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Zweimaltot
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Zweimaltot

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Erst als die Stahltür hinter ihr zuschlägt, erwacht Tina Benz aus ihrer Trance. Sie weiß nicht, wie sie in Untersuchungshaft gekommen ist, und dass Frank Stern "überlebt" habe, wie man ihr versichert, macht die Sache nicht besser. "Überlebt" interpretiert Tina als "noch nicht ganz tot".
Stern ist ein renommierter Neurowissenschaftler, der soge-nannte Brain-Machine-Interfaces entwickelt, elektronische Geräte, die an das Nervensystem des Menschen gekoppelt sind. Tina hat Frank bewusstlos vor dem Institut gefunden – von den Tätern keine Spur. Immerhin zeigt die Auswertung
von Franks Mobiltelefon, dass er vor dem "Unfall" Hunderte von Anrufen unbekannter Herkunft empfangen hat. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, und Tina verstrickt sich in Ungereimtheiten.
LanguageDeutsch
Release dateMar 6, 2019
ISBN9783724523581
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    Zweimaltot - Beat Glogger

    Dank

    1

    DAS BUCH TINA

    1

    Das dumpfe Krachen hallt lange nach. Draußen auf dem Flur – und drinnen in meinem Kopf. Ich starre auf die Tür aus grauem Stahl und höre das Surren der Schließanlage.

    Zeit vergeht. Ich tue nichts, denke nichts. Schließlich nehme ich Maß, mache einen Schritt auf die Tür zu – und trete mit aller Kraft dagegen. »Lasst mich raus!« Nochmal, volle Wucht. »Scheißkerle!«

    Stille.

    Ich mustere das Grau der Tür. Der Abdruck der groben Profilsohle meines Springerstiefels ist deutlich zu sehen. Darunter und daneben weitere Abdrücke verzweifelter Tritte. Grobe, feine, deutliche, verwischte. In der Scheibe des Guckfensters spiegelt sich mein Gesicht. Das Haar ist zerzaust, die Schminke verschmiert. Ich wende mich ab.

    Da ist ein Stuhl, ein Tisch, beide am Boden festgeschraubt. Ein Bett aus Beton gegossen, in der Ecke eine Toilette ohne Deckel. Wie lange wollen die mich hier festhalten? Hat es mir jemand gesagt? Vielleicht der Beamte, der irgendeinen Gesetzesartikel zitierend »Tina Benz, wohnhaft in Zürich« in Untersuchungshaft gesetzt hat?

    »Ich will sofort meinen Anwalt sprechen«, habe ich protestiert – als hätte ich einen Anwalt.

    »So läuft das nur im Krimi«, sagte der Mann, während er den schmalen Aktenordner schloss.

    Jetzt Stille um mich herum. Wenn ich mein Gehör anstrenge, ist irgendwo weit weg ein Hämmern wahrzunehmen. Ein Klopfen. Meine Knie beginnen zu zittern. Was ist passiert? Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht erinnern. Und das beunruhigt mich fast noch mehr als die Tatsache, dass ich in einer Zelle sitze.

    Die Ereignisse sind an mir vorbeigezogen wie ein zu schnell laufender Film mit Kratzern und Rissen. Ich bringe die Szenen nicht zusammen – zu nichts, das Sinn ergibt. Ich treibe mitten in einem Strudel und habe doch das Gefühl, es hätte alles nichts mit mir zu tun.

    Jetzt zittert auch meine Unterlippe. Ich beiße fest darauf. Sie zittert weiter. Ich kenne das. So kündigt es sich immer an, bevor es aus mir herausbricht. Jetzt nur keine Panik! Durchatmen. Das Zittern hält an.

    Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Erst jetzt sehe ich das Buch, das auf dem Tisch liegt. Ich nehme es in die Hand. Eine Bibel. »Was zum Teufel …« Ich schmettere das Buch an die Wand. Wollen die mich hier etwa bekehren? Ein Gesetzesbuch würde mir mehr nützen. Eine Strafprozessordnung oder wie auch immer das Ding heißt. Damit hätte ich wenigstens herausfinden können, wie ich hier wieder rauskomme. Ich trete mit dem Fuß gegen die zerfledderte Bibel, sodass sie quer durch den Raum schliddert, bis zur Toilette ohne Deckel. Dann werfe ich mich auf das Bett. Es ist schmal und hart. Mein ganzer Körper zittert jetzt. »Lasst mich raus!« Tränen schießen mir in die Augen. »Frank!«

    Mein Körper krümmt sich, ich winde mich vor Schmerz. Die Tränen laufen mir über das Gesicht. Ein Wimmern und Winseln dringt aus meinem Mund. Dann sehe ich plötzlich seine Augen. Diese Augen, die weit aufgerissen ins Leere stieren, als wäre er tot. Ich sehe ihn, wie er da liegt auf dem Kopfsteinpflaster. Ich sehe mich, wie ich ihn anschreie: »Frank!« Wie ich seinen Puls suche, mein Ohr vor seinen offenstehenden Mund halte, um den Atem zu spüren. Und wieder diese Augen, die mich nicht ansehen, sondern durch mich hindurch.

    »Frau Benz?«

    Ich fahre zusammen. Es ist nicht Franks Stimme, sondern die einer Frau. »Frau Benz, sind Sie okay?«

    Ich habe die Frau nicht kommen hören und auch nicht gesehen. Sie beugt sich über mich. Sie ist jung, blond, mit Pferdeschwanz. Ihre Hand liegt auf meiner linken Schulter. An ihrem Gürtel hängt ein Paar Handschellen.

    »Was ist mit Frank?«, frage ich, während ich mir die Augen trockenwische.

    »Ich weiß es nicht«, sagt die Polizistin überraschend freundlich. »Ich bringe Sie jetzt zum Untersuchungsrichter, der hat ein paar Fragen.«

    Ich rappele mich auf. Sie fasst mich am Ellbogen – nicht hart, aber bestimmt – und schiebt mich in Richtung Tür. Auf dem Korridor stolpere ich, doch die Polizistin fängt mich auf, bevor ich falle. Ich sehe auf meine Stiefel. »Wo sind meine Schnürsenkel?«

    »Eine Vorsichtsmaßnahme«, sagt die Polizistin und blickt mich ernst an. »Sie waren wirklich sehr, sehr aufgebracht.«

    »Wie viel Uhr ist es?«, frage ich.

    »Fünf«, sagt die Polizistin.

    Ich versuche zu rekonstruieren: Das mit Frank war in der Nacht. Wann sie mich hierhergebracht haben, kann ich nicht sagen.

    »Fünf?«, frage ich.

    »Nachmittags«, sagt sie und räuspert sich. »Sie sind bereits den zweiten Tag hier.«

    Ich starre sie an. »Das heißt, ich habe … wie lange geschlafen?«

    »Sie waren zwischendurch schon mal wach«, sagt die Polizistin. »Wir haben Ihnen etwas gegeben, damit Sie sich entspannen.« Sie schiebt mich weiter. »Etwas gegeben«, höre ich mein Echo. Die haben mich außer Gefecht gesetzt. Das bedeutet, ich bin schon einen Tag, eine Nacht und noch mal fast einen Tag hier. Und weiß noch nicht mal, warum.

    »Was ist mit Frank?«, frage ich den Mann, in dessen Büro die Polizistin mich führt.

    »Landis«, sagt der Mann. »Untersuchungsrichter.«

    Ein bleicher Mittfünfziger in einem schmucklosen Raum. Ein riesiger Schreibtisch, davor zwei Stühle.

    »Setzen Sie sich«, sagt er und wartet, bis ich seiner Aufforderung Folge leiste. Dann sagt er: »Professor Stern hat … überlebt.«

    »Überlebt.« Ich entspanne mich. Begreife aber gleichzeitig, dass das nicht die Antwort auf meine Frage war. »Wie geht es ihm?«

    Der Untersuchungsrichter rückt einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch zurecht. »Er befindet sich auf der Intensivstation des Universitätsspitals«, sagt er. »Frau Benz, was haben Sie vorgestern gemacht?«

    »Bitte«, sage ich. »Wie geht es ihm?« Landis richtet den Papierstapel exakt an der Tischkante aus. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

    Das Zittern kommt wieder. In den Händen, in der Lippe.

