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Und über uns der weite Himmel
Und über uns der weite Himmel
Und über uns der weite Himmel
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Und über uns der weite Himmel

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About this ebook

Estland 1946. Die junge Estin Anu wird vom NKWD verhaftet, ihr deutschbaltischer Freund kann nach Schweden entkommen, während die junge Frau verurteilt und in den GULAG verbannt wird.
Estland 2006. Eine junge Estin ist auf der Suche nach der familiären Vergangenheit, will das Schweigen ihrer Mutter brechen, fordert eine Antwort auf die Frage nach ihrem Vater ein. Ihre Mutter, Teil der verstummten Generation, öffnet sich allmählich und beginnt zu erzählen. Eine Geschichte von Leid, Entbehrung, stalinistischem Terror und Tod, aber auch von Solidarität, Mut und Hoffnung. Die Geschichte einer großen Liebe.
Lutz Dettmann knüpft in seinem Roman an die Geschichte von Anu Lina und Christoph Scheerenberg an, die 2012 unter dem Titel „Anu – eine Liebe in Estland“ erschien und ebanfalls als elektronisches Buch vorliegt.
LanguageDeutsch
PublisherLehmanns
Release dateMar 5, 2019
ISBN9783965430167
Und über uns der weite Himmel
Author

Lutz Dettmann

Geboren im März 1961 in Crivitz; aufgewachsen in Schwerin, lebt jetzt in Rugensee bei Schwerin, und ist noch immer eng mit Schwerin verbunden. Für seine Erzählungen wurde Lutz Dettmann mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Er ist Vorstandsmitglied der Hans-Fallada-Gesellschaft und des Fördervereins Alter Friedhof Schwerin e.V.

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    Book preview

    Und über uns der weite Himmel - Lutz Dettmann

    Lutz Dettmann

    Und über uns der weite Himmel

    Roman

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

    © 2019 Lehmanns Media GmbH

    Helmholtzstr. 2-9

    10587 Berlin

    Umschlaggestaltung: Bernhard Bönisch, Berlin

    Autorenfoto: Liane Römer, Pinnow

    ISBN 978-3-96543-016-7 www.lehmanns.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Die Personen und die Handlung sind erfunden, die Orte haben Ähnlichkeit mit der Realität. Die Gräuel, die der Autor in diesem Text beschreibt, sind hunderttausendfach begangen worden. Solche Handlungen sind für Nichtbeteiligte jenseits ihres Vorstellungsvermögen. Der Leser wird genug Zeitzeugenliteratur finden, wenn er den Wahrheitsgehalt dieser Verbrechen nachprüfen möchte.

    Der Mensch ist zu allem fähig!

    Millionen Frauen Europas haben fürchterliche Schicksale in den Lagern der Diktaturen erlitten. Unzählige von ihnen sind umgekommen, viele von ihnen überlebten, weil sie in der Gemeinschaft an eine Zukunft in Freiheit glaubten.

    Den Frauen dieser Zeit gewidmet!

    Mein besonderer Dank gilt Edmund Brandt, Braunschweig, der mich freundschaftlich mit Rat und Kritik unterstützte.

    Mein Dank an Valdur Vaht, Tallinn, Tiina Kask und Helgi Põllo, Hiiumaa, Irma Eigi, Schwerin und Imbi Paju,Tallinn, deren Buch „Estland! Wo bist du? Verdrängte Erinnerungen" mich zum Schreiben motivierte.

    Dank auch allen nicht genannten Helfern und Zeitzeugen in Estland und Deutschland.

    Lutz Dettmann, im Herbst 2018

    „Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."

    Rabbi Israel ben Elieser(Baal Schem Tow)

    I

    MITTWOCH, 19. JULI 2006, VOR DER WESTKüSTE ESTLANDS

    Eine Frau steht am Bug der Fähre „Sankt Ola, die mit der „Regula den Liniendienst zwischen der estnischen Hafenstadt Haapsalu und der zweitgrößten estnischen Insel Hiiumaa unterhält. Die Arme auf die Reling gestützt, die Augen geschlossen, hält die Frau ihr Gesicht dem Morgenwind entgegen. Die Frau fröstelt, denn auf dem Wasser ist der Ostseewind frisch an den frühen Sommermorgen, und hier oben im Norden besonders. Flache Krähenfüße und ihre von grauen Strähnen durchzogenen blonden Haare zeigen, dass die Frau, trotz ihrer jugendlichen Gestalt Mitte Fünfzig ist. Der Wind hat eine Strähne ihres langen Haares über ihren vollen Mund gelegt. Die Augen noch immer geschlossen, schiebt sie das dichte Haar hinter ihre Ohren. So kommen ihre hohen Wangenknochen zur Geltung, für einen Moment öffnet sie die leicht schräg geschnittenen Augen. Die Frau wirkt interessant, ja, hübsch. Auch die kleine Narbe, die sie an der linken Partie des Kinnes hat, schmälert diesen Eindruck nicht. Zwischen ihren Beinen steht ein Rucksack. Jetzt greift sie nach ihm und setzt sich im Schutz der Brücke auf eine Bank, um ihn zu öffnen. Nach kurzem Suchen hält sie einen lädierten Ordner in den Händen. Die Frau öffnet ihn, die erste Seite zeigt graues, holzhaltiges Papier, darauf deutsche Sätze, Schreibmaschinenletter. Die Buchstaben zum Teil blass. Der erste Satz tiefschwarz, die „a und „e in den Wörtern wie in das Papier geschlagen, die Rundungen gestanzt.

    Die Frau heißt Irja Rinstejn. In ihren Händen hält sie die Aufzeichnungen Christoph Scheerenbergs, die Geschichte einer Liebe, die sich nicht erfüllt hat. Wieder und wieder hat sie die Blätter gelesen, denn es ist auch die Geschichte ihrer Mutter. Eine Geschichte, die mit einer ungewollten Trennung endet, die Beschreibung einer Liebe, die Opfer der Zeit ist. Irja Rinstejn hat diese Geschichte gelesen, jetzt muss sie wissen, ob sie weitergeht. Die Frau ist zu tiefst aufgewühlt, will Klarheit finden und Ruhe. Endlich Antworten finden auf Fragen, die sie ihrer Mutter seit Jahrzehnten stellt. Sie weiß, der Zeitpunkt dafür ist gekommen. Ihre Mutter hat diese Blätter gelesen, ist seitdem aufgewühlt, etwas hat sich in ihr gelöst. Anu Lina wird die Fragen ihrer Tochter beantworten. Ob die Mutter auch ihre gemeinsame Geschichte mit Christoph endlich erzählen kann – das hofft die Tochter.

    Der grüne Strich am Horizont ist inzwischen hoch gewachsen. Einige weiße Gebäude teilen das Grün. Heltermaa, der Fährhäfen, der die Insel öffnet. Irja Rinstejn blättert, liest die letzte Seite der Aufzeichnungen bis zum Ende. Sie kennt diese Passage auswendig und muss sie trotzdem immer wieder lesen. Am Ende eine blassblaue Handschrift, steil, gleichmäßig, fast eine Schönschrift, wie sie heute nicht mehr gelehrt wird:

    „Die Feuer sinken, Nebel steigt aus den Niederungen, das Licht erlischt. Dunkelheit breitet sich aus, nimmt von mir Besitz. Ich habe meine Liebe verraten!"

    Ein Hilfeschrei. Das Resümee eines vertanen Lebens? Irja kann Christoph Scheerenberg nicht mehr fragen. Doch ihre Mutter wird antworten müssen.

    Die Tochter weiß, dass die bösen Geister vertrieben werden können. Die Zeit ist endlich reif!

    II

    MITTWOCH, 19. JULI 2006, MOKA KüLA, HIIUMAA

    Zwei Frauen sitzen im Schatten einer altersgrauen Holzbohlenwand, die zum Saunahaus des Grundstückes gehört. Sie schweigen. Doch der Garten lebt. Ein Schwirren und Surren ist in der Luft. Die Tage im Juli sind die Hochzeit des estnischen Sommers. Er scheint sich zu verschwenden, will zeigen, was er kann, denn kurz ist seine Zeit im Norden. Schon im August kommen die ersten kühlen Nächte. Viel zu lang sind der Herbst und der dunkle Winter.

