wirklich, dass seine Eltern ihn alleine zu den Unterredungen auf die Windinseln schickten. Nicht, dass er sich nicht dazu in der Lage gefühlt hätte, diese zu führen, ganz im Gegenteil. Doch die Angelegenheit bedurfte seiner Meinung nach mehr Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Beides besaß er in seiner Jugend nur in einem überschaubaren Maß. Schließlich ging es hier nur offiziell um neue Verträge. Wirtschaftlich, und nun auch politisch, gesehen war hingegen klar, dass es den Windinseln nicht gelingen würde, unabhängig zu existieren. Sie mussten sich mit einem der beiden verbliebenen Königreiche verbünden.

    Ein Schauder legte eine prickelnde Gänsehaut auf Jamies Oberkörper. Lügen. Verrat. Politische Spiele. Das war es, was ihm die Aussicht auf die Regentschaft verdarb.

    Jamie dachte, dass obwohl Khul Gurl kein sehr netter Mann gewesen war, er es nicht verdient gehabt hatte, welch grausames Spiel König Ernak mit ihm getrieben hatte. Tatsächlich war Khul Gurl ihm und seiner Familie ähnlicher gewesen als Jamie lieb war. Er hatte sich immer darum bemüht, den Wohlstand seines Landes zu erhalten. Und jetzt waren Khul Gurls Andenken sowie der Name seines Landes für immer zerstört und von den Karten dieser Welt getilgt.

    Prüfung

    Den Rest des Tages verbrachte Jamie mit Lord Ian und Kertchek auf der großzügig angelegten Terrasse. Gemeinsam mit einem Schreiber setzten sie neue Verträge auf, welche vielversprechend klangen.

    Unter anderem ein Dokument, das die Forderung nach einem Wegzoll durch die Windaner verbot. In dem Kontrakt fand sich eine ganze Abhandlung um das Wort Wegzoll, die Ian am Vormittag ausgearbeitet hatte. Er wollte damit verhindern, dass die Windaner einen solchen forderten, dies aber unter der Verschleierung eines artverwandten Begriffs taten. Jamie hielt dieses Gesetz für nicht kontrollierbar und zweifelte an seinem Zweck. Doch ab und an zählten eben nur die Absichten, die dahinter steckten. Außerdem ließ er somit Ian seinen Willen – da dieser nicht müde wurde zu betonen, dass er nur hier sei, um Jamie zu beraten, also sollte er auch gefälligst auf ihn hören. Insgeheim amüsierte er sich darüber. Jamie mochte Lord Ian. Diese Reise, mit ihren diplomatischen Herausforderungen, erinnerte ihn an seine Prüfung zum Mann.

    Vor etwa drei Jahren

    Immer wieder hatte er danach gefragt und seine Eltern sagten »Bald« oder »Wenn du soweit bist«, und Jamie war froh, dass es heute endlich soweit war. Er war vor ein paar Monaten sechzehn geworden und brannte darauf, es sich und allen anderen zu beweisen. Darum hätte er nicht gedacht, dass er nervös sein würde, doch genau das war er, als er am Morgen in das Arbeitszimmer trat. Degger, Kampfgefährte und langjähriger Freund seines Vaters saß in einem Sessel. Die beiden Männer lachten jetzt, offenbar waren sie entspannt und guter Dinge. Es hätte Jamie Mut machen sollen, doch irgendwie bewirkte es genau das Gegenteil.

    »Setz dich, mein Junge«, sagte sein Vater.

    Jamie setzte sich seinem Vater gegenüber, während Degger sich aufrecht hinsetzte, sich räusperte und seine Kleider zurechtzupfte.

    Das ist nur Show, um dich zu verunsichern, sagte sich Jamie und wischte sich seine schweißnassen Handinnenflächen an seiner Hose ab. Es funktioniert.

    »Irgendwann wirst du König werden, Jamie«, begann sein Vater. »Du trägst Verantwortung für das Land und die Menschen, die darin leben. Sie können dich lieben oder hassen – was sie tun werden, liegt an dir.«

    Jamie nickte.

    »Darum werden wir dir ein paar Fragen stellen.«

    »Nur ein paar«, nickte Degger.

    »Über Tybays Gesetze, Protokolle …«

    »Strategien.«

    »… Verfahren, Strafen …«

    »Diplomatien.«

    »… Verbindungen, Verträge …«

    »Steuern.«

    »… und über das Heer.«

    Jamie nickte, obwohl er sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Vielleicht war er ja doch noch nicht soweit.

    Die Fragen von seinem Vater und Degger glichen einem Kreuzverhör. Sie prasselten auf ihn nieder und jeder Ansatz zu einer Antwort wurde von einer neuen Frage unterbrochen. Jamie bekam weder Ruhe, um darüber nachzudenken, noch Zeit zu sprechen. Und irgendwann begriff Jamie, dass es weniger um die aufgelisteten Themengebiete ging, denn das Regierungssystem bereitete ihm keine Probleme, sondern um sein Verhalten.

    Als Jamie das sinnlose Unterfangen einstellte, antworten zu wollen, endeten auch die Fragen. Es lehnte sich zurück, lächelte sie an und sagte: »Was für ein wunderschöner Spätsommertag. Der Sonnenaufgang muss fantastisch gewesen sein, aber ich habe da noch geschlafen. Wunderbar, übrigens«, was gelogen war, er hatte fast kein Auge zugemacht.

    Sein Vater warf ihm einen missbilligenden Blick zu, während seine Mundwinkel von einem unterdrückten, aber verräterischen Grinsen zuckten. Degger war nicht so kompliziert. Er ließ seine Zähne blitzen und grinste. Inzwischen nahm Jamie das Wetter als Überleitung und beantwortete ihnen ihre Fragen. Womöglich vergaß er auch das eine oder andere. Doch wie gesagt, sie wussten, dass er sich damit auskannte. Und jetzt war es also Jamie, der unablässig redete.

    Irgendwann gähnte Degger.

    »Langweile ich euch?«, schloss Jamie fragend seinen Monolog.

    »Ich denke, das hatten wir

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