    »Meine Aufgabe ist, den Tathergang zu rekonstruieren. Beziehungsweise Zeugen und Verdächtige zu vernehmen.«

    »Verdächtige«, höre ich meine raue Stimme wieder wie ein Echo. »Ich bin …«

    »Das werden wir sehen.« Landis mustert mich von oben bis unten. »Immerhin haben wir Sie am Tatort aufgegriffen.«

    »Ich habe Frank gefunden!«

    »Sie haben getobt wie eine Wahnsinnige«, sagt Landis. »Und einen Polizeibeamten tätlich angegriffen.«

    Ich kann mich nicht erinnern.

    Der Untersuchungsrichter beugt sich vor. »Frau Benz, warum waren Sie am Tatort?«

    Ich schlucke. »Ich wollte zur Arbeit.«

    »Mitten in der Nacht?«

    »Frank – Professor Stern hat mich darum gebeten.«

    »Ich wiederhole: Mitten in der Nacht?«

    »Wir waren … wir sind extrem unter Druck.«

    Der Untersuchungsrichter wartet. »Druck?«

    »Eine Publikation in Science steht an, und eine Medienkonferenz, wo wir unsere bahnbrechenden Resultate der Öffentlichkeit präsentieren wollen.«

    »Woran forschen Sie?«

    »Am Brain-Machine-Interface.«

    Seinem Blick entnehme ich, dass er damit nichts anfangen kann.

    »Es geht um die Anbindung von Elektronik an das Gehirn und das Nervensystem des Menschen«, erläutere ich.

    »Wozu das?«

    »Wir entwickeln neurokognitive Prothesen.«

    Der Untersuchungsrichter hebt fragend eine Augenbraue.

    »Das sind Prothesen, die der Patient allein mit den Gedanken steuern kann und mit denen er auch fühlen kann.«

    »Okay«, sagt er. »Ich werde mich darüber informieren.« Er rückt den Papierstapel wieder fünf Zentimeter von der Tischkante weg. »Also nochmal: Warum waren Sie am Tatort? Was haben Sie dort gemacht? Was haben Sie den ganzen Tag zuvor gemacht? Möglichst detailliert, bitte.«

    Ich versuche, mich zu erinnern. Was hat mein Gedächtnis derart durcheinandergebracht? Ich hole tief Luft. »Bis Mittag habe ich geschlafen.« In dem Moment fällt mir ein, dass ich den Postboten unten auf der Straße gesehen habe. Der kommt immer etwa um elf. »Nein, bis etwa elf Uhr«, korrigiere ich.

    »Schlafen Sie immer so lange?«, fragt Landis und kramt in den Papieren vor sich. »Sie arbeiten doch an der Uni. Wissenschaftliche Mitarbeiterin – steht hier jedenfalls.«

    Haben die etwa bereits Erkundigungen über mich eingeholt? Und ich weiß noch nicht mal, warum sie mich hier festhalten. Ich unterdrücke den Reflex, den Mann anzufauchen, atme zweimal durch und sage dann möglichst ruhig: »Wir hatten bis morgens um zwei gearbeitet. Achtzehn Stunden am Stück!«

    »Wer ist wir?«, fragt er. »Professor Stern und Sie?«

    »Ja.«

    »Wer sonst war noch dabei?«

    »Niemand.«

    Er nickt langsam. »Und dann haben Sie also den ganzen Morgen geschlafen. Was geschah dann?«

    Ich war mies drauf, hatte schlecht geschlafen. Die Temperatur war in der Nacht nicht unter fünfundzwanzig Grad gesunken und in meiner Dachwohnung half alles Lüften nichts. Als ich erwachte, war es kaum mehr auszuhalten. Ich duschte, trank Kaffee, duschte noch einmal. Ich hatte mich noch nicht abgetrocknet, da klingelte das Telefon. Frank. Er wollte wissen, wo ich bliebe, wir seien doch verabredet.