    Die Frauen schweigen noch immer. Sie ähneln sich. Beide haben hohe Wangenknochen und die gleichen Augenpartien, dichte Haare, die bei der Älteren grau sind. Der Betrachter erkennt, dass dies Mutter und Tochter sind. Die jüngere Frau hält einen Ordner in ihren Händen, nervös streichen ihre Hände über das Grau des Deckels. In ihrem Gesicht arbeitet es, während die ältere Frau wie versteinert da sitzt, den Blick in die Ferne gerichtet hat. Wir kennen die jüngere Frau, es ist Irja Rinstejn, sie reckt sich, streicht sich ihr krauses Haar hinter die Ohren. Das macht sie immer, wenn sie angespannt ist. Dann bricht sie das Schweigen.

    „Mutter, rede endlich. Bitte. Du kannst nicht mehr schweigen! Ich kann so nicht mehr leben. Erzähle mir endlich deine Geschichte. Du musst die bösen Geister von damals vertreiben, endlich zur Ruhe kommen."

    Ihre Stimme wird leiser.

    „Und ich auch. Ich halte es nicht mehr aus, wenn du nachts im Traum schreist, schweißgebadet aufwachst, deinen irren Blick hast und dich mir verschließt, wenn ich dir helfen will. Bitte, rede. Du weißt, wie sehr ich unter deinem Schweigen leide."

    Der Blick der älteren Frau, ihr Name ist Anu Lina, ist inzwischen zurückgekehrt. Sie mustert ihre Tochter. Dann steht sie auf, verzieht dabei ihr Gesicht vor Schmerz.

    „Wieder deine Hüfte?"

    Besorgt die Stimme der Tochter. Die Mutter nickt, lässt sich wieder in den Gartenstuhl sinken, streichelt einen kleinen schwarzen Mischlingshund. Sie nickt.

    „Irja, du hast wohl recht. Die Zeit ist gekommen. Meine auch. Wer weiß, wie lange mein Kopf noch klar ist. Glaub mir, es fällt mir noch immer schwer darüber zu reden, auch wenn Christophs Bericht etwas in mir gelöst hat."

    Für einen Moment verliert sich wieder ihr Blick.

    „Christoph und ich. Wir wären in einer anderen Zeit zusammen alt geworden. Gerne hätte ich gewusst, wie er ausgesehen hat, kurz bevor er starb. Schade, dass der Journalist kein Bild von ihm hat. – Irja, du hast doch seine Adresse. Frag noch einmal nach."

    Den Blick ihrer Tochter bemerkend. Ihre Augen senkend.

    „Ja, ich weiß. Du hast ihn einige Male gefragt. – Irja, wo soll ich anfangen?"

    „Mama, da wo Christoph aufgehört hat. Er konnte nach Schweden fliehen. Indrek half ihm. Du warst schon auf dem Festland im Gefängnis, als er floh. So schreibt Christoph."

    Die Frau nickt.

    „Gut, ich will es versuchen."

    Noch einmal geht ihr Blick in die Ferne, als ob sie die Vergangenheit sucht. Sie räuspert sich. Als sie den erwartungsvollen Blick ihrer Tochter bemerkt, lächelt sie.

    Ihr Lächeln wirkt etwas verlegen.

    „Ich will es versuchen, Irja. Aber bitte, akzeptiere es, wenn ich nicht mehr reden kann. Diese Zeit, ihr könnt sie euch nicht vorstellen. Glaubst du etwa, ich habe nicht gespürt, wie du gelitten hast? Es ging einfach nicht. – Die ersten Tage sind bei mir fast verschwunden. Ich stand unter Schock, dachte, ich wäre in einem schlimmen Traum, und hoffte, aus ihm zu erwachen. Nach anderthalb Jahren hatte ich Christoph für einige wenige Stunden. Es war unglaublich, wie wir uns wieder gefunden hatten. Die Liebe war da, als wäre Christoph für einige Wochen in Tallinn gewesen und nun zurückgekehrt. Ich hatte gehofft, ihn für immer zu haben. Nicht einmal zwölf Stunden waren wir zusammen gewesen. Auf der Miliz in Kärdla wurden wir getrennt. Sie hatten Christoph geschlagen. Das hatte ich noch gesehen, dann sperrte man mich in eine Einzelzelle. Es waren Esten! Ich kannte sie alle. Meine Angst um ihn, ich konnte sie nicht erfassen. Er war ihnen ausgeliefert, dass dies für mich genauso galt, begriff ich nicht. Sie hatten meine Mutter geschlagen. Was konnte sie dafür, dass ich einen Deutschen liebte? Hatten sie sie verhaftet?

    Es dauerte nur wenige Stunden, und ich wurde aus meiner Zelle geholt. Ein Milizionär teilte mir mit, dass ich noch heute nach Tallinn und von dort nach Rakvere verlegt werden sollte. Warum Rakvere? Später erfuhr ich, dass mein Vater dort das NKWD leitete. – Du weißt, mein Vater war nach dem ersten Krieg in sein gelobtes Land gegangen und hatte dort Parteikarriere gemacht. – Ein Jeep hielt vor dem Milizgebäude, man pferchte mich auf den hinteren Sitz zwischen zwei Milizionäre. Einer von ihnen stank nach Troinoi, nach diesem billigen süßlich riechenden Parfüm, das die Russen so lieben. Stell dir vor, es wurde sogar manchmal getrunken, wenn sie keinen Wodka hatten. Das Zeug gab es noch vor einigen Jahren. Ich hasse diesen Geruch!"

    Anu Lina schüttelte sich.

    „Sein Schenkel drückte gegen meinen. Er grinste mich an, genoss meine Hilflosigkeit. Ich hatte keine Möglichkeit vor seinen Zudringlichkeiten zu flüchten. Seine Hand lag auf meinem Knie. Erst als der andere ihn ermahnte, ließ er es sein.

    Die Überfahrt auf das Festland.

    Sie hatten mich in die Messe gebracht. Flankiert von beiden, saß ich am hintersten Tisch, sah die Küste Hiiumaas kleiner werden und weinte. Ich konnte nicht anders. In diesem Moment begriff ich erst wirklich, dass ich verloren war. Die Minuten verrannen. Wortlos rauchten die beiden Milizionäre, während ich auf die Tischplatte starrte. Meine Gedanken spielten verrückt. Aufspringen, über Bord gehen, um Hilfe rufen, dem neben mir Sitzenden die Pistole entreißen.

    Hirngespinste!

    Unbewusst blickte ich auf und sah zwei Jungen aus Pühalepa. Ich hatte sie einige Jahre zuvor in meiner Klasse. Die beiden saßen auf der Nebenbank, blickten zu mir und grüßten mit einem Nicken. Natürlich hatten sie begriffen, was hier vor sich ging. Mein Lächeln wirkte sicher verunglückt und wurde sofort von einem der Milizionäre bemerkt.

    „Schert euch fort!", herrschte er die beiden an.

    Wortlos standen die Jungen auf. Als sie neben meiner Bank waren, blieb der Ältere der beiden stehen.

    „Alles Gute für Sie, Frau Lina. Bleiben Sie stark!"

    Bevor die Milizionäre sie greifen konnten, waren die Jungen schon vorbei.

    Die Uniformierten waren nicht dumm und ließen die Jungs laufen, ehe sie ihre Gefangene unbeaufsichtigt ließen.

    Alles war genau geplant. Am Hafen in Haapsalu wartete bereits eine Limousine auf uns. Ich schien eine wichtige Gefangene zu sein.

    Die beiden Milizionäre übergaben mich an zwei Zivilisten. Sie stellten sich nicht vor, schoben mich nur in den Fond des Wagens. Die Fahrt ging nach Tallinn. Mehr erfuhr ich nicht. Ich saß hinten alleine. Doch eine Chance zur Flucht hatte ich nicht. Im Inneren fehlten die Türgriffe, selbst die Fensterkurbeln waren abgebaut worden. Gardinen verhinderten, dass ich Blicke nach draußen werfen konnte. Warum dieser Aufwand? Wieso war ich eine besondere Gefangene?

    Abgase zogen in den Fond, denn das sowjetische Benzin in jener Zeit stank fürchterlich. An einer Straßensperre, wir mussten schon kurz vor Tallinn sein, denn ich sah durch einen Gardinenspalt eine der Betonstraßensperren, die die Deutschen errichtet hatten, hielt unser Wagen für einen Augenblick und durfte sofort passieren. Die ausgebrannte Ruine des Baltischen Bahnhofs, ein Stalinbild, riesig auf der Fassade. Der Wagen bog ab und hielt nach wenigen Minuten. Die Tür wurde aufgerissen, man zerrte mich aus dem Auto. Um mich ein Häuserkarree, ein Hof, Uniformierte. Ich war im Gebäudekomplex des NKWD in der Pagari. Von hier gab es kein Zurück!

    Ich weiß nicht, wie lange ich in meiner Zelle war, bis die Verhöre begangen.

