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Oscuridad: Absturz ins Ungewisse
Oscuridad: Absturz ins Ungewisse
Oscuridad: Absturz ins Ungewisse
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Oscuridad: Absturz ins Ungewisse

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About this ebook

Bösartige Aliens, uralte Geheimnisse und ein unglaubliches Abenteuer!

Ecuador 2054: Kaum, dass der impulsive US-Kampfpilot Jason Blackthorne seine Kollision mit der geheimnisvollen Naomi überlebt hat, gerät er vom Regen in die Traufe: Gefangen in der Oscuridad, einer durch Umweltverschmutzung unbewohnbar gewordenen Zone westlich des Amazonas, werden er und seine nicht ganz menschliche Begleiterin Opfer völlig unbegreiflicher, den Naturgesetzen trotzender Phänomene. Während ihnen sowohl Aliens als auch der gefährlichste Mann der Welt nach dem Leben trachten, verstrickt sich Jason immer tiefer in die Verschwörung, die er bisher nur für ein Hirngespinst seines entfremdeten Rabenvaters gehalten hatte …

Schon bald wird klar, dass es eine solche Bedrohung für die Erde noch nie gegeben hat. Da ist es kein Wunder, dass Jason die Rettung seiner eigenen Haut als lästige Nebensache abtut!
LanguageDeutsch
Release dateSep 13, 2018
ISBN9783867623209
Oscuridad: Absturz ins Ungewisse

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    Book preview

    Oscuridad - Eric Nowack

    EPILOG

    Autor: Eric Nowack

    Lektorat: Judith Vogt

    Korrektorat: Giulia Pellegrino

    Innenillustration: Hannes Radke

    Layout und Satz: Robert Hamberger

    Umschlaggestaltung: Hannes Radke, Diana Rahfoth, Anthony Scroggins, Robert Hamberger

    Besonderen Dank an: Felix Schledde, Christian Vogt, Kristina Kleinschmidt, Desiree Couchon

    ISBN Taschenbuch: 978-3-86762-319-3

    ISBN E-Book: 978-3-86762-320-9

    © Feder & Schwert 2018

    OSCURIDAD – Absturz ins Ungewisse ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur zu Rezensionszwecken und mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

    Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren des Romans und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

    www.feder-und-schwert.com

    „Man hat den Eindruck, dass die moderne Physik auf Annahmen beruht, die irgendwie dem Lächeln einer Katze gleichen, die gar nicht da ist."

    Albert Einstein

    PROLOG

    Verdammt noch mal. Jetzt gibt es Ärger.

    Jason saß bereits im Sattel seines Motorrads und hatte den Reißverschluss der Fliegerjacke hochgezogen, als der Staff Sergeant ihn aufhielt. Der Mann rief und winkte aufgeregt. Jason versuchte, sich den Namen des gehetzt aussehenden Unteroffiziers ins Gedächtnis zu rufen, brachte es aber nicht zustande. Für ihn sahen die Gesichter der Funktionäre alle gleich aus. »Lieutenant!«, salutierte der Unteroffizier mit dem abgenutzt aussehenden elektronischen Klemmbrett in der Hand. Die SlugPods in Jasons Ohren spielten schnellen, harten Rock ’n’ Roll. »Lieutenant Blackthorne! Tut uns sehr leid, Ihre Freistellung verzögern zu müssen, aber Major Griffin wünscht, mit Ihnen zu sprechen, Sir.«

    Gegen die laute Musik und das anschwellende Crescendo von mindestens vier auf Touren kommenden Düsentriebwerken waren die Worte des Unteroffiziers nur schwer zu verstehen. Jason setzte seinen Helm ab, erwiderte den Salut aber nicht. Er war sich sicher, dass es Griffin überhaupt nicht leidtat. Seine Art, Untergebene über das Gelände zu scheuchen wie kopflose Hühner, anstatt die Wunder der modernen Telekommunikation zu nutzen, hatte ihm noch nie gefallen. »Sagen Sie mir, worum es überhaupt geht?«

    Der Turbinenlärm kam immer näher. Der Staff Sergeant, seiner geordneten Uniformierung und relativen Blässe nach zu urteilen ein Bürokrat, der auf der Verwaltungsebene der Basis arbeitete, holte tief Luft. Seine Antwort wurde übertönt. Er zog den Kopf ein, als die beiden startenden F-24 Banshees zornig über ihre Köpfe hinwegfegten. Durch den flimmernden Schleier aufgewirbelter Luft blickte Jason den beiden steigenden Maschinen hinterher, die in der gleißenden Mittagshitze New Mexicos immer kleiner wurden. Er nahm sich einen Augenblick, um ihre ungebändigte Kraft und das Gefühl von grenzenloser Freiheit zu würdigen, das er bei ihrem Anblick verspürte. Erst nachdem die großen Luftüberlegenheitsjäger zu glitzernden Stecknadelköpfen am Horizont geworden und ihr Donner zu einem fernen Brodeln verhallt waren, zog er sich die SlugPods aus den Ohren und wandte sich dem anderen zu. »Also?«, rief er etwas lauter als zunächst beabsichtigt.

    »Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte der Staff Sergeant mit gequält verzogenem Gesicht.

    Jason war sich recht sicher, dass das nicht stimmte. Wahrscheinlich wusste es inzwischen jeder. »In Ordnung. Ich bin gleich bei ihm. Danke, Sergeant«, sagte er, auf das Namensschild des anderen schielend, das von der Kugelschreibersammlung in seiner Brusttasche strategisch verdeckt wurde.

    Der Staff Sergeant zögerte für einen vielsagenden Augenblick. »Der Major hat mich ausdrücklich angewiesen, Sie bis vor die Tür zu begleiten, Sir.«

    »Gut, in Ordnung.« Die groben Unflätigkeiten unterdrückend, die ihm so jäh auf der Zunge lagen, folgte Jason dem unglücklichen Botenjungen des Majors zwischen den geparkten Autos hindurch über den Parkplatz. »Wollen Sie eine?«, bot er dem anderen an, eine Zigarette bereits im Mundwinkel, während er in den vielen Taschen seiner Jacke nach dem Feuerzeug suchte.

    »Das Rauchen auf dem Gelände ist nicht gestattet, Sir.«

    »Ach, du meine Fresse«, entfuhr es Jason leise, »entspannt ihr Typen euch denn nie?«

    Was hätte schon passieren können? Diese Frage stellte sich Jason im Rückblick auf jede brenzlige Situation, der er entkommen war. Über die Antworten darauf dachte er meistens nicht lange nach. Heute Morgen hatten er und Cliffhanger sich im Laufe einer Übung zur Radartäuschung, die sie im Tiefflug durch die Schlucht westlich vom Two Rivers-Staudamm führte, eine kleine Mutprobe geliefert. Natürlich war es Jasons Idee gewesen, und er hatte den aufgeblasenen Scheißer so lange provoziert, bis dieser auf das Spiel eingestiegen war. Jason hatte den Wetteinsatz wie erwartet gewonnen. Der Tower hatte sich nicht dazu geäußert – sie hatten Besseres zu tun, als alle Übungsflüge bis ins kleinste Detail zu überwachen. Die kleinen Beulen im Bauch von Jasons F-19 Aquila und eine Handvoll gesplittertes Grünholz, das in den Fugen hängengeblieben war, stellten das eigentliche Problem dar. Auch wenn der Chefmechaniker und die Bodencrew nichts gegen ihn hatten, so mussten sie jeden durch eine Kollision verursachten Schaden dem Staffelkommandanten melden. Und dieser war leider kein anderer als Major Griffin – ein Mann, für den First Lieutenant Jason Blackthorne schon von Beginn an den sprichwörtlichen Dorn im Auge verkörpert hatte.