    »Ich bin völlig fertig«, sagte ich.

    »Ich auch«, knurrte er. »Aber es gibt noch viel zu tun.«

    »Ich kann nicht.«

    »Was heißt das? Wir haben Termine.«

    »Ich muss zuerst noch etwas erledigen«, sagte ich. Und schob dann nach: »Außerdem brauche ich noch einen Moment, nach dem, was gestern vorgefallen ist.« Bevor ich den Satz beenden konnte, hatte Frank schon aufgelegt.

    »Sie hatten sich in besagter Arbeitsnacht gestritten«, unterbricht Untersuchungsrichter Landis, wobei er die Betonung bewusst auf Arbeit legt.

    »Nicht gestritten …«, begehre ich auf.

    »Das erzählt uns aber eine Nachbarin aus Ihrem Haus. Die Frau arbeitet in einer Bäckerei und muss jeweils früh raus. Sie sei Ihnen morgens um halb drei im Treppenaus begegnet, sagt die Frau. Und sie hat Sie als sehr aufgebracht wahrgenommen. Geradezu wütend seien Sie gewesen. Worum ging es in diesem Streit mit Herrn Professor Stern?«

    Ich bin verblüfft. Tatsächlich haben die Bullen bereits Nachforschungen angestellt, haben Leute befragt. Tut man das, um eine Zeugin zu überprüfen? Mir wird klar, als was ich hier sitze: Die verdächtigen mich. Ich versuche, das Zittern in meiner Lippe zu ignorieren, dann sage ich: »Nichts Besonderes. Eine Meinungsverschiedenheit. Es ging um die Publikation, die wir gerade vorbereiten. Aber das ist normal in der Wissenschaft. Auseinandersetzungen gehören zur Meinungsfindung.«

    Landis lässt sich Zeit. »Wenn das also ganz normal ist, wie Sie sagen, warum hat es Sie dann derart mitgenommen, sodass Sie am nächsten Tag nicht mehr ins Institut wollten?«

    »Ich wollte ja hin. Bloß etwas später. Ich brauchte noch einen Moment für mich allein.«

    Landis nimmt ein Papier vom Stapel. »Auszug aus dem Polizeiprotokoll«, beginnt er dann in gestelztem Ton zu lesen. »Beschwerde wegen Lärmbelästigung, Dienerstraße 23. Nachbarn beschweren sich über eine Frau, die auf dem Balkon eines gegenüberliegenden Hauses den ganzen Nachmittag in übermäßiger Lautstärke Musik hört – Klammer, Death Metal, Klammer geschlossen – und weder auf Zurufe noch Klingeln an der Haustür reagiert. Die Frau liegt nackt in einer Hängematte und hat unter sich eine große Lautsprecherbox aufgestellt. Eine Streife wird um 20:30 Uhr angewiesen, nach dem Rechten zu sehen. Dringlichkeitsstufe niedrig. Als die Streife um 21:04 Uhr vor Ort eintrifft, ist die Musik nicht mehr zu hören. Die Wohnungstür ist nicht abgeschlossen. Die Beamten öffnen, fordern allfällige Anwesende durch Rufen zum Herauskommen auf. Nachdem niemand reagiert, unterziehen die Beamten die Wohnung einer Inspektion. Es sind keine Personen anwesend. Da auch die Lärmbelästigung aufgehört hat, entfernen sich die Beamten wieder.«

    Während Landis liest, erinnere ich mich: Ich lag in der Hängematte, irgendwann gab mein Handy den Klingelton von sich, den ich Frank zugewiesen hatte. Dass ich das hörte, war reiner Zufall, weil gerade eine Pause zwischen zwei Musikstücken war.

    »Jaaa«, sagte ich so gedehnt, dass jedem halbwegs anständigen Anrufer sofort klar sein musste, dass er störte.