    Drei, fünf Tage oder eine Woche? In aller Frühe, ich war noch müde und erschöpft, wurde das Licht angestellt. Ein Blick durch die Klappe der Tür, gesichtslose Augen musterten mich. Ich nannte meinen Namen, nahm meinen Blechnapf in Empfang, eine Emailtasse mit dünnem Tee. Dann saß ich den ganzen Tag auf einem Hocker, mein Gesicht der Zellentür zugewandt, denn auf der Pritsche liegen oder umherlaufen, durfte ich nicht.

    Mein Körper war wie ausgebrannt, eine endlose Schleife durchlief meinen Kopf.

    Die Erinnerungen an Christoph, unser Sommer, die seltenen Treffen, Dialoge, sein Geruch. Die Fragen, ob er noch lebte, wo er jetzt war, quälten mich. Was aus mir werden würde, war mir egal. Stunde um Stunde verrann. Mein Kopf kam nicht zur Ruhe. Immer wieder fragte ich mich, was ich verbrochen hatte. Gegen Mittag die Prozedur wie am Morgen: Die Klappe öffnete sich, ein Napf mit dünner Suppe, eine Scheibe Brot. Dasselbe am Abend. Danach wurde das Deckenlicht ausgeschaltet, und ich lebte in der Dunkelheit, denn die Fenster waren zugemauert. Panik befiel mich, ich konnte nicht schlafen, obwohl ich so müde war.

    Schlief ich, verfolgten mich Albträume.

    Einer von ihnen verfolgt mich noch heute: Ich sehe mich nackt in meiner Zelle stehen, meine Sachen liegen vor mir am Boden. Immer wieder versuche ich sie anzuziehen, sie gleiten von mir ab.

    Schutzlos bin ich den Wärtern ausgeliefert. Nach Jahren erst verstand ich meinen Traum, obwohl er so logisch ist: Denn sie hatten mir bei der Einlieferung alles weggenommen, womit ich mich hätte umbringen können: Schnürsenkel, Rockgürtel, selbst das Schlüpfergummi. So war ich ihnen ausgeliefert!

    In den Zellengang wurde ich erst geführt, als die Verhöre begannen.

    Das Gesicht an die Wand gepresst, stand ich mit anderen gefangenen Frauen und wartete, bis die NKWD-Männer kamen, um eine oder mehrere von uns nach oben zum Verhör zu führen. Die männlichen Gefangenen sahen wir nicht. Doch sie mussten im selben Gang untergebracht worden sein, denn in meiner Zelle hörte ich abends die Schreie von Männern. Namen wurden gerufen. Einmal hörte ich Ants Sepp Namen. Er war ein Mitstudent aus Tallinn. Man schlug ihn vor meiner Zelle, sein Körper prallte gegen die Zellentür. Ich rief seinen Namen: „Ants! Ants! Ich bin Anu", trommelte mit meinen Fäusten gegen die Zellentür. Die Tür wurde aufgerissen. Wortlos schlug mir ein Wärter ins Gesicht, stieß mich zu Boden.

    Ants hatte ich nicht sehen können.

    Ich war eine privilegierte Gefangene, denn ich hatte eine Einzelzelle. In diesen Tagen wird noch Indreks Hand über mir gewesen sein. Die anderen Mädchen und Frauen hausten zu acht oder noch mehr in den engen Zellen. Ich hatte sogar alle zwei Tage eine Stunde Hofgang.

    Bei meinem zweiten Gang sah ich eine „Rahva-Hääl"¹ . Sie war vom 23.August. Genau vor einer Woche war ich mit Christoph zusammen gewesen. Eine Woche! Und ich befand mich in einer anderen Welt. Was sag ich Welt – Hölle!"

    III

    Donnerstag, 23. August 1945, Gotland, Schweden

    Seit einer Woche auf Gotland, gerettet und doch noch nicht wirklich in Sicherheit. Denn heute hörte ich das Gerücht, dass alle Deutschen von den Schweden an die Russen ausgeliefert werden sollen. Ab jetzt bin ich Este, Indrek Brügman. Indrek, du wirst mir noch einmal helfen müssen. Schwachsinn, was ich hier tue, schreibe ein Tagebuch, finden es die Schweden bei einer Razzia, fliegt mein Schwindel auf.

    Hin-und-her habe ich überlegt, wollte das Heft schon fortwerfen. Ich wage es trotzdem, brauche das Schreiben wie Nahrung. Will auch nur Stichpunkte notieren, Notizen für später, wenn ich wieder bei Anu bin. Kann dann meine Geschichte erzählen, sie wird mir glauben, dass ich sie nicht in Stich gelassen habe. Das Heft habe ich vor zwei Tagen von dem schwedischen Kapitän bekommen. Da dachte ich noch, dass wir direkt in Schweden anlanden. Ich wollte dann sofort Kontakt zu den Exil-Esten aufnehmen, um Rat und Unterstützung bitten. Ich war mir sicher, Anu helfen zu können. Dann erhielt der Kapitän die Weisung, Gotland anzulaufen. Warum wusste er selber nicht. Alle waren unruhig und in Sorge. Berechtigt! Die Schweden holten uns sofort von Bord, den Kapitän hatten sie vorher befragt. Jetzt sitzen wir in einer bewachten Baracke. Sechs Esten, zwei Letten. Sie werden mich nicht verraten. Aber seit gestern sind zwei deutsche Marinesoldaten unter uns. Ich darf kein Deutsch reden.

    Ich vermute, sie werden mit den Deutschen anders umgehen, als mit den Balten. Deutsche! Teufel! Die deutsche Sprache, alles Deutsche ist aussätzig, wir sind Barbaren, unsere Kultur vergessen. Zwölf kurze Jahre, ein Nichts in der Geschichte, haben uns zu Paria gestempelt. Wir sind Paria. Ich schäme mich als Deutscher. Ich werde Estnisch schreiben.

    Ich liebe meine Sprache, muss sie komplett verleugnen, ein Stück Buße? Das Estnische ist wie eine Melodie. Aber meine Muttersprache hat so schöne Bildwörter. Ich liebe beide Sprachen. Es sind meine Sprachen. Wer bin ich? Este? Deutscher?

    Ich fühle mich so schuldig, finde keine Ruhe, die Selbstvorwürfe, dass ich so leichtsinnig gewesen bin. Wir waren an dem Abend blind gewesen!

    Nichts kann meine Schuld wieder gut machen. Sollte ich Anu finden, es wird immer etwas zwischen uns sein. Sie ist in den Händen des NKWD, ich in Sicherheit. Ich bin so dumm! Mache mir Gedanken, was wäre wenn… ich weiß doch nicht einmal, ob sie noch lebt.

    Heute Nacht habe ich von Tante Alwine geträumt, sah sie inmitten ihrer alten Möbel in der Posener Wohnung. Durch sie habe ich damals in Tallinn Riina kennengelernt. Nie wäre ich sonst Anu begegnet.

    Ich werde von Tante Alwine schreiben, über ihre Umsiedlung, mich an Johannes erinnern. Von der Vergangenheit schreiben, über die Zukunft spekulieren – was wäre wenn – bringt nichts. Ich will Anu sehen, andere, die tot sind, mein Trauma schildern, denn jede Nacht suchen mich schlimme Träume heim. Natürlich muss ich vorsichtig sein. Heute Abend habe ich Glück.

    Sie haben die Notlampe in der Baracke angelassen. Das schwache Licht schützt und reicht zum Schreiben. Meinen Schlaf werde ich sowieso nicht finden. Womit fange ich an?

    Meine Zeit in Posen. Sie hatten mich im Herbst 1939 in den neuen Warthegau kommandiert. Der Krieg war vorbei, so dachten alle. Dabei ging er erst los. Ich war Sanitätsfeldwebel, schob eine ruhige Kugel.

    Anfang Dezember erhielt ich eine Karte meines Vaters.

    Auf ihr waren nur einige Sätze und eine Adresse vermerkt. Diese elektrisierte mich. Tante Alwine war in Posen! Ich hatte davon gehört, dass die Deutschbalten in den Warthegau umgesiedelt werden sollten. An die Tante hatte ich nicht gedacht! Sie hatte ich im Sommer 1938 in Reval besucht. Durch sie hatte ich Anu kennengelernt.

    Sie war damals für mich ein Bote des Friedens.