    Kurz vor Griffins Büro setzte sich der Staff Sergeant ab und verschwand in einem Seitengang.

    Wie ein verdammter Ninja. Jason konnte es ihm nicht verübeln, denn es war ausgerechnet Cecil Cliffhanger Ortiz, der ihnen auf dem Gang entgegenkam. Er hatte offenbar gerade Griffins Büro verlassen, was nichts Gutes verhieß. Jason setzte zu einem unbeschwerten Gruß an, wurde aber von dem anderen auf dem engen Korridor mit der Schulter gestreift, bevor er etwas sagen konnte. Es war eine sinnlose und pubertäre Geste mit dem Gewicht eines Wrestlers dahinter.

    »Was ist dein Problem, du alte Spaßbremse?«, verlangte Jason mit ausgebreiteten Armen zu wissen. Sie hätten auch als pöbelnde Jungs auf einem Schulhof stehen können.

    Cliffhanger fuhr im Gang herum und baute sich vor ihm auf. Mit seinem zu einem waffenscheinpflichtigen Brikett verhärteten Bürstenhaarschnitt war er fast einen Kopf größer als Jason. Sein Zeigefinger war anklagend auf dessen Nasenspitze gerichtet.

    »Du bist das Problem, Sky Bastard«, knurrte er leise, damit der Schlagabtausch nicht in die angrenzenden Büroräume dringen konnte. »Besten Dank und viel Spaß da drin. Kannst stolz auf dich sein!«

    Jason zuckte nur unwesentlich zusammen, als ihn die zusammengeknüllte Fünfzig-Dollar-Note zwischen die Augen traf. Er hob den Geldschein behutsam auf, glättete ihn etwas und steckte ihn ein. Hatte er es dieses Mal zu weit getrieben? Vielleicht. Aber fünfzig Dollar sind fünfzig Dollar, dachte er, nachdem Cliffhanger wutschnaubend im Treppenhaus verschwunden war.

    Jason legte die letzten Meter zum Büro seines Staffelkommandeurs zügigen Schrittes zurück und klopfte entschlossen an.

    »Reinkommen!«, bellte Griffin aus dem Inneren.

    Das Büro des Majors wirkte von innen geräumiger, als es allein aufgrund seiner Abmessungen sein durfte. Lediglich eine Handvoll Luftaufnahmen von der Basis und Porträts inzwischen verstorbener Air Force-Generäle zierten die sonst kahlen Wände. Griffins Schreibtisch aus gebürstetem Aluminium war das einzige nennenswerte Möbelstück darin. Daran, verschanzt hinter einem Stapel konventioneller Papierakten, saß der Major, wie so oft mit einer gewissen Zornesröte im Gesicht. Ein dunkelhäutiger Offizier, den Jason noch nie zuvor gesehen hatte, war bei ihm. Er erkannte die Insignien eines Commanders an dessen makellos schwarzer Navy-Uniform. Der ältere Mann würdigte Jason eines Blickes, der im gemäßigten Umfang amüsiert wirkte. Er war an den Schläfen ergraut und strahlte eine Gelassenheit aus, die Griffin zu jeglichem Zeitpunkt fehlte.

    Jason richtete seinen Blick starr geradeaus und salutierte vor den beiden Ranghöheren. Er konnte nur hoffen, dass er dabei nicht wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht aussah. Was zum Geier hatte ein Abgesandter der US Navy so tief im Inland verloren?

    »Schön, dass Sie doch noch vorbeikommen konnten, Lieutenant Blackthorne«, leierte Griffin mit seinem generell sarkastisch klingenden, texanischen Akzent. »Das ist XO Commander Redding von der U.S.S. John F. Kennedy. Wir haben gerade über Sie gesprochen.«

    »Stehen Sie bequem, Lieutenant«, forderte ihn der ältere Navy-Offizier mit der entspannten Miene auf.

    Jason stellte sich so lässig hin, wie er es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu erlauben wagte. In seiner gegenwärtigen Aufmachung konnte er nicht sonderlich diszipliniert wirken. Aus irgendeinem Grund störte es ihn jetzt.

    »Haben Sie Familie in New Mexico, Lieutenant Blackthorne?«, wollte Redding wissen.

    »Nein, nur in Nebraska, Sir.« Jason musste an seine Mutter im Hinterwäldler-Kaff Broken Bow denken, das er schon vor über sieben Jahren verlassen hatte und nur noch sporadisch besuchte, um eine Blume auf ihr Grab zu legen.

    »Was ist mit Freunden, Bekannten? Sind Sie hier verwurzelt? Durch jemand Besonderen möglicherweise?«

    Jason runzelte die Stirn. Seine Flügelfrau war eine gute Kameradin, mit der er seine Sorgen jederzeit teilen konnte. Zusammen waren sie ein eingespieltes Team, am Boden wie auch in der Luft, was nicht zuletzt daran lag, dass auch sie arrogante Windbeutel wie Cliffhanger nicht ausstehen konnte. Potential war trotzdem vorhanden. »Nein, Sir. Niemand Besonderes ... äh, zur Zeit.«

    »Die Navy sucht derzeit nach passenden Gelegenheiten, um das Austauschprogramm für Offiziere zu beleben. Ihr Profil wurde über eine Suchmaschine ausgewählt, doch spreche ich mit jedem Kandidaten persönlich, um etwaige Missverständnisse schon im Vorfeld auszuräumen. Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag machen: Was würden Sie davon halten, an diesem Austausch auf einem Flugzeugträger im Südpazifik teilzunehmen?«

    Jason schwieg irritiert. Sein Blick streifte den von Griffin, dessen sonst so mürrische Mimik langsam ein ernsthaftes Gefecht mit einem unterdrückten Ausdruck des Entzückens verlor. Was hatte das alte Arschgesicht sich jetzt wieder ausgedacht? Wo blieb die Standpauke wegen seines Stunts im Canyon, zu dem er Cliffhanger angestiftet hatte? Wieso war Cliffhanger so schweinesauer gewesen?

    Unbeirrt fuhr Commander Redding fort: »Das Austauschprogramm für Piloten zwischen der Air Force und der Navy gibt es schon länger als Sie und mich. Allerdings wurde es noch nie in diesem Umfang genutzt wie in den letzten Jahren. Die Anforderungen an Piloten auf Flugzeugträgern waren schon immer besonders hoch und die Ränge sind zurzeit so unterbesetzt wie noch nie. Wir suchen nur die fähigsten Piloten der Air Force aus, um an diesem Programm teilzunehmen.«

    »Seien Sie versichert, er ist einer meiner Besten«, fügte Griffin etwas zu schnell aus dem Schützengraben hinter seinem Schreibtisch hinzu, während Jason noch über die möglichen Komplikationen des vorangegangenen Kompliments nachdachte.

    »Ich möchte, dass Sie es sich überlegen, Lieutenant. Die nötigen Unterlagen habe ich bereits in Ihrem Postfach hinterlegen lassen«, fuhr der Ältere fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Aber bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss noch eine Reihe weiterer Kandidaten treffen, und es ist noch ein langer Tag mit viel lästiger Fliegerei.«

    Nachdem Griffin und Jason allein waren, war es Jason, der die unangenehme Stille brach. »Major, ich denke nicht …«, begann er vorsichtig.