    »Wo bist du?«, fragte Frank.

    Ich konnte es nicht lassen und gähnte laut. »Zu Hause.«

    »Tina, wir müssen uns noch mal reinhängen.«

    Ich schaukelte ein paarmal hin und her. »Momentan hänge ich ganz gut.« Ich hörte an Franks Pause, dass er sich bereits aufzuregen begann. Aber ich wollte es ihm nicht leicht machen.

    »Tina, übermorgen ist Abgabe für das Manuskript. Ich brauche dich dringend, um die letzten zwei Grafiken zu diskutieren.«

    »Lass uns zuerst die andere Frage klären«, tat ich unbeeindruckt. »Wolltest du mir eben mitteilen, ich hänge mich zu wenig rein, ich arbeite zu wenig?«

    »Nein, wollte ich nicht.« Frank war genervt. »Lass uns jetzt einfach mal das von gestern Abend vergessen, ja? Konzentrieren wir uns auf das, was wir jetzt zu tun haben.« Er schwieg einen Moment. »Ich brauche dich. Bitte.«

    Bitte, hatte er gesagt. Ich blinzelte durch die Gitterstäbe des Balkongeländers. Der tief hängenden Sonne nach zu urteilen, war es wohl etwa halb neun Uhr. Mein gefühltes Thermometer lag immer noch bei mindestens 25 Grad Celsius. Doch Frank hatte bitte gesagt. Also erbarmte ich mich. »Gleich geht die Sonne unter«, sagte ich. »In einer Stunde bin ich im Institut.«

    »Okay«, sagte er. Die Erleichterung war ihm anzuhören. »Dann gehe ich kurz eine Pizza essen und bin wieder zurück, bis du kommst. Danke.«

    Wie immer nahm ich das Fahrrad. Die Rosengartenstraße hinauf. Die ist zum Radfahren eigentlich ein Horror: zu steil und zu viel Verkehr. Seit Jahrzehnten warten die Leute hier auf die Verkehrsentlastung, die man ihnen mit dem Bau des Autobahnrings um die Stadt herum versprochen hat. Seit ich mich erinnern kann, tobt um diese Straße ein politischer Kampf. Meine erste Demonstration war hier – eine Velodemo. Ein paar hundert Leute ließen wir uns vom Bucheggplatz hinunterrollen: so langsam und über alle Fahrspuren verteilt, dass sich der ganze Verkehr staute. Und weil dies eine der Hauptverkehrsadern durch die Stadt ist, breitete sich das Ganze im Handumdrehen zu einem Verkehrschaos in der ganzen Stadt aus. Gebracht hat die Aktion nichts, aber mich hat sie politisiert. Ich war vierzehn. Ich war für Gerechtigkeit. Nach diesem ersten politischen Erlebnis habe ich öfters an Kundgebungen teilgenommen: für Umweltschutz, gegen Folter, für Gleichberechtigung, gegen Diskriminierung. Ich war sehr engagiert. Bis dann das mit meiner Mutter passierte und ich für fast nichts mehr Zeit fand.

    »Danke«, hatte Frank gesagt. Bitte und danke. Ich musste lächeln. Jetzt freute ich mich, ihn gleich wiederzusehen. Ich war sicher: Wenn ich oben ankam, würden wir uns wieder vertragen. Wir hatten uns noch jedes Mal zusammengerauft.

    2

    Wieder zurück in der Zelle bleibe ich mit dem Rücken zur Tür stehen. Was die Polizistin sagt, ignoriere ich. Die Schließanlage schnarrt, danach bin ich wieder allein mit Stuhl, Tisch, Bett aus Beton.