    Im Regimentsstab wälzte ich das Posener Telefonbuch, fand aber keinen Telefonanschluss in ihrem Haus. Schließlich nahm ich ihren möglichen Herzschlag in Kauf und wollte sie überraschen. Mein Oberstabsarzt gab mir für den nächsten Tag frei, und ich organisierte Schokolade und Bohnenkaffee und fuhr mit der Straßenbahn in das Zentrum. Noch immer dominierte das Militär auf den Straßen. Allerdings sah man weniger Bewaffnete. Der Besatzeralltag schien zu beginnen. Händler standen vor den Krämerhäusern auf dem Alten Markt. Am Haupttor gab mir ein polnischer Hilfspolizist Auskunft, wie ich die Sankt-Martin- Straße finden würde. Unweit des alten Hotels „Lech" befand sich die Wohnung meiner Tante. Die Sankt Martin ging direkt vom Markt ab.

    Ich weiß nicht wie es geschah, ich verlief mich. Diese Straßen mieden Touristen. Eine unheimliche Ruhe umgab mich. Nichts spürte ich von der Großstadt. Hohe Mietskasernen, wie ich sie aus Rostock kannte, abblätternder Putz, der beißende Geruch von nasser Braunkohle, der sich aus den Schornsteinen in die Straßenflucht senkte. Hier sah ich keine deutschen Uniformen, und plötzlich fühlte ich mich unwohl. Ich war Sanitäter, kein Soldat – aber Deutscher. Und die Polen hassten uns aus gutem Grund. Zurück zur Hauptstraße! Als ich mich umdrehte, prallte ich fast gegen einen Zivilisten.

    „Dzien dobry!"²

    Ein verarbeitetes Gesicht mit jungen Augen unter einer Schiebermütze blickte mich an. Kein Hass, wie ich es erwartet hatte, nur Neugierde war in seinen Augen. Ich grüßte zurück, war schon an ihm vorbei.

    „Kann ich Ihnen helfen?"

    Sein Deutsch war hart, aber sehr klar. Ich hielt ein, mein Blick schien ihn zu amüsieren.

    „Sie haben Angst? Ich tue Ihnen nichts, auch wenn sie nicht willkommen sind. Nun?"

    Seine Ehrlichkeit verschlug mir fast die Sprache. Der Blick war noch immer offen, abwartend.

    „Ich suche die Śweti Marcin. Das Hotel Lech."

    „Kein Problem, er wandte sich um, „gehen Sie dort die Straße hinunter, dann links. Wenn Sie auf die Straßenbahnschienen gelangen, halten Sie sich rechts. Sie kommen direkt auf die Śweti Marcin. Das Hotel ist nicht zu übersehen.

    „Danke!"

    Ich wollte ihm irgendwie etwas sagen, ihm zeigen, dass ich nicht der böse Deutsche war. Er hatte schon zum Abschied genickt. „Sie können sehr gut Deutsch."

    Er wandte sich noch einmal zu mir, sein Lächeln wirkte verkrampft. „Ich habe in Deutschland gearbeitet, als Schnitter. Bis Ihr Hitler kam."

    „Er ist nicht mein Hitler."

    „Und warum sind Sie dann hier?"

    „Ich bin Sanitäter, nicht freiwillig in Posen. Ich habe Medizin studiert, bis der Krieg begann. Ich möchte weiter studieren."

    „Studieren?"

    Er lachte auf.

    „Hier geht es ums Überleben. Passen Sie auf, er zeigte auf mein Ärmelabzeichen, „auch das wird Sie nicht schützen.

    Dann verschwand er in einem nahen Torweg.

    Ich war nur einen Häuserblock von der Hauptstraße entfernt gewesen.

    Als ich um die nächste Ecke bog, hörte ich das Kreischen der Straßenbahn. Schnell fand ich die Straße. Der Pole ging mir dabei nicht aus dem Kopf. Für einen Moment schloss ich meine Augen, bevor ich die Klinke der Haustür niederdrückte. Vor anderthalb Jahren hatte ich meine Großtante in Tallinn gesehen. Dazwischen lagen Ereignisse, die ich damals nie erahnt hätte.

    Ein halbdunkler Hausflur, ein roter Kokosläufer, der sich die Treppe hochwand, das Holzpaneel vermittelte behagliche Bürgerlichkeit.

    An den zwei Wohnungstüren fand ich deutsche Namensschilder aus Messing. In welcher Stadt, in welchem Haus, an welcher Tür waren sie ursprünglich angebracht worden? Meine Schritte waren lautlos, als ich die Treppe hinauf ging. Wo mögen die vorherigen Bewohner dieses Hauses geblieben sein, fragte ich mich. Von oben plärrte Grammophonmusik. Eine Frauenstimme sang eine italienische Arie. In der zweiten Etage wieder zwei Wohnungstüren, grau, Briefschlitze in den Türen, darüber Scheibengardinen. Messingschilder: Meyendorf – darunter ein Schild, das mir bekannt war. Kaum hatte ich die Klingel gedrückt, hörte ich Geräusche hinter der Tür, eine Kette scharrte, die Tür öffnete sich und ein Jungmädchengesicht tauchte im Spalt auf. Zwei blaue misstrauische Augen musterten mich.

    „Bitte? Sie wünschen?"

    Als ich meinen Namen genannt hatte, veränderten sich diese Augen. Nun schauten sie ungläubig.

    „Das kann doch nicht sein! Sie sind der Neffe! Ich kenne Sie. Nein, natürlich nicht. Aber Ihre Tante hat von Ihnen erzählt. Warten Sie."

    Die Tür schloss sich, wieder ein Scharren. Dann stand ein junges Mädchen vor mir. Ihre Größe war die einer 14jährigen. Ihr Gesicht und die Brust belehrten mich schnell eines anderen. Sie musste meinen Blick gespürt haben und wurde rot.

    „Bitte, aber ich glaube, Ihre Tante hält noch Mittagsschlaf. Legen Sie bitte ab. Gott, wo kommen Sie her?"

    Ein langer Flur nahm mich auf. Auch hier behagliche Bürgerlichkeit.

    „Ihre Tante hat die beiden hinteren Zimmer. Sie ist sehr nett, hat aber Heimweh. Noch mehr als wir. Lassen Sie sie noch schlafen. Heute Nacht ist Ihre Tante wieder gewandert. Sie findet einfach keine Ruhe."

    Das Mädchen wies mich in die Küche. Ich schätzte sie auf 16 oder 17. Sie hatte ein hübsches Gesicht, lange dunkle Haare. Ich packte meine Tasche aus.

    „Ich habe Kaffee aufgetrieben. Wenn Sie wollen, kann ich die Tüte aufmachen?"

    „Nein, danke. Ich trink keinen Kaffee, aber ich brühe Ihnen eine Tasse."

    „Nein, nicht nötig. Ich besorge Kaffee und trinke ihn dann weg?"

    Mit einigen Sätzen erklärte ich mein Hiersein. Wir saßen beide am Küchentisch, wussten nicht so recht, wie wir uns verhalten sollten.

    „Sie sind aus Tallinn?"

    Ich wusste nicht, ob ich das Mädchen duzen konnte. Sie schüttelte den Kopf.

    „Nein, eigentlich nicht. Ich komme aus Narva. Wir hatten ein Hotel."

    Ein verschämtes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

    „Sie können mich Elli nennen."

    Sie wurde wieder rot.

    „Vater hatte dort das größte Hotel. Das ‚Petersburg‘. Aber sein Teilhaber hat sich mit den Geldern aus dem Staub gemacht. Wir sind erst im Herbst 1938 nach Reval gezogen. Ihre Tante haben wir auf der ‚Sierra Cordoba‘ kennen gelernt."

    Gerade wollte sie weiter sprechen, da hörte ich einen Ruf. Meine Tante! Das Mädchen wollte aufstehen.

    „Lass, ich gehe."

    Lieber wäre ich gelaufen!

    Ihr Zimmer groß, eine hohe Decke, Parkettfußboden. Früher musste das der Salon gewesen sein. Tante Alwines Möbel standen wie in Reval, obwohl dieses Zimmer 1000 Kilometer entfernt war. Sogar den Bücherschrank hatte sie mitnehmen können.

    Plötzlich spürte ich den Duft von Kuchen und Kaffee, von Marzipan, obwohl das alte Haus in der alten Stadt im Norden an der Ostseeküste so weit entfernt war. Die Tante im Halbdunkel klein auf ihrer Chaiselongue, wie in einem Nest, hatte mich noch nicht bemerkt.

    „Tante Alwine?"

    Sie richtete sich auf. Ihre kurzsichtigen Augen versuchten, den Besucher zu erkennen.

    „Tante Alwine, erkennst du mich nicht?"

    „Christoph?"

    „Ja."

    „Gott, Christoph!"

    Sie wollte aufstehen, ich war schon bei ihr, half ihr auf. Sie fiel mir in den Arm, leicht wie ein Vogel. Die Tante zitterte, konnte nicht sprechen.