    »Niemand interessiert sich einen feuchten Dreck dafür, was du denkst!«, blaffte Griffin mit warnend aufgerissenen Augen. »Hör mir genau zu, Blackthorne! Ich bin bereit, einiges zu vergessen, was sich in deinem Lebenslauf schlechter machen würde als ein Haufen Taubenscheiße auf der Geburtstagstorte zum Fünfzigsten! Ich rede nicht einmal davon, dass du Ortiz dazu bringst, Schisshase mit Felswänden zu spielen, während ihr zwei dämlichen Flachwichser Maschinen im Wert von über fünfzig Millionen Dollar steuert. Ich rede nicht von den anderen beschissenen Ideen, denen du meine Fliegerstaffel ausgesetzt hast, und ich rede auch nicht von dem fettigen Wischmopp auf deinem Kopf, den du wie einen Haarschnitt trägst. Ich rede davon, was du noch alles tun könntest, wenn du auch nur einen Tag länger hierbleibst. Du bist der geschwollene Pickel am blütenweißen Arsch der Jungfrau Maria, Blackthorne, eine miese Nummer mit einer Portion zu viel Fliegertalent und über einer Million in Ausbildungsgeldern im Hals, die treudoofe Steuerzahler für dich aufgebracht haben, damit du dich wie der König der Welt fühlen kannst! Es wäre höchst unpatriotisch und schlecht für die Wirtschaft, dich rauszuschmeißen, so wie es jemand mit deiner Einstellung eigentlich verdient. Aber ich habe auch keine Lust, vor meiner nächsten Beförderung noch die verschissenen Juristen in meiner Anlage herumschnüffeln zu sehen, weil so ein ungewaschener Gehirntiefflieger wie du sich unter meinem Kommando in seine Einzelteile zerlegt hat!«

    Jason sagte nichts, sondern ließ sich im Strom der Beschimpfungen treiben. Dann stellte er die Frage, die ihn nur am Rande beschäftigte, aber Griffin noch wütender machen würde: »Und First Lieutenant Ortiz? Was passiert mit ihm?«

    »Was soll schon mit Ortiz sein, du Blindgänger? Ein Pilot meiner Truppe, der sich von jemandem wie dir zu einer solchen Dummheit anstiften lässt, hat es nicht verdient, mit seinen Sonderwünschen berücksichtigt zu werden. Das ist ja, als würde ich ihn noch dafür belohnen, wenn er Scheiße baut. Du hingegen …«

    Also hatte Cliffhanger die Teilnahme am Austauschprogramm beantragt. Das erklärte sein Verhalten in letzter Zeit, mit dem er sich noch stärker zu profilieren versuchte als sonst. Jason konnte nicht abstreiten, dass ihre Anfeindung auf einer gewissen Gegenseitigkeit beruhte. Cedric Ortiz war ein Sohn reicher Eltern aus Texas, die ihm genug Zucker in den Arsch geblasen hatten, um jeden anderen zum Diabetiker zu machen. Er war es nicht gewohnt, zu verlieren, und seine Leistungen in der Air Force hatten ihn eigentlich auch nicht glauben lassen, dass er es je wieder tun würde – bis Jason nach McNamara versetzt wurde. Dass Cliffhanger seine Karriere bei der Navy begonnen hatte, das war eine ganz andere Geschichte – eine, die dieser Gockel am liebsten für immer unter den Teppich gekehrt hätte, genauso wie den Ursprung seines Rufzeichens, das nicht gerade von fliegerischem Können bei seiner ersten Landung auf einem Flugzeugträger zeugte.

    Am Boden war Jason seinem Rivalen ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht unterlegen. Seine Noten im theoretischen Unterricht waren noch lange nicht so gut, sein disziplinarischer Lebenslauf nicht so sauber wie der von Ortiz. Im Fitnesstraining hängte der Stiernacken ihn jederzeit ab und drückte auf der von Jason prinzipiell gemiedenen Hantelbank das Doppelte. Darüber hinaus hatte Ortiz einen Ruf als Frauenschwarm mit einer Abschussquote, für die ihn alle anderen Kerle beneideten. Dass Jason den Eindruck hatte, dass seine Affären sich viel zu leicht beeindrucken ließen, spielte bei solchen Statistiken natürlich keine Rolle. Cliffhanger hätte Jason wahrscheinlich auch jederzeit verprügeln können, wenn ihm sein respektabler Lebenslauf nicht so wichtig gewesen wäre. Doch in den Cockpits ihrer Maschinen tat sich für beide eine andere Welt auf. Es war eine Welt, in der so ein dahergelaufener Mistkerl aus Nebraska den Günstling des Majors jederzeit wie das traurige Schlusslicht der 974ten Jagdstaffel aussehen lassen konnte. Heute musste der Tag gekommen sein, an dem Jason einmal zu oft zu viel Spaß gehabt hatte. Cliffhanger hatte nicht nur die Mutprobe verloren, sondern steckte jetzt in der gleichen knietiefen Scheiße wie Jason selbst. Mit einem Schlag wurde Jason klar, dass er nicht länger in McNamara bleiben konnte. Die Kontrolle darüber hatte er vielleicht heute, vielleicht aber auch schon am ersten Tag seiner Stationierung endgültig verspielt.

    »Ich habe die Schnauze gestrichen voll von deiner dreisten Visage, Blackthorne. Und wenn du nicht heute noch unterschreibst, den Austausch anzutreten, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du in deiner weiteren Karriere nichts mehr fliegst, das sich der Schallmauer auch nur ansatzweise nähern kann«, schloss Major Griffin seinen lautstarken Ausbruch etwas gesetzter ab, während er eine Flasche teuren Bourbon unter seinem Schreibtisch hervorholte. Er hatte sie möglicherweise sogar für genau diesen heutigen Anlass aufbewahrt. »Und jetzt: scher dich raus hier, aber ein bisschen plötzlich!«

    Auch Jason hatte dem überhaupt nichts mehr hinzuzufügen.

    Als er wieder draußen im Flur stand, stellte er fest, dass sich ein mit Sicherheit etwas dümmlich aussehendes Lächeln der Erleichterung in sein Gesicht geschlichen hatte.

    I – WUNDERLAND

    Die Bremslichter des Busses blinkten wie kleine Ziellämpchen. Pedro rannte noch etwas schneller, die Sohlen seiner Turnschuhe klatschten unablässig auf das Pflaster der Portete de Tarqui. Er musste verhindern, von Yanna überholt zu werden, die sich gerade rechts an ihm vorbeischob und irgendetwas schrie. Zwar war sie zwei Jahre älter als er, dennoch konnte er sich unmöglich einem Mädchen geschlagen geben.

    Simón und Eugenio hatten den Bus fast erreicht und drängelten sich durch die Kolonne von Arbeitern der Akagi Corporation und FengLang Unlimited, die der Bus auf ihrem Weg zur Nachtschicht ausgespuckt hatte. Die Kinder stellten sich jeweils in die vordere und hintere Tür des Busses und blockierten abwechselnd die Lichtschranken, um das Robotgefährt an der Weiterfahrt zu hindern. Endlich warfen sich Yanna, Pedro und Nelson in die hintere Tür zu Simón, keine Sekunde zu früh, bevor der Bus ihr Spiel durchschaute und mit sirrenden Elektromotoren anfuhr.

    Obwohl gerade viele Leute ausgestiegen waren, war der Bus noch immer brechend voll. Schon seit Jahren waren seine Sicherheits- und Kapazitätsprotokolle von der Stadt außer Kraft gesetzt worden. Schweratmend standen die Kinder in der offenen Tür und hielten ihre erhitzten Köpfe in den Fahrtwind, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen.