    Die zerschlissene Bibel hat man während meines Verhörs weggeräumt – und eine neue auf den Tisch gelegt. Ich verstehe die Botschaft: »Schmeiß du die Bibel an die Wand, so oft du willst. Wir werden sie immer wieder ersetzen.« Darum geht es hier: mich zu zermürben, mich weichzukochen, bis ich alles zugebe. Zu dieser Taktik gehören auch die Kleider, in die sie mich gesteckt haben: derbe graue Hose, graues Sweatshirt, ohne Individualität, ohne Identität. Sie wollen, dass ich mich aufgebe, mich ihnen übergebe und ihnen alles erzähle. Doch Druck hat mich bisher immer nur stärker gemacht. Und erzählt habe ich ihnen schon alles: Frank muss einen Herzinfarkt erlitten haben. Oder einen Hirnschlag. Eher einen Hirnschlag, denn schon sein Vater hatte mehrere Schlaganfälle und ist schließlich an einem gestorben. Genauso sein Bruder. Der wurde keine vierzig. Frank hatte immer Angst davor.

    Bis ich das Universitätsgelände erreichte, war es dunkel, aber nicht kühler. Die Kleider klebten mir schweißnass am Leib. Ich radelte quer über den Campus bis zu dem Gebäude, in dem die Hirnforschung untergebracht ist. Ein schlichter Zweckbau aus Beton, Stahl und Glas. In einigen Büros brannte noch Licht und aus einem offenstehenden Fenster tönte Salsamusik. Die beiden Stockwerke der Hirnforschung jedoch waren dunkel.

    Seltsam, dachte ich. Frank wollte doch wieder in seinem Büro sein, bis ich eintraf. Dass er länger in der Pizzeria geblieben war, schloss ich aus – es hätte nicht zu ihm gepasst. Er aß immer schnell, war immer schnell wieder zurück bei der Arbeit. Wahrscheinlich ist er noch einmal zu den Affen hinuntergegangen, überlegte ich, obwohl das natürlich Unsinn war, denn wir wollten ja die grafischen Darstellungen für den Artikel diskutieren. Die Tierexperimente waren abgeschlossen.

    Ich hatte das Fahrrad noch nicht abgestellt, da sah ich im fahlen Licht das Bündel vor der Eingangstür liegen. Ein Bündel, wie ich schon einmal eines am Boden gesehen hatte. Ich warf das Fahrrad hin und lief zu der regungslosen Gestalt auf dem Kopfsteinpflaster. Damals war es Kiesboden. Damals sie, jetzt er.

    »Frank!«, rief ich. Ich klatschte ihm meine Hände auf die Wangen. »Frank, sag was!« Ich packte sein Handgelenk, meine bebenden Finger fühlten keinen Puls. »Hilfe!«, schrie ich. Ich suchte den Puls am anderen Handgelenk, suchte ihn am Hals. »Bitte, Frank!« schrie ich in die Nacht hinaus.

    »Was ist los?«, rief jemand oben aus einem Fenster.

    Ich riss Franks Hemd auf, tastete nach dem Herzschlag. Presste links auf die Rippen, drückte rechts. Dann wuchtete ich mein ganzes Gewicht auf seinen Brustkasten, hockte mich auf ihn, wippte auf und ab, bis ich keuchte. Wie lange ich das tat, weiß ich nicht mehr.

    Auf einmal zuckte die Umgebung in blauem Licht, schrillte eine Sirene. Ein Rettungssanitäter schob mich zur Seite. »Wie lange war er ohne Sauerstoff?«, fragte er. Ein weiterer Sanitäter setzte Frank eine Atemmaske auf, ein anderer schlug eine Kühldecke um seinen Körper. »Kühlung reduziert die Gefahr eines Hirnschadens«, sagte er, ohne dass ich danach gefragt hatte. Eine Infusion wurde gesteckt, dann fuhren sie davon.

    Ich blickte den Lichtern nach. Dann wurde es schwarz in meinem Kopf.

    »Es gibt Neuigkeiten«, sagt Untersuchungsrichter Landis bei der nächsten Vernehmung zur Begrüßung. »Die Ärzte haben Professor Stern noch einmal eingehend untersucht. Wir wissen nun genauer, was sich in jener Nacht zugetragen hat.« Er beobachtet meine Reaktion. »Ein Herzinfarkt war es nicht. Und dass Herr Stern einen Hirnschlag erlitten hat, kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Es fehlen die typischen Verletzungen. In der Regel stürzen die betroffenen Personen zu Boden, ziehen sich dabei Schürfungen zu, Prellungen, Blutergüsse. Dergleichen gibt es bei Professor Stern nicht. Dafür ist sein Brustkorb massiv geschädigt.«

    »Das kommt von der Herzmassage«, werfe ich ein, als hätte ich mich zu verteidigen.