    „Tante, ich wollte dich nicht erschrecken."

    „Gott Christoph, ich glaube es nicht!"

    Sie schaute auf, griff nach meinen Händen.

    „Junge!"

    Sie fasste sich schließlich, und dann saßen wir beide am großen Esstisch, wie damals in Reval. Sie, mir gegenüber, hielt meine Hand.

    Das Greisinnengesicht strahlte, und auch ich war berührt. Alles war wie damals in Reval. Zurückfliehen in diese Zeit, den Sommer spüren, morgen auf die „Koidula" gehen und nach Hiiumaa übersetzen, Anu würde am Kai stehen mit Dr. Ruhve. Am Abend unter der alten Linde mit Anu, Indrek und Tiina sitzen und erzählen. Die Freunde erleben. Wir würden lachen und in der Nacht würde ich Anus Wärme spüren.

    Ich wachte auf. Die altersgrauen Augen meiner Tante musterten mich.

    „Christoph, du träumst. Wir sind nicht in Reval. Auch ich wünsche es mir. – Erzähle, wo kommst du her? Ich kann es noch immer nicht glauben."

    Ihre Augen lachten.

    „Gott, ich fühle mich wie bei einer Weihnachtspredigt von Pastor Walter."

    Es klopfte. Elli stand in der Tür, ein Tablett vor sich. Die Tante strahlte.

    „Elli – Christoph, sie ist ein Engel."

    Das Mädchen stellte Kanne und Tassen auf den Tisch. Als ich sie anlächelte, drehte sie sich weg und huschte zur Tür. Ich schenkte der Tante ein, die mich noch einmal aufforderte meine Geschichte zu erzählen. Gerne hätte ich von ihr erfahren, wann sie Anu zuletzt gesehen hatte, was in Tallinn passiert war. Ich tat ihr den Gefallen. Eine Zärtlichkeit hatte mich erfasst. Während ich die Tante damals zwar als Verwandte und Gastgeberin, im Stillen aber nur als Fossil einer vergangenen Zeit gesehen hatte, war sie nun meine Familie für mich und das Bindeglied zu Anu, denn sie hatte sie noch vor einigen Wochen gesprochen, konnte mir erzählen, wie es um sie stand. Als ich von mir berichtet hatte, lag die Dämmerung im Zimmer. Wir schwiegen eine Weile. Die Tante stand auf, ging zum Lichtschalter.

    Im Dämmerlicht wirkte sie noch graziler. Als das Deckenlicht aufflammte, schloss ich meine Augen.

    „Oh entschuldige, es ist viel zu hell. Ich mache die Leselampe an. Christoph, ich habe etwas. Vielleicht erinnerst du dich."

    Tante Alwine öffnete das Büfett und stellte eine Kristallkaraffe auf den Tisch.

    „Kirschlikör. Das Getränk unserer Bridgerunde, die es nun nicht mehr gibt. Wie so vieles nicht mehr."

    Als ich einschenken wollte, wies meine Tante mich ab.

    „Christoph, ich habe noch eine ruhige Hand!"

    Das war sie wieder, wie früher.

    Sie hatte noch ihren Dickkopf, und ich freute mich. Die Tante hob ihr Glas.

    „Prost mein Junge. Darauf, dass du hier bist. Das ist mein schönster Tag, seitdem ich in Posen bin."

    Ein verschmitztes Lächeln legte sich in ihre Falten.

    „Da muss ich dem Hitler ja fast dankbar sein, dass er mich umgesiedelt hat, sonst hätte ich dich nie mehr gesehen."

    „Tante, erzähle mir von Anu, wann bist du ihr zuletzt begegnet?"

    „Anu, ein liebes Mädel. Aber du musst warten. Ich will dir alles erzählen."

    Tante Alwines knotige Finger falteten sich vor ihrem Mund, in ihrem Gesicht arbeitete es. Ich spürte, wie sie um die richtigen Worte rang.

    „Christoph, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Es ist so viel passiert. Ich denke noch immer, ich bin in einem Traum, sie reckte sich, „es ist ein böser Traum und ich kann einfach nicht aufwachen.

    Als ich ihre Hand halten wollte, zog sie sie fort.

    „Lass, es muss raus. Es geht schon. – Weißt du, die Angst und Unsicherheit hatten mich schon einige Monate begleitet: Hitlers Einmarsch in die Tschechei, die Besetzung des Memelgebietes. Die meisten sagten, das ist alles weit weg. Was geht uns das Reich an. Ich fühlte mich nicht wohl. Denk meinetwegen, dass dies Unkerei von einem alten Weib war. Aber wirklich, ich hatte schon Angst. Dann, als die Russen ihre Stützpunkte auf Dagö, Ösel und in Baltisch Port bezogen, wurden die meisten Deutschen wach. Die Leute von der Selbstverwaltung versuchten zu beruhigen. Die Angst vor den Russen wuchs. Natürlich auch bei den Esten. Christoph, Anu hat mich damals besucht. Sie war gerade an der Handelsschule. Du hättest sie erleben sollen, wie sie geweint hat. Das Mädchen war voller Angst, dass ihr euch nie wieder sehen würdet.

    Wie sollte ich sie trösten? Ich kannte sie ja kaum, und was sollte ich ihr sagen? Dann ging alles sehr schnell. Stell dir vor, in der Zeitung stand, dass der Führer uns für neue große Aufgaben berufen habe. Der Führer – sag mal, was hat der Hitler sich überhaupt gedacht, wir paar Tausend Deutschbalten? 700 Jahre haben unsere Vorfahren in Estland gelebt, und dann stellt sich dieser Mensch hin und sagt, wir sollen mal schnell ein Land eindeutschen? Schon dieses Wort ist widerlich!"

    Das Gesicht der Tante sprühte vor Zorn. Unwirsch zog sie ihre Hand weg, als ich sie beruhigen wollte.

    „Na, ist doch wahr! Hier leben Polen. Wir haben unsere Heimat oben im Norden. Der Hitler nimmt uns unser Land und die Heimat dieser Menschen! Was haben wir hier verloren? Estland ist meine Heimat! Nicht Polen! Schenk mir einen Likör ein, Christoph. Der beruhigt."

    Die alte Frau hatte recht. Wir tranken, dann fuhr sie fort, nun ruhiger.

    „Die Leute von der Selbstverwaltung kamen, redeten mit mir, mit uns allen, warnten uns vor den Russen, dass sie in Estland bald das Sagen hätten, dass sie uns verschleppen würden. Handzettel lagen in meinem Briefkasten, ob man sich ausschließen wolle von der Gemeinschaft, dass man auf sich gestellt sein würde, wenn man in Estland bleibe. Wir würden es bitter bereuen, und das Reich würde uns später nicht aufnehmen. Und geduzt haben sie uns auf den Zetteln, wo dies doch ein Zeichen des Vertrauens ist. Ich hab ihnen nicht getraut. In der Zeitung stand, dass man uns im Reich brauche. Sie suchten Kaufleute, Spezialisten, Techniker. Was sollte ich alte Frau im Reich? Ich war doch unnütz. Aber in Reval alleine bleiben, ohne meine Freundinnen?"

    „Sind denn wirklich alle gegangen?", wollte ich wissen.

    „Nein, der alte Bankier Scheel nicht. Es sind einige geblieben. Estnisch-deutsche Familien, viele Alte. Den Gert Koch von der Versicherung kennst du doch auch. Die wohnten oben auf dem Domberg. Ich hab dir mal von denen erzählt, die hatten doch auch ein Sommerhaus in Kosch, gleich neben euch."

    Ich zuckte mit den Schultern.

    „Na ja, da warst du wohl noch zu klein. Der ist jetzt bei der Treuhandverwaltung."

    Sie sah mein fragendes Gesicht.

    „Nun, das sind die, die unser Vermögen abwickeln, die Häuser, Banken, Grundstücke. Deutsch, Christoph, deutsch. Alles hat seine Ordnung. Wenn ein Gemeinwesen stirbt, dann mit deutscher Gründlichkeit! Alles muss geregelt sein."

    Während ihrer Worte war die Tante zum Bücherschrank gegangen und hatte einige Zeitungen und ein kleines Bündel geholt.

    „Hier, lies!"

    Sie schlug die „Revalsche Zeitung auf. Ihre Hände zitterten dabei. Es musste eine der letzten Ausgaben sein. Seitenweise sprangen mich Anzeigen an: „Gut erhaltener Flügel gesucht, „Achtung! Kaufe Möbel!, „Haus ohne Vermittler gesucht!