    Yanna fand als erste ihre Stimme wieder. »Estúpido!«, schimpfte sie. »Wir sind im falschen Bus! Er hat uns in den falschen Bus einsteigen lassen!«

    »So ein Blödsinn …«, fing Pedro wie aus einem Reflex an, die Entscheidung ihres Anführers zu verteidigen, doch Yanna schnitt ihm entschlossen das Wort ab. »Guck doch selbst, wir sind in der 19A-3!« Sie zeigte auf die Anzeigetafel. »Der fährt aber nicht nach Urdesa, der fährt in den Osten, zum Fluss. Wir hätten in die 19B-8 einsteigen müssen.«

    »Woher willst du das denn wissen?«, fragte Pedro mit aggressivem Trotz. »Spiel dich nicht so auf! Als ob du öfter Bus fahren würdest als Eugenio!«

    »Ich kann lesen, Pedro, solltest du auch mal versuchen«, schnappte Yanna zurück.

    »Leute«, Nelson stellte sich zwischen sie und legte beiden eine Hand auf die Schulter. »Jetzt geht euch mal nicht an die Hälse, ist doch kein Drama. Wenn es der Falsche ist, steigen wir wieder aus und nehmen den nächsten. So einfach ist das.«

    »Ja klar, und zahlen noch mal für die Karten? Bist du bescheuert …«

    »Noch haben wir gar nicht bezahlt«, mischte sich Simón ein. »Eugenio hat die Kohle.«

    Inzwischen hatte sie auch der virtuelle Kontrolleur des Busses registriert. Der Avatar auf dem LED-Band über den Fenstern, ein blauhaariges Etwas mit großen Augen und fehlender Nase, wandte ihnen seine künstliche Aufmerksamkeit zu.

    »Gruppentarif oder Einzelfahrscheine?«, fragte die Stimme des Busses blechern.

    »Und, wo steckt er?«, zischte Yanna, als sich das an der Decke herumfahrende Kameraauge auf sie richtete. »Die schmeißen uns gleich wieder raus …«

    »Gruppe, mein Bester!«, ließ Eugenio vernehmen, der sich hinter einem Wasserverkäufer durch das Gedränge im Bus vorgekämpft hatte. Grinsend quetschte er sich zwischen zwei Indio-Mütterchen hindurch und gesellte sich zu ihnen, wobei er theatralisch die Arme um die ganze Gruppe legte und der Kamera den an einem Ring befestigten Paychip entgegenhielt, den er heute Morgen geklaut hatte. »Fünf Personen, zwei Zonen.«

    Der Scanner des Kameraauges blitzte zweimal kurz auf, bevor der Avatar sich bei ihnen bedankte und über die interaktive Leuchtreklame zum nächsten neuen Fahrgast scrollte.

    Pedro hatte derweil einen Blick aus der Tür geworfen. Busfahren war ein Luxus, den er sich normalerweise kaum leisten konnte, genauso wenig wie die anderen. Sie verließen selten ihre Nachbarschaft – wann Pedro das letzte Mal aus Santa Teresita, ihrem Viertel, herausgekommen war, wusste er schon gar nicht mehr. Und schon jetzt, als der Bus noch die Portete de Tarqui herunter bretterte, fuhr er bereits durch eine Gegend, die Pedro unbekannt vorkam. Das chaotische Durcheinander von flachen Bungalows, Mietshäusern, kleinen Supermärkten und glitzernden Shopping-Malls, das er auch von Santa Teresita kannte, war hier durchsetzt von Niedrigenergie-Häuserblocks und Mini-Arkologien, die das rechtwinklige Straßennetz aufbrachen, sich teilweise über die Straßen erstreckten und diese zu Unterführungen machten.

    »Wo fahren wir hin?«, hörte Pedro Yanna mit wachsender Ungeduld fragen. Er drehte sich um und sah sie Eugenio vorwurfsvoll anfunkeln. »Das ist nicht der Bus nach Urdesa und das weißt du auch. Also, wo lotst du uns hin, du großer Entdecker?«

    Eugenio hielt ihrem Blick grinsend stand. »Ich sehe schon, Señorita, dir kann ich nichts vormachen.« Er strich sich mit selbstbewusstem Schwung die lockigen Haare aus dem Gesicht. »Du hast recht, wir fahren heute nicht zum Spinball-Center.«

    »Ja, warum auch, wir hatten uns ja auch nur mehrheitlich dafür entschieden, dort hinzugehen«, protestierte Yanna. »Wenn du mal nicht deinen Willen bekommst …«

    »Hey, ich hätte sowieso alles bezahlt, oder?«, entgegnete Eugenio scharf und erinnerte sie damit daran, dass er derjenige war, der den unregistrierten Paychip gestohlen hatte.

    »Wo soll es denn dann stattdessen hingehen, Eugenio? Etwa nach La Bahia?«, fragte Nelson, der sich bisher aus der Diskussion herausgehalten hatte.

    »Noch viel weiter«, verkündete Eugenio, »Unser Ziel heute ist die Isla Santay

    Die Reaktionen seiner Freunde fielen wenig begeistert aus. »Häh, was wollen wir denn da?«, fragte Nelson, »da gibt es doch nichts außer ein paar Bauerntrottel.«

    Die Isla Santay, eine große Flussinsel kurz hinter der Stelle, wo der Río Daule und der Babahayo River sich zum Río Guayas vereinigten, gehörte zum neuen Teil von Guayaquil und war bis vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht bebaut gewesen. Die Bewohner dort waren natürlich schon lange keine Bauern mehr, beim Rest der Bevölkerung von Guayaquil würden sie aber noch in hundert Jahren als solche verschrien sein.

    »Was denn, hast du so wenig Vertrauen in mich, dass du glaubst, ich würde euch mit voller Absicht langweilen wollen? Ihr solltet mich inzwischen besser kennen …«

    Mit einem faunischen Verschwörerlächeln bedeutete er ihnen, die Köpfe zusammenzustecken und fuhr leiser fort: »Ihr habt doch bestimmt schon im City-Feed von diesem einen Viertel gehört, in dem es spuken soll, oder?«

    Simón nickte bestätigend, Nelson hingegen gelang irgendetwas zwischen Nicken und Schulterzucken, und Yanna sah noch misstrauischer aus als vorher. Pedro war es neu, dass es Viertel geben sollte, in denen es spukte, er wollte aber nicht als ahnungslos dastehen. Also tat er einfach so, als wüsste er Bescheid und nickte bekräftigend.

    »Ja, klar«, entgegnete Yanna. »Und weiter? Du glaubst doch nicht etwa daran, oder?«

    Eugenio winkte ab, als würde Yanna nur vom Thema ablenken. »Völlig unwichtig, der interessante Teil kommt jetzt: Die Bullen haben das Viertel heute geräumt. Zumindest verbreiten sie das in den Nachrichten. Aus zuverlässigerer Quelle hört man aber«, er tippte auf das gesprungene Display des großformatigen PDAs an seinem Gürtel, den er benutzte, um die Terranet-Seite der Guayaquil Underground News aufzurufen, »dass sie damit nur vertuschen wollen, dass die Leute freiwillig aus ihrem Viertel abziehen. Und zwar in Massen. Hier, zieht euch das mal rein …«

    Er zeigte ihnen einen Clip, in denen eine ganze Reihe von Anwohnern mittleren Alters mit furchtsam aufgerissenen Augen interviewt wurden, die dabei viele Santa Marias und andere gottesfürchtige Ausrufe von sich gaben. Anschließend wurde ein Straßenausschnitt der Insel aus der Kameraperspektive eines Ladens gezeigt, auf dem scheinbar eine größere Menge Menschen vor etwas davonlief.