    »Kann sein«, sagt Landis. »Aber es sind nicht nur Rippen in der Gegend des Herzens gebrochen, sondern auch auf der rechten Seite. Und besonders seltsam: auch seitlich am Körper. Außerdem ist der Kehlkopf eingedrückt.« Er mustert mich mit dem lauernden Blick eines Jägers, bevor er sagt: »Professor Stern wurde stranguliert. Dabei muss sein Gehirn für längere Zeit ohne Sauerstoff gewesen sein. Heute Morgen ist er ins Koma gefallen.«

    Lautlos öffnet und schließt sich mein Mund, als ob er eine Antwort formulieren wolle, die es gar nicht gibt. Koma, denkt irgendein noch nicht betäubter Teil meines Gehirns. Dann höre ich durch den Nebel in meinem Kopf, wie Landis etwas von Spurensicherung sagt, von Fasern, die an den Kleidern des Professors gefunden wurden, dass es eine ganze Anzahl verschiedener Fasern sei – wie immer bei Personen, die mit vielen Leuten Kontakt hatten –, dass es aber von einer bestimmten Faser eine beträchtliche Menge gäbe, und dass diese Fasern zu dem – wie er meinte »doch eher aussergewöhnlichen« – Kleid passen, das ich in besagter Nacht getragen habe.

    Irgendwie schaffe ich es, Landis zu erklären, dass die Fasern bei meinen Wiederbelebungsversuchen auf Franks Kleider gelangt sein müssen, dass ich ihn wahrscheinlich auch aufgerichtet habe, ihn dabei umarmt habe, auch wenn ich wisse, dass man einen Bewusstlosen so nicht anfasst, dass ich aber in schierer Panik gewesen sei und so möglicherweise die Kontrolle über mich selbst – zumindest zeitweise – verloren hätte.

    »Ihr Kleid«, sagt Landis, »wenn ich mir diese persönliche Bemerkung erlauben darf, gehört eher … zu der ausgefallenen Sorte.«

    Schlagartig erwache ich aus der Trance, in der ich mich seit der Nachricht von Franks Koma befand. Jetzt beginnt das wieder! Immer wieder kommt es. Ich fixiere Landis, diesen zu klein geratenen, mit früher Glatzenbildung gestraften, sich selbst aber unendlich toll findenden Wicht. »Was tut mein Kleidungsstil hier zur Sache?«, frage ich scharf. »Machen mich meine Klamotten zur Verdächtigen?«

    Mein Stil ist meine Sache. Und er war schon immer speziell. Einmal hat mich die Kindergärtnerin wegen meines »unmöglichen Aufzugs« nach Hause geschickt. Tags darauf kam meine Mutter in den Kindergarten und machte der Frau klar, dass »Tina anzieht, was ihr gefällt«. Das war eine der wenigen mutigen Aktionen, die mir von meiner Mutter in Erinnerung geblieben sind. Wenn nicht die einzige. Doch das sage ich Landis nicht.

    Am Abend, an dem das mit Frank geschah, trug ich trotz der Hitze meine blauen Springerstiefel, dazu das Ballettröckchen aus schwarzem Tüll und das schwarze Mieder. Klar etwas besonderes. Die Klamotten gefallen Frank. Ich hatte sie gewählt, um ihm eine Freude zu bereiten, weil ich mich schlecht fühlte wegen der Sache vom Vorabend und weil ich nicht sofort ins Institut gefahren war, als er mich darum gebeten hatte. Das war natürlich Provokation gewesen, klar. Wäre vielleicht nicht nötig gewesen, auch klar. Aber es ist halt einfach geschehen

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