    Die Deutschbalten trennten sich von ihrem unbeweglichen Hab und Gut. Die im Land Bleibenden wollten es für wenig Geld übernehmen.

    „Du kannst dir nicht vorstellen, wie die letzten Tage in Reval verliefen! Christoph, es war die Hölle für mich! Den letzten Gottesdienst von Pastor Walter in der Olaikirche werde ich nie in meinem Leben vergessen. Die große Kirche war bis zum letzten Platz besetzt. Die Menschen haben geweint bei seiner Predigt. Selbst unser Pastor stockte, weil er nicht mehr reden konnte. Für ihn muss es besonders schwer gewesen sein. Er hat so lange an dieser Kirche gepredigt. Unsere letzte Bridge-Runde, mein letzter Gang in die deutsche Buchhandlung. Ich hab nicht einmal mehr meinen Tippzettel abgegeben."

    Ein verlorenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

    „Lotterie werde ich nie mehr spielen. Ich kann den wöchentlichen Ärger nicht mehr ab in meinem Alter. Über allem lag das Endgültige. Und trotzdem waren viele voller Erwartung, trotz der Trauer, dass wir unser Land verlassen mussten. Diese Schlagzeilen in der Zeitung: Wir gehen dorthin, wohin uns der Führer stellt. Ich konnte ihre Erwartungen nicht teilen. Reichsdeutsche sollten wir nun werden. Ich bin eine Estländerin, nichts anderes!"

    Die Augen der Tante funkelten auf.

    „Uns war klar, dass dies eine Flucht vor den Russen war. Und die Esten wissen das auch. Einige reagierten mit Häme, auch in einigen Zeitungen standen nicht schöne Sachen. Aber alle Esten, die ich kenne, ob Sigel, Kalju, selbst die Milchfrau, waren voller Wehmut. Ich habe viel Herzlichkeit in den letzten Tagen in Reval erfahren…"

    Tante Alwine kämpfte mit den Tränen.

    Als ich sie bat zu schweigen, schüttelte sie den Kopf.

    „Lass nur. Das muss raus. Wem soll ich dies denn erzählen, wenn nicht dir? Schreibe es auf für deinen Vater. Ich konnte es bisher nicht."

    Die Tante räusperte sich.

    „Am letzten Abend in Reval kam noch einmal Anu zu mir. Sie hatte mir beim Packen geholfen. Auch die Jungen von Pastor Walter halfen. In diesen Tagen sind alle sehr eng zusammen gerückt. Deine Freundin wollte in der letzten Nacht bei mir bleiben. Ich wollte es nicht, musste alleine Abschied nehmen. Die Fenster im Salon hatte ich weit aufgemacht, um noch einmal die Stundenglocke der Olaikirche zu hören. Ich saß vor dem geöffneten Fenster. Die Nacht war kalt, ich schaute auf die dunkle Straße, dachte an meinen Mann, an meine Eltern. Christoph, ich verabschiedete mich von unseren Vorfahren. Ich war eine Woche zuvor an unserem Familiengrab in Ziegelskoppel gewesen. Aber in dieser Nacht nahm ich wirklich Abschied. Er war endgültig."

    Die Tante begann zu weinen. Als ich aufstehen wollte, um sie zu trösten, schüttelte sie wieder ihren Kopf, doch ihre Hand entzog sie mir nicht. Sie schnäuzte sich. In diesem Moment sah ich mich als weinendes Kind mit meinem Vater vor der Abfahrt nach Deutschland am Fenster stehen. Auch ich hatte damals geglaubt, dass dies ein Abschied für immer sein würde.

    „Tante, warum sollst du Reval nicht wieder sehen?"

    „Christoph, ich bin viel zu alt. Lass nur. Ich habe mich mit der Trennung abgefunden. Was hätte uns unter den Russen erwartet? Und, dass sie kommen werden, weiß jeder."

    Mit ihren dünnen Greisinnenfingern strich sie die Spitzendecke glatt.

    „Am nächsten Morgen, es war der sechste November, kamen die beiden Speditionswagen, auf denen meine Möbel und die großen Kisten zum Zollamt gebracht werden sollten. Einer der Esten machte eine spitze Bemerkung, wurde aber von den anderen sofort angefahren, so dass er schwieg. Anu war wieder bei mir. Am liebsten hätte ich dein Mädchen mitgenommen."

    Ein Lächeln huschte über das alte Gesicht.

    „Dann standen wir beide in der leeren Wohnung. Ein Vertreter der Treuhand ging mit mir durch die Räume und nahm meine Schlüssel in Empfang. Der Abschied war nun amtlich. Die Treuhand würde mein Haus verkaufen. Ich hatte mit dem Ehepaar Taara gesprochen und ihnen einen günstigen Preis angeboten. So weiß ich, wer unser altes Haus bewohnen wird. Sie werden es pflegen, schon weil sie selbst darin wohnen. Als wir im Hausflur standen, Anu hatte meine beiden Taschen an sich genommen, stand das Konditoren-Ehepaar plötzlich vor mir. Frau Taara weinte, dabei hatte ich viel mehr Grund dazu. Sie drückte mir ein Paket Kuchen in die Hand."

    Die Tante griff nach der mir wohlbekannten Keksdose.

    „Hier Christoph, noch einige Ssuschki³ . Sie schmecken noch nach Monaten frisch."

    Die Tante hielt mir die Dose hin und beobachtete mich, wie ich in einen der Teigringe biss. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. In diesen Minuten war ich wirklich wieder in der Stadt meiner Kindheit angekommen. Was war in diesen Monaten alles geschehen! Und Hitler sprach von einer großen Zeit. Nein: Es war eine schlimme Zeit! Die Tante saß mir gegenüber, lächelte mich an. Sie glaubte an Gott, vergab allen, sah die Umsiedlung und den Krieg als Gottesprüfung. Ich beneidete sie an diesem Abend, wie fest sie in ihren Glauben war. Sie fuhr fort.

    „Anu hat mich noch zum Zollamt gebracht. Wir verabschiedeten uns. Die Trennung fiel mir noch einmal schwer, als mich das Mädchen drückte. Sie sprach nicht viel, doch in ihrer Miene war so viel Gefühl. Dies Päckchen gab sie mir noch. Es ist für dich, Christoph. Warte."

    Ihre kühle Hand lag auf meinen Arm.

    „Pack es aus, wenn du alleine bist. Es ist nur für dich, hat sie gesagt. – Die Kontrolle am Zollamt war reine Formsache. Packwagen, LKW, Pferdewagen standen in langer Reihe davor. Ich brauchte nicht einmal alle Koffer zu öffnen. Man hatte uns gesagt, dass wir nach Stettin auslaufen würden. Ja, und dann ging es an Bord. Die ‚Sierra Cordoba‘ war schon ein schönes Schiff, hatte viele Säle, Gesellschaftszimmer, Salons. Gerne hätte ich auf ihr eine Kreuzfahrt gemacht, aber so? Ich hatte Glück, meine Kabine war fast neben der von Frau Rodemann, du weißt, deine Goldmarie."

    Das Gesicht Tante Alwines verschwand aus dem Lichtkreis der Leselampe.

    „Auch Pastor Walter war mit seiner Familie auf unserem Deck untergebracht. Er war unser guter Engel in diesen Tagen, ist es auch jetzt in Posen. Allen hat er Mut gemacht mit seiner Art. Als unser Schiff auslief, war die Reling schwarz von Menschen. Unten standen Verwandte, Zurückgebliebene, estnische Freunde. Man winkte, rief, viele weinten. Die meisten waren sich sicher, dass dieser Abschied endgültig war. Dann, als das Schiff die offene See erreicht hatte, als die Türme Revals langsam im Meer versanken, schwiegen alle, alte Männer, Honoratioren wischten sich die Augen, Kinder, junge Leute weinten. Stell dir vor, sogar Konsul Vegesack weinte, der sonst nie eine Miene verzieht. Das war der schwerste Augenblick für mich, als die Olaikirche im Meer versank."

    Die Tante schwieg. Ihr Gesicht konnte ich noch immer nicht sehen. Laut tickte die alte Standuhr, das Werk schnarrte, dann schlug es acht Mal. Draußen kreischte entfernt eine Straßenbahn. Die Tante nestelte an ihrem Pompadour, um sich zu schnäuzen. Dann erschien ihr Gesicht im Licht. Sie lächelte verkrampft.

    „Entschuldige, Christoph. Es tut noch so weh. Es ist nicht nur der eigene Schmerz. Aber es ist kaum vorstellbar, wie ein Gemeinwesen, das Jahrhunderte bestanden hat, sich innerhalb weniger Wochen auflösen kann. Hätte mir jemand dies im Sommer erzählt, ich hätte ihn ausgelacht." – „Gut, du sollst den Rest auch noch erfahren: Zwei Tage später kamen wir in Stettin an. Die Stadt ertrank im Fahnenmeer.