    »Na ja, das ist jetzt schon ein paar Stunden alt. Inzwischen dürften sie mit der Räumung durch sein. Das Viertel ist komplett leer. Könnt ihr euch das vorstellen?« Er sah seine Freunde erwartungsvoll an, doch der Funke war noch nicht übergesprungen. Die anderen tauschten ratlose Blicke aus.

    »Und da willst du jetzt hin?«, fragte Yanna in einem Ton, der Eugenios Zurechnungsfähigkeit offen in Frage stellte. »Das ist dein Plan für unseren Samstagabend?«

    »Mensch, rafft ihr’s denn nicht?« Eugenio beugte sich etwas weiter vor und sprach noch leiser. »Alle, die dort wohnen, sind weg, wir können uns alles in Ruhe ansehen. Und die Leute haben nicht großartig gepackt, sondern sind einfach Hals über Kopf abgehauen. Viele werden vergessen haben, ihre Läden abzuschließen …«

    »… du willst sie beklauen!?«, platzte es aus Pedro heraus.

    Eugenio hielt sich zischend den Finger an die Lippen, nickte aber auch anerkennend. »Seht ihr, der Kleine hat’s geschnallt.«

    Pedros Brust schwoll an vor Stolz über Eugenios Lob.

    »Plündern?« Leben kam in Simóns gleichmütige Miene. »Was glaubst du denn gibt es da drüben zu holen? Das sind doch auch nur alles arme Schlucker.«

    »Die Masse macht’s eben«, sagte Eugenio überzeugt. »Außerdem, wir brauchen nur einen Supermerkado zu finden, dessen Kasse nicht gesperrt ist, und schon haben wir den Hauptgewinn gezogen.«

    Simón schien die Idee immer besser zu gefallen. Pedro war schon vom ersten Moment mit an Bord gewesen, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen. Er sagte Ja und kräftig Amen! zu allem, wozu Eugenio sie anstiftete. Pedro betete den Boden an, auf dem der drei Jahre ältere Junge spazieren ging. Wenn Eugenio vorgeschlagen hätte, es wäre doch eine coole Idee, von einer Brücke in den Río Guayas zu springen, wäre Pedro schon auf halbem Weg über das Geländer geklettert. Eugenio war für ihn der ältere Bruder, den er nie wirklich kennengelernt hatte. Mitglieder seiner eigenen Gang hatten Sancho über den Haufen geschossen, als Pedro fünf Jahre alt gewesen war.

    Yanna sah immer noch skeptisch und alles andere als überzeugt aus. »Das ist ein hirnverbrannter Plan«, stellte sie fest. »Erstmal, hörst du dir eigentlich selbst zu? Die Bullen haben das Viertel abgeriegelt – also, wie sollen wir da reinkommen?«

    »Und selbst wenn, werden wir die ganze Zeit höllisch aufpassen müssen, dass wir nicht irgendwelchen Patrouillen in die Arme laufen«, gab Nelson vorsichtig zu bedenken.

    »Ach, kommt schon, seit wann habt ihr denn so einen Schiss vor den Bullen?«, wiegelte Eugenio ab. »Wäre doch nicht das erste Mal, dass wir vor einer Streife wegrennen. Und selbst wenn sie uns erwischen, was sollen sie machen? Die lassen uns dann laufen, wie immer. Wir sind zu jung, um eingebuchtet zu werden.«

    »Ich mach mir auch nicht nur wegen der Bullen Sorgen«, antwortete Yanna. »Auf die Idee, dass es dort etwas zu holen geben könnte, werden auch andere gekommen sein. Wir könnten richtigen Plünderern begegnen, die was gegen Zeugen haben werden …«

    »Äh, Leute, vergesst ihr nicht was?«, meldete sich Nelson zu Wort. Er war etwas blass um die Nase geworden. »Die haben gesagt, dass es dort spuken soll. Die Leute werden doch nicht ohne Grund abgehauen sein. Das ist immerhin ihr Zuhause! Die müssen eine Scheißangst gehabt haben, das hat man doch gesehen.«

    »Abergläubisch, Nelson? Du alter Betbruder«, schmunzelte Eugenio herablassend, »Die Jungfrau Maria wird schon ihre schützende Hand über dich halten. Lass dich doch nicht beeindrucken, das sind rückständige Bauerntölpel. Die bekreuzigen sich doch schon, wenn sie eine der neuen Frachtdrohnen der Schlitzaugen über ihre Köpfe hinweg brummen sehen.«

    Noch immer stand es zwei zu drei. Für Pedro wurde es Zeit, Eugenio zu Hilfe zu kommen. »Mensch, was seid ihr denn für Schisser?«, krähte er herausfordernd. Es war ihm egal, dass die Leute im Bus ihn schon tadelnd ansahen. »Das ist doch die Chance für uns! Wenn wir wirklich einen Merkado mit voller Kasse finden, können wir ein ganzes Wochenende im Spinball-Center verbringen und dann noch eins! Ihr wisst genau, dass wir das anders nie hinbekommen würden.«

    Jetzt zeigte sich, dass die Aussicht auf eine kräftige Finanzspritze selbst Yanna und Nelson wanken ließ. Als Geldquelle standen ihnen neben gelegentlichen Taschendiebstählen nur noch die Stadtleguane zur Verfügung. Wenn sie ein paar erbeuteten, konnten sie das Fleisch an der Brücke nach Duran an Pendler verkaufen. Aber das warf gerade mal genug ab, um nicht hungrig schlafen gehen zu müssen.

    »Und von wegen Spuk, das glaubt ihr doch selbst nicht«, ereiferte Pedro sich weiter, »Das ist doch nur eine fette Lüge von den Bullen. Die glauben doch, die Leute seien zu blöd zum Scheißen. Wir glauben doch nicht an solche Ammenmärchen!«

    Pedros Tirade verfehlte ihre Wirkung nicht. Angesichts der Tatsache, dass der Jüngste ihrer Gruppe keinerlei Angst zeigte, gab auch Nelson seinen Widerstand auf. »Okay … ich schätze, ihr habt wohl recht. Könnte sich lohnen. Ich bin dabei.«

    Yanna sah immer noch nicht glücklich aus, aber schließlich blies sie sich genervt eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte: »Na gut. Es bleibt eine dumme Idee, aber wir machen’s. Und wenn irgendwem dabei etwas passiert, reiß ich dir den Arsch auf, Junge.«

    Eugenio wusste, wem er seinen Sieg zu verdanken hatte und knuffte Pedro kumpelhaft gegen die Schulter. »Kleiner, ich sag es nicht zum ersten Mal, aber du bist mein bester Mann! Auf dich kann man sich verlassen!« Bei diesen Worten fühlte sich Pedro, als würde er vor Glück platzen. Eugenios Anerkennung war für ihn wie eine Droge.

    Der Bus hatte inzwischen das Vergnügungsviertel La Chala erreicht, das allmählich zum Leben erwachte und einer weiteren geschäftigen Nacht entgegensah. Viele der Spielhallen, Holo-Kinos, VR-Bordelle und Diskotheken hatten bereits ihre Leuchtreklamen eingeschaltet, die im schwächer werdenden Sonnenlicht noch halb durchscheinend wie Rauchfahnen wirkten. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die grellen Neonfarben ihre Wirkung entfalten konnten: Zwischen den Konzerntürmen des von Fracht- und Kurierdrohnen umschwärmten Geschäftsviertels sank die Sonne schnell dem Horizont entgegen. In der Glocke der feuchten, dunstigen Luft über der Stadt sah sie aus wie hinter einer schmutzigen Glasscheibe.