    Überall Parolen: Willkommen im Reich! Großdeutschland grüßt seine Baltendeutschen! Marschmusik, Uniformen, HJ, jubelnde Menschen. Was erwarteten sie von uns? Und alle waren so laut. Dennoch, es war schon beeindruckend."

    Die Tante schämte sich fast.

    „Am nächsten Tag konnten wir von Bord. Wir waren auf verschiedene Sonderzüge, die uns nach Westpreußen bringen sollten, aufgeteilt worden. Die Straßenbahn hielt direkt am Hafen, so konnten wir mit den Sonderwagen bis zum Bahnhof fahren. Man kümmerte sich schon sehr um uns. Die HJ half beim Verstauen der Packen, es gab wieder Kaffee. Auch Pastor Walter war wieder überall. – Ach, was soll ich noch erzählen? Mit dem Zug ging es erst nach Pyritz, dann nach Brietzig. Überall blieben wir nur einige Tage. Ich kam kaum zur Besinnung. Vielleicht war dies auch besser so. In Brietzig lernte ich Familie Meyendorf kennen. Sie sind sehr nette Leute. Elli hast du ja schon kennen gelernt. Viele von uns waren bei den Bauern in den benachbarten Dörfern einquartiert. Wir wussten bereits, dass wir in die Gegend von Posen kommen sollten. In Brietzig hielt Pastor Walter seinen ersten Gottesdienst in der Fremde. Es war schon seltsam, vor zwei Wochen hatte er noch in der riesigen Olaikirche zu uns gepredigt. Nun saßen wir dicht gedrängt in einer kleinen Kirche in Pommern. Posen war überfüllt, so mussten wir Monate warten.

    Ja, und nun bin ich hier."

    Die kleine Gestalt der Tante straffte sich plötzlich.

    „Und Christoph, das ist Unrecht! Wir haben hier nichts zu suchen. Diese Wohnung, " sie hob ihre Hände, „war leer. Kannst du dir vorstellen, dass in Wilkmanns zugewiesener Wohnung das Mittagessen der Vorbesitzer in der Küche auf dem Tisch dampfte?

    Sie haben die Polen einfach vor die Tür gesetzt. Und das fast überall.

    Man hat ihnen die Wohnungen genommen. Sie hatten nicht einmal die Zeit, die wichtigsten Sachen mitzunehmen. Aus Geschäften, Hotels hat man sie getrieben und sie den deutschen Umsiedlern gegeben. Herr Meyendorf ist Hotelier. Man wollte ihm ein Restaurant geben, das noch ein Pole führte.

    Er weigerte sich, den Polen zu vertreiben, fand schließlich ein verlassenes Hotel, das er nun leitet. Aber viele Reichsdeutsche führen sich wie Herren auf. Leider denken auch von uns etliche, dass den Polen Recht geschieht."

    Tante Alwines Stimme wurde eindringlich.

    „Das stimmt nicht, Christoph. Wir sind im Unrecht. Die Deutschen haben hier nichts zu suchen. Dies ist polnisches Land. Vergiss das nie! Denke immer daran, wir sind keine Herrenrasse. Auch wenn sich viele so aufführen. Das alles wird auf uns zurückkommen. Ich werde es wohl nicht mehr erleben. Aber du."

    Wieder verschwand ihr Gesicht aus dem Licht der Leselampe. Unser Schweigen lastete im Raum. Ich wollte es brechen, fand nicht die Worte, denn zu stark stand ich unter dem Eindruck der Erzählung. Die Tante hatte zum Schluss wie eine Seherin geklungen.

    Ein Klopfen an der Tür erlöste uns. Elli steckte ihren Kopf in die Tür und fragte, ob wir mit zu Abend essen wollten. Wir waren wohl beide froh, die Stimmung des Zimmers durchbrechen zu können.

    Der Abend verlief noch sehr angenehm. Herr und Frau Meyendorf nahmen mich herzlich auf. Ich brauchte mich nicht lange vorzustellen. Die Tante hatte schon früher von mir erzählt, ihre Tochter hatte von meinem Besuch berichtet. So war man nicht erstaunt, als ich in meiner Uniform auftrat.

    Wir sprachen über Estland, von Rostock, über die Lage der Polen, den Krieg. Die Eltern Ellis machten keinen Hehl aus ihrem Misstrauen gegenüber den Nazis. Es war schon eine ganze Zeit her, dass ich so sprechen konnte. Da mein Oberstabsarzt mir bis zum Dienstbeginn frei gegeben hatte und es spät war, schlug mir die Tante vor, in ihrem Salon zu übernachten. Lange lag ich wach. Ich verstand mich selbst nicht. Da waren in den letzten Monaten tausende von Menschen gestorben, hatten ihr Heim verloren, Angehörige und Freunde. Ich hatte das zwar alles wahr genommen, es hatte auch mich getroffen. Der Kummer meiner Tante, die ihr Leben, ihr Essen, ihre Kleidung, sogar ihre Möbel besaß, der Kummer dieser alten Frau über den Verlust ihrer Heimat traf mich, als ob ich selbst mein Heimatland verloren hatte. Warum?

    Ich weiß nicht mehr, zu welcher Lösung ich kam, ob ich überhaupt eine Lösung für mich fand.

    Vielleicht war mir an diesem Abend auch bewusst geworden, dass Anu nun durch die Preisgabe ihres Landes völlig wehrlos geworden war.

    Schließlich stand ich auf und entzündete eine Petroleumlampe, der Strom war schon seit Stunden gesperrt. Auf dem Tisch lagen die Sachen, die Anu mir gesandt hatte. Ich hatte das Bündel schon lange ausgepackt. Noch einmal griff ich zu dem Buch.

    Es war Tammsaares letzter Roman. Wieder hatte Anu mir eine Widmung hineingeschrieben. Ich blätterte die Seiten, zum Lesen war es zu dunkel und dachte an mein Mädchen.

    Dann griff ich nach dem kleinen Leinenbeutel. Weich gab sein Inhalt nach. Als ich ihn an meinen Mund drückte, entströmte dem Leinen ein intensiver Duft nach Salz und Tang. Anu hatte eine Handvoll Sand unseres Strandes in den Beutel genäht. In diesen Minuten war sie bei mir.

    Dieser Leinenbeutel begleitete mich bis in den Sommer 1945. Als die Russen Anu und mich vom Saunaboden holten, blieb er in meinem Rucksack.

    Ich blickte auf, sah im unruhigen Licht der Petroleumlampe die Revaler Möbel meiner Tante. Ich war heimgekehrt in dieser Nacht. Morgen würde ich zum Hafen gehen und mich beim Kapitän des Postschiffes melden, um nach Kärdla zu kommen. Vielleicht würde auch Arno mit seiner „Koidula" an dem Peer festmachen. Dann würde ich Anu in den Armen halten. Dieses Zimmer mit seinen alten Möbeln schien zeitlos ohne Ort inmitten der Zeit dahinzuschweben. Ich wachte auf. Wieder lag ich auf dem Rücken, starrte mit nachtblinden Augen in das Schwarze über mir. Das gleichmäßige Ticken der Uhr schläferte mich nicht ein, sondern reizte meine Nerven. Der Stundenschlag des alten Werks zerhackte die Nacht, während ich meinen Schlaf suchte. Das letzte, was ich hörte, war das Schlagen der Stiefeleisen einer deutschen Patrouille auf dem nächtlichen Pflaster.

    Gott, die Bilder von damals sind wieder so lebendig!!! Anu, du fehlst mir so.

    IV

    DONNERSTAG, 20. JULI 2006, MOKA KüLA, HIIUMAA

    „Irja, ich war in diesen Tagen von der Zeit losgelöst. Kein Datum, keine Uhr, nur das Licht, das anging oder verlosch, die Posten die sich abwechselten, der Hofgang. Eines Abends, es war schon verdunkelt worden, ich lag auf meiner Pritsche und suchte vergeblich nach Schlaf, hörte ich Schritte auf dem Gang. Sofort war die Angst da, als sie vor meiner Zelle verstummten. Das Schlagen des Metallriegels an meiner Zellentür, schon stand ich neben meiner Pritsche. Vom Licht geblendet, musste ich die Augen schließen

    „Mitkommen!"

    Die Stimme des jungen blonden NKWD-Soldaten, der mir vor einigen Tagen ins Gesicht geschlagen hatte.

    „Den Kittel kannst du nebenbei zuknöpfen!"

    Sein harter Griff zerrte mich auf den Gang. Der lange Kellerflur völlig verwaist, die Reihe Zellentüren.

    „Nun, los! Und Hände auf den Rücken!"

    Er schubste mich, ein Schuh polterte gegen die Wand.

    „Dumme Kuh!"

    Sein Schlag in meinen Nacken ließ mich aufschreien. Warum hasste er mich nur? Dann war die Angst in mir, drückte mir die Kehle zu. Mich sammelnd, wollte ich mich gegen sie wehren. Doch mit jedem Schritt füllte sie mich mehr aus. Der Gang mündete in ein Treppenhaus.

    „Los, da hoch!"

    Die Stimme hinter mir trieb mich an. Nun ein breiter Flur, auf beiden Seiten Bürotüren, ein Geruch, wie ich ihn aus Schulen kannte. Bohner, Schweiß, verbrauchte Luft. Wieder eine Treppe, auf beiden Seiten Fenster. Ich konnte einen flüchtigen Blick hinaus werfen: Eine dunkle Häuserzeile. Es musste schon spät sein.

    „Halt!"

    Er riss eine Tür auf, nannte meinen Namen, schob mich in den Raum. Fast verlor ich wieder einen Schuh. Aktenschränke, ein Stalinbild, davor ein Schreibtisch. Ein Uniformierter in Zigarettenrauch gehüllt, sein Blick auf eine Akte geheftet. Dann schaute er auf.

    Meine Knie werden weich, doch ich kann mich fangen.

    „Danke, Genosse! Sie können vor der Tür warten."

    Der Offizier steht auf, kommt einige Schritte auf mich zu, lächelt. Es ist Indrek Brügman, Tiinas Freund aus Friedenstagen, auch Christophs Freund – mit den roten Kragenspiegeln der NKWD-Leute.

    „Anu, schön dich zu sehen!"

    Meint er das ernst? Er freut sich, mich hier zu sehen? Meinen Blick bemerkend.

    „Natürlich wäre ein anderer Rahmen besser."

    Sein Lächeln fast verlegen. Das ist sein altes Gesicht, wie ich es kenne, dieses Lächeln, wenn er Tiina ansah. Er räuspert sich.

    „Vielleicht bei Tiina auf dem Hof. Zusammen sitzen, etwas trinken. Hast du etwas von ihr gehört?"

    Die Frage fast weich gesprochen. Dann, auf keine Antwort wartend:

    „Aber das ist vorbei. Sie hat unser Land verraten, sich mit einem Deutschen eingelassen."Mich musternd.

    „So wie du! Setz dich, einen Tee?"

    Die Stimme eines beflissenen Kellners. Ich kann nur nicken. Er sitzt vor mir, beugt sich über den Tisch, stellt mir die Tasse Tee hin. Seine Hand zittert leicht. Indreks Haare sind dünn geworden, das Blond wirkt schmutzig. Er lehnt sich zurück, sein Gesicht liegt im Schatten.

    „Ja, Anu. So sieht man sich wieder. Wer hätte das gedacht. Eigentlich solltest du schon längst in Rakvere sein. Dein Vater ist dort Chef des NKWD. Ich habe ihm erzählt, dass du nicht transportfähig bist. Ich glaube, du würdest schon nicht mehr leben, wenn ich dich hätte überführen lassen. Jetzt haben sie ihn versetzt.

    Für dich besser."

    „Ich habe keinen Vater, Indrek. Den du meinst, den gibt es für mich nicht."

    „Ich weiß, Anu. Er hat Karriere gemacht. Jetzt ist er in Moskau, wird dich hoffentlich vergessen."

    „Du hast auch Karriere gemacht, Indrek. Ich hätte nie gedacht, dich in dieser Uniform zu treffen. Wenn das dein Vater wüsste."

    „Anu, hör auf."

    Seine Stimme konzentriert.

    „Die Zeiten ändern sich, Anu. Du weißt, der Omakaitse wollte mich erschießen. Ich habe meine Berufung erkannt. Wie gesagt, die Zeiten ändern sich. Das hättest du auch erkennen müssen. Du und Christoph."

    Als er Christophs Namen nennt, spüre ich eine fürchterliche Angst.

    „Was ist mit ihm? Weißt du etwas?"

    Indreks Gesicht kommt in den Lichtschein der Schreibtischlampe.

    „Ja, ich habe ihn gesehen auf Hiiumaa. Beinahe auch dich, doch sie hatten dich kurz vorher aufs Festland geschafft."

    Meine Angst!

    „Anu, er lebt. Jedenfalls, als ich ihn zuletzt sah."

    Seine Stimme senkt sich.

    „Ich habe ihm zur Flucht verholfen. Er ist in Schweden, Anu. In Sicherheit."

    Sein Gesicht verschwindet im Schatten.

    „Er hat dich allein gelassen. Verraten!"

    Ein Glücksgefühl füllt mich aus. Christoph lebt. Nur das zählt.

    „Indrek, er hat mich nicht verlassen. Das weiß ich. Er lebt. Das ist das Wichtigste für mich. Nur das. Ich werde ihn wiedersehen."

    Sein kurzes Lachen klingt fürchterlich.

    „Ihn wiedersehen, Anu? Weißt du nicht, was mit dir passiert? Wenn du Glück hast, kommst du nach Sibirien. Mit weniger Glück werden sie dich als faschistische Spionin erschießen. Und ich kann dir nicht helfen, Anu."

    Er schweigt, zieht an seiner Papirossi, drückt sie aus. Sein Gesicht noch immer im Halbdunkel. Wartet er auf eine Antwort? Christoph lebt. Ich bin glücklich in dieser Folterhölle. Egal, was kommen wird.

    „Anu, doch – ich wüsste einen Weg."

    Er wartet, doch ich baue ihm keine Brücke.

    „Du weißt, was ich meine?"

    Wieder verschwindet er im Halbdunkel. Ich schweige noch immer.

    „Anu, mach es mir nicht so schwer."

    Er greift nach den Zigaretten. Die Flamme zeigt, wie seine Hand zittert. Ich bin ruhig, fast gelassen. Christoph konnte entkommen.

    „Warum hast du Christoph geholfen?"

    Er schaut auf, stößt den Rauch aus.

    „Eine alte Schuld, Anu. Hat er dir nicht davon erzählt, dass er mich 1944 gerettet hat? Ich bin quitt mit Christoph. Das war mir wichtig. Sollte er wieder in Estland auftauchen, ist er für mich ein Feind – und ich werde ihn jagen. Da kannst du sicher sein."

    Eine Gänsehaut überzieht meinen Rücken.

    „Nun, was ist? Anu, auch auf Hiiumaa gibt es genug Klassenfeinde. Die Bauern erfüllen ihr Abgabesoll nicht, verstecken Getreide und Vieh. Es wird gegen die junge Sowjetmacht gehetzt. Anu, ich brauche Namen. Ich muss wissen, wo sich die Waldbrüder verstecken. Du kannst wieder als Lehrerin arbeiten, kommst an die Dörfler heran. Alle kennen dich. – Was ist?"

    Wut steigt in mir auf, Hass. Ich ekle mich vor Indrek.

    „Du glaubst wirklich, dass ich für euch Spitzeldienste verrichte?"

    „Was heißt Spitzeldienste, Anu? Du sollst dich auf die richtige Seite stellen. Entscheide dich für die Sowjetmacht. Wir haben die Zukunft. Nun?"

    Ich will hier nur raus, weg. Ich kenne Indrek nicht mehr. Egal, was mir geschieht, raus!

    „Ich liefere keine Freunde und Bekannte ans Messer. Das kann Keres tun."

    Er schaut erstaunt.

    „Keres, du kennst Keres, unseren Schachgroßmeister? Wie kommst du darauf, dass er spitzelt?"

    „Ich meine nicht den Schachgroßmeister, sondern den verlogenen Lehrer, oder wer weiß, was er jetzt bei euch ist."

    Indrek winkt ab.

    „Den meinst du, hör auf mit Keres. Er wird jedem dienen, der an der Macht ist und ihm Macht gibt. Mit dir ist das anders, Anu. Du wirst sehen, dass ich recht habe, der Kommunismus ist die Zukunft der Menschheit. Du wirst es begreifen."

    „Indrek, du redest wie Stalin. Nein, ich will nicht. Lass mich gehen."

    Meine Hände zittern, ich verberge sie vor Indrek. Er soll nicht meine Schwäche sehen. Indrek! Er gehörte zu uns.

    Seine Stimme eindringlich.

    „Anu, du kannst dir nicht vorstellen, was dich im

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