    Das autonome Gefährt war lange unterwegs und machte zahllose Stops in Barrio Puerto Lisa und Parroqioa Lettamendi, bevor es schließlich auf die El Oro einbog, die auf den Fluss zuführte. Kaum hatten sie den Kern der Zivilisation und damit das elektrische Induktionsnetz der Stadt verlassen, erwachte der qualmende Dieselmotor des Busses röhrend zum Leben. Zumindest leerten sich die Reihen von Plastiksitzen dabei soweit, dass die Kinder sich zusammensetzen konnten. Als sie die Brücke zur Insel überquerten, war es draußen bereits stockdunkel. Nachdem der Bus die andere Seite erreicht hatte, fing seine gewohnte Maschinenstimme an, die nächste Haltestelle anzusagen, wurde aber mitten im Satz von einer lauteren Aufnahme übertönt, die wahrscheinlich sogar von einer realen Frau gesprochen worden war: »Achtung, Sie nähern sich einer evakuierten Zone. Für einen unbestimmten Zeitraum sind die Wohngebiete innerhalb der Avenue Arecibo und der Via Dolorosa zu Ihrer eigenen Sicherheit gesperrt worden. Sollten Sie im betreffenden Gebiet wohnhaft sein, werden Sie gebeten, sich umgehend beim nächstgelegenen Einsatzzentrum der Polizei zu melden. Dort wird ihnen weitergeholfen. Wir danken Ihnen für Ihre Kooperation und wünschen Ihnen einen schönen Tag.«

    »Los, raus jetzt«, kommandierte Eugenio, als der Bus zum Halten kam. Sie stiegen aus und sahen sich um, während das Gefährt sie zurückließ, um seine endlose Fahrt fortzusetzen. Die Straße unterschied sich hier kaum von der El Oro auf der anderen Seite des Flusses, abgesehen davon, dass sie ärmlicher aussah und nur eine Handvoll Clubs mit ihren animierten Leuchtschildern lockten. Dafür gab es umso mehr Polizisten. Sie patrouillierten auf der anderen Straßenseite, die Daumen demonstrativ in die Holstergurte gesteckt. Einige hatten sogar automatische Gewehre. Andere standen in Grüppchen an den Straßenecken und blickten finster drein. An der nächsten Kreuzung, etwa fünfzig Meter entfernt, hatten sie eine Straßensperre aus Gittern und Streifenwagen aufgebaut. Daneben verharrte bewegungslos ein schwerer, vierbeiniger Roboter zur Aufstandsbekämpfung. Obwohl seine von einem Hydranten gespeisten Wasserwerfer abgedeckt waren, verlieh er der Szene mit seiner aufragenden Zentaurengestalt noch immer etwas urtümlich Bedrohliches.

    »Das ist doch wirklich eine Scheißidee …«, flüsterte Yanna angesichts des Aufgebots.

    »Gekniffen wird jetzt nicht mehr«, raunte Eugenio, obwohl er selbst längst nicht mehr so selbstsicher wie vor einer Stunde wirkte. »Lasst uns erst mal wieder ein Stück zurückgehen. Da waren noch nicht so viele von denen unterwegs.«

    »Am Flussufer könnten wir ein offenes Kanalrohr finden«, schlug Pedro beflissen vor.

    Letztlich war das jedoch gar nicht nötig. Sie waren über die Straße gewieselt und schlenderten, die Köpfe gesenkt und möglichst unauffällig, die Straße in Richtung Fluss hinunter, bis die Polizisten außer Sichtweite waren. Hier hatte Simón eine besonders niedrige Mauer entdeckt, die weder mit Stacheldraht noch mit im Sims eingelassenen Glasscherben gesichert war. In weniger als einer Minute waren alle sechs hinübergeklettert, ohne dass ein Staatsbediensteter ihren Ungehorsam bemerkt hätte. Hier holten sie ihre Tarnumhänge hervor, die im Grunde nur Decken aus billiger, metallbeschichteter Isolierfolie waren. Doch diese halfen, keine Körperwärme nach außen abstrahlen zu lassen, und das reichte meist schon aus, um sich im Dunkeln vor den Infrarot-Nachtsichtgeräten der Polizei zu verstecken. Zwei weitere Mauern, einen windschiefen Geräteschuppen und einen Hinterhof voller verwirrter Hühner weiter sprangen sie von einem Garagendach direkt auf die Straße.

    Sie waren unbemerkt in Nova Cochancay angekommen.

    »Ha!«, rief Eugenio, ohne auf seine Lautstärke zu achten. »Hab ich euch nicht gesagt, dass das ein Kinderspiel wird? Die Bullen sind so dämlich, die können sich noch so viele Chips in ihre hohlen Birnen implantieren lassen, sie werden mir nie das Wasser reichen können.« Er begann, seinen Siegestanz aufzuführen.

    Simón trat an ihn heran und zog ihn am Arm. »Wenn du weiter so rumschreist, werden sie keine chinesischen Spielsachen brauchen, um uns zu finden«, zischte er.

    Eugenio schimpfte ihn noch einen Langweiler, hörte aber so schnell mit den Albernheiten auf wie jemand, der zu gut wusste, dass der andere recht hatte. Ohnehin wurden sie immer stiller, während sie die Straßen des Viertels erkundeten. Irgendwann kamen ihre geflüsterten Unterhaltungen ganz zum Erliegen. Pedro sah sich um: Obwohl die Wohnviertel auf der Isla Santay erst vor wenigen Jahrzehnten entstanden waren, sahen sie viel älter aus als die Stadtteile auf dem Festland. Dort war die Stadt durch verschiedene Sanierungsprogramme mit Mühe im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Hier liefen sie durch Straßen, um die sich zwei- bis fünfstöckige Häuser drängten, die wirkten, als hätte man beliebige Betonklötze achtlos übereinandergestapelt. Die Baustile der einzelnen Stockwerke unterschieden sich radikal voneinander, und bei vielen der niedrigeren Häuser ragten rostige Eisenträger aus den Flachdächern, als hätten die Arbeiter mitten im Bau der neuen Stockwerke die Lust daran verloren.

    Während die Kinderbande durch die dunklen Straßen wanderte, wehrte sich Pedro gegen die Erkenntnis, dass sein Enthusiasmus für Eugenios Idee weitgehend abgeklungen war. Es war jedoch nicht die Gefahr, von den Ordnungshütern entdeckt zu werden, sondern die Stille, die an seinen Nerven zerrte. Seit er denken konnte, war er immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, von einem Haufen Menschen und ihrem Lärm umgeben gewesen. In den ausgestorbenen Straßen von Nova Cochancay waren die Schritte ihrer Turnschuhe und Sandalen das einzige Geräusch. Außerdem war es düster. Zwar glommen die LEDs der Straßenbeleuchtung noch im Stromsparmodus vor sich hin, doch die Fenster der Häuser gähnten ihn an wie leere, schwarze Höhlen.

    Erst jetzt kam ihm wieder ins Bewusstsein, was Eugenio vorhin erzählt hatte: Dass die Polizei das Viertel gar nicht geräumt habe, sondern dass die Menschen geflohen seien. Zum ersten Mal dachte er darüber nach, was die Leute wohl meinten, wenn sie sagten, dass es hier spukte. Die Stille dröhnte ihm geradezu in den Ohren. Er war dankbar, als Simón das Schweigen nach ein paar Minuten brach.

    »Okay, das ist ja alles ganz nett und so, aber … wie sieht das jetzt mit dem Plündern aus? Wir wollten doch plündern, oder nicht?«, warf er in die Runde.

    »Ja das war der Plan, warum fängst du nicht einfach schon mal an?«, gab Eugenio ein wenig gereizt zurück. »Du scheinst ja schon einige lohnende Sachen im Blick zu haben. Ich hab allerdings noch nichts gefunden, was den Aufwand wert wäre.«

    Eugenio hatte recht. Zwar lagen hin und wieder Tüten, Koffer und Körbe auf der Straße, die offensichtlich in Eile zurückgelassen worden waren. Doch sie enthielten nichts als muffig riechende Kleidung und anderen wertlosen Kram. Vor ein paar Stunden war es hier wohl ziemlich turbulent zugegangen, doch bisher waren alle Häuser und Geschäfte, an denen sie vorbeigekommen waren, verschlossen und verriegelt gewesen.

    Pedro sah zu, wie Simóns Gesicht länger wurde. Auch er hatte es sich anders vorgestellt. Und so wie Eugenio sich sichernd umsah, schien der Anführer ebenfalls zu bemerken, dass die Stimmung kippte. Keine Sekunde zu früh kamen an der nächsten Ecke die flackernden Leuchtstoffschilder eines Supermerkado in Sicht. In seinem Inneren brannte Licht, und seine automatischen Schiebetüren öffneten und schlossen sich in einem gemächlichen Rhythmus, da sie von einer leeren Glasflasche blockiert wurden.

    »Was hab ich euch gesagt?!«, triumphierte Eugenio eine Spur zu laut. »Los kommt, wer als Letzter da ist, muss die Münzen aus der Kasse schleppen!« Wieder einmal konnte er die anderen mit seinem Enthusiasmus anstecken. Sie rannten los.

    Dieses Mal musste sich Pedro Yanna geschlagen geben und stürzte als Letzter durch die nun offenen Glastüren. Das Schicksal, den Packesel für das Kleingeld spielen zu müssen, blieb ihm trotzdem erspart, denn schon auf den ersten Blick war klar, dass ihnen jemand zuvorgekommen war. Die Kasse war bereits mit roher Gewalt aufgebrochen worden, und das gähnend leere Bargeldfach hing schief und verbogen heraus.

    »Hijo de puta!«, fluchte Eugenio, und auch die anderen wussten dem nichts hinzuzufügen. Ihre Enttäuschung währte allerdings nur kurz, denn als sie sich umsahen, wurde ihnen klar, dass ihre Vorgänger nur an Geld interessiert gewesen waren. Die Regale waren noch nicht geplündert worden, und niemand hinderte sie nun daran, sich nach Herzenslust zu bedienen.

    Sie schwärmten aus. Pedro und Nelson hielten ohne zu zögern auf die Süßwarenabteilung zu. Dort packten sie sich die Taschen ihrer Shorts mit den grellbunt bedruckten Tüten chinesischer Bonbons voll. Als sie keinen Platz mehr hatten, fingen sie an, sich den Inhalt direkt in den Mund zu schütten. Nelson ging dazu über, sämtliche Geschmacksrichtungen der Mais- und Kochbananenchips durchzuprobieren, indem er sich aus jeder Tüte eine Handvoll griff, nur um den Rest dann hinter sich zu werfen. Er grinste Pedro mit vollem Mund an und ließ den halbzerkauten Brei zwischen den Zähnen hervorquellen und auf den Boden klatschen. Pedro fand das so lustig, dass er sich an einem weichen Reiskuchen mit Bohnenfüllung verschluckte. Eugenio und Yanna waren derweil damit beschäftigt, Koffeindrinks und Tequila zusammenzuschütten, während Simón allen Ernstes seinen Rucksack mit den eingeschweißten Meerschweinchen aus dem Tiefkühlfach füllte.

    »Nie wieder Eidechsensuppe!«, rief er triumphierend.

    Nach einer Weile wurden sie übermütig. Yanna und Eugenio stapelten Limonadenflaschen zu einer Pyramide auf und ließen sie durch einen gezielten Wurf mit einer Orange klirrend zusammenstürzen, so dass sich eine klebrige Flut in den Gang ergoss. Simón war auf eines der Regale geklettert und tänzelte wie ein Musicaldarsteller darauf entlang, wobei er Familienpackungen Fertigtortillas vom obersten Brett kickte.

    Sie lachten und feuerten sich gegenseitig an. Nelson und Pedro wollten ebenfalls mitmischen und stießen auf einen hohen Stapel Weizenmehlpakete. Sie rissen sie auf, bewarfen sich mit dem weißen Puder und schmissen die zerfetzten Packungen so weit wie möglich durch den Raum, so dass sie in kleinen Staubexplosionen auf den Boden prallten.

    »Zu mir, zu mir«, kam es von Simón. Irgendwo hatte er einen Besenstiel aufgetrieben und posierte nun damit wie der Schlagmann beim Baseball. Das erste Paket verfehlte er, aber das zweite traf er mit voller Wucht mitten im Flug. Es zerplatzte zu einer beeindruckenden Staubwolke. Ihr Gelächter erfüllte den Raum bei jedem Paket, das Simón traf. Pedro blinzelte, weil er schon Mehl in den Augen hatte, trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen. Er hatte das Gefühl, noch nie so viel Spaß gehabt zu haben, noch nie so sehr dazugehört zu haben wie jetzt. Von einem mehlverschmierten Gesicht zum anderen schauend, verspürte er eine tiefe Dankbarkeit für ihr Beisammensein. Er wünschte sich, der Moment würde ewig anhalten.

    Und wirklich schien sich sein Wunsch zu erfüllen. Pedro konnte deutlich sehen, wie sich die Sekundenbruchteile zu einem zähen Brei ausdehnten, als Simón, der bei seinem letzten Schlag zu beherzt ausgeholt hatte, das Regal hinter sich aus dem Gleichgewicht brachte. Pedro beobachtete, wie es allmählich ins Kippen geriet, die Konserven darin begannen, in Richtung Rand zu rutschen, während Simón mit zusammengekniffenen Augen in die Höhe schnellte. Die getroffene Mehlpackung dehnte sich derweil zu einem immer größer werdenden, fluffigen Ball aus, von dessen Oberfläche winzige Staubkometen strahlenförmig in alle Richtungen davonkrochen.

    Gebannt starrte Pedro das Staubgebilde an. Es hing wie Spinnweben in der Luft. Simón, nun mitten im Sprung, schwebte direkt daneben, das Gesicht zu einer Maske der Überraschung gefroren. Da kam Yanna hinter dem Regal hervorgeschossen, um sich in Sicherheit zu bringen, direkt unter dem festgefrorenen Mehl-Luft-Gemisch hindurch.

    Es war genau in diesem Moment, dass die Zeit entschied, wieder in ihren altbekannten Fluss zurückzukehren. Die Staubexplosion verpuffte und Simón kam keuchend mit den Füßen auf. Hinter ihm ergoss das Regal den Großteil seines Inhaltes auf den Boden, bevor es selbst mit einem ohrenbetäubenden Scheppern aufschlug.

    Erschrocken verharrten die Kinder, bis die letzte rollende Dose zur Ruhe gekommen war.

    »Das hat man bestimmt ein paar Straßen weit gehört«, flüsterte Yanna, die als Erste ihren Mut wiederfand.

    »Hast recht«, stimmte ihr Eugenio ausnahmsweise zu. »Wird Zeit für unseren Abgang.«

    Sie verschwanden hastig ins Dämmerlicht der Straße und rannten um die nächste Ecke in eine der Gassen. Hier duckten sie sich hinter eine Ansammlung von Müllcontainern und behielten den Eingang zur Seitenstraße atemlos im Auge. Alles blieb so still wie zuvor.

    Pedro fühlte sich komisch. Irgendetwas hatte dort drinnen nicht gestimmt. Konzentriert versuchte er, sich die vergangenen zwei Minuten noch einmal vor Augen zu führen. Ganz eindeutig hatte er Simón und das Regal in Zeitlupe fallen sehen. An den Rest erinnerte er sich mit detaillierter Klarheit. Er hatte Erwachsene darüber erzählen hören, dass kurze Momente einem unter gewissen Umständen tatsächlich wie Ewigkeiten erscheinen konnten. Doch Yanna hatte sich in einer normalen Geschwindigkeit bewegt. Pedro sah hilfesuchend zu seinen Freunden. Was hatten sie davon mitbekommen?

    »Äh … sagt mal, Leute«, fragte er stockend. »Habt ihr das gerade auch gesehen?«

    Die anderen wandten sich ihm überrascht zu, Eugenio guckte verständnislos. »Häh? Gesehen? Was gab es denn zu sehen?«

    Pedro wand sich innerlich, er konnte es einfach nicht erklären. »Ich weiß nicht, da drin war irgendwas … irgendwas war dort komisch.«

    Eugenio sah Yanna an, die mit den Schultern zuckte.

    »Also, ich hab keine Ahnung, was du meinst«, gestand er Pedro.

    »Aber ich«, meldete sich Simón zu Wort, »der Kleine hat recht, da drin war irgendwas verdammt komisch. Bei meinem letzten Schlag habt ihr euch alle auf einmal so schnell bewegt, dass ich euch nur noch verschwommen gesehen habe. Nur eine Sekunde lang, glaube ich, aber eingebildet hab ich mir das nicht. Ich schwör’s euch.«

    Es war etwas anderes als das, was Pedro gesehen hatte, aber dennoch machte sich Unsicherheit breit. Sie alle hatten im Supermerkado zumindest gespürt, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. »Vielleicht spukt es hier ja doch», sagte Nelson mit einer Spur von gedeihender Anspannung in der Stimme.

    »Jedenfalls muss so etwas ähnliches die ganzen Menschen in die Flucht geschlagen haben«, sagte Yanna und leistete Nelson damit unerwarteten Beistand.

    »Leute, jetzt mal ganz ruhig«, versuchte Eugenio sie zu beschwichtigen. »Am besten …«

    Weiter kam er nicht, denn Nelson deutete mit tellergroßen Augen auf irgendetwas hinter Pedro. »Leute! Leute!«, rief er mit überkippender Stimme. »Madre de Dios! Seht!«

    Pedro fuhr erschrocken herum. Nelsons Finger zeigte auf die fensterlose Rückwand des Gebäudes, in dem der Supermarkt lag. Irgendetwas rankte sich daran empor, ein Geflecht von verzweigten Strängen, die sich in Schleifen legten. Man hätte es für eine Schlingpflanze halten können, aber das war es nicht, denn es wand sich. Nein, das stimmte nicht ganz – es bewegte sich nicht nur, es floss.

    Das Gebilde bestand aus Wasser. Pedro weigerte sich einen Moment lang, es zu begreifen, aber es stimmte. Wasser, das aus einem nahen Gullydeckel quoll und die Hauswand hinauf rann, um schließlich über den Rand des Flachdaches zu tropfen und als umgekehrter Regen im Nachthimmel zu verschwinden.

    Für einen langen Moment starrten die Kinder die Erscheinung wortlos an. Das Wasser floss in einem steten Strom aus dem Gully und zielstrebig auf die Hauswand zu, an der es sich in unzählige Rinnsale aufteilte. Bisweilen trug die Flüssigkeit Fetzen von Plastikfolie und anderen Müll aus der Kanalisation mit sich. Pedro fühlte sich an den Schattenriss eines Baumes ohne Blätter erinnert.

    Und da hörte es einfach auf. Von einem Moment zum anderen verlor das Wasser seinen unheiligen Drang, zu fliegen. Die Äste des Baumes verwischten zu den Zweigen einer Weide, bevor sich das Abwasser als gräulich-trüber Film über die ganze Wand legte. Aus dem Gully drang ein Gurgeln, als der Rückfluss wieder dorthin verschwand, woher er gekommen war.

    »Nelson, mein Freund, ich muss dir zustimmen.« Eugenio klang gönnerhaft.

    Pedro hörte jemanden neben sich murmeln. Nelson hatte sein Kruzifix unter dem T-Shirt hervorgeholt und schickte ein leises Stoßgebet zum Himmel.

    »Komm, das hilft jetzt auch nicht«, fuhr ihn Simón nervös an und wollte ihm das Kreuz aus der Hand schlagen, aber Nelson wehrte ihn mit ungewohnter Heftigkeit ab.

    »Pfoten weg, du ungläubiger Arsch!«, fuhr er ihn an. »Ich hab’s euch doch gesagt, es spukt!«

    »Okay Nelson, jetzt hör auf zu spinnen, das …«, fing Eugenio an. Yanna fiel ihm ins Wort.

    »Lass ihn«, zischte sie. »Er hat doch recht! Wie willst du das gerade sonst erklären?«

    »Keine Ahnung«, antwortete der Ältere entnervt. »Ja okay, das war ziemlich kranker Scheiß, aber ich hab hier noch keine toten Großmütterchen herumfliegen sehen …«

    »Noch nicht!«, schnappte Nelson aufmüpfig, bevor er erneut das Ave Maria rezitierte.

    »… ich denke jedenfalls, wir sollten auf dem Boden bleiben und uns in Ruhe überlegen, was wir als nächstes machen«, beendete Eugenio seinen Satz.

    »Wir werden jetzt so schnell wie möglich verschwinden, das werden wir machen«, bestimmte Yanna. Es klang nicht, als würde sie noch Widerworte akzeptieren.

    Natürlich gefiel Eugenio ihr Ton nicht. »Jetzt komm aber, seit wann lässt du dich denn so leicht beeindrucken? Glaubst du jetzt etwa auch an diesen Geisterblödsinn?«

    »Dann waren es eben keine Geister«, entgegnete sie. »Sondern die alten Inkas oder die Aliens aus dem Fernsehen oder irgendwelche irren Wissenschaftler, die hier fiese Experimente veranstaltet haben. Aber etwas stimmt hier ganz und gar nicht!«

    »Schon klar, aber das ist doch noch kein Grund, Panik zu schieben. Ich meine, jetzt im Ernst, war das nicht unglaublich? Denkt doch mal darüber nach, was wir gerade gesehen haben. Das ist wirklich passiert!« Er grinste begeistert. Sein Lächeln erstarb, als er sah, dass die anderen sich nicht annähernd so sehr darüber freuten. »Jetzt kommt mal, Leute, wir hatten doch noch was vor! Plündern? Simón, lass mich jetzt nicht im Stich …«, schmeichelte er, doch selbst Simón saß der Schreck zu tief in den Knochen, als dass ihn die Aussicht auf Beute noch hätte locken können.

    Als letzten Strohhalm wandte sich Eugenio seinem ergebensten Anhänger zu. Innerlich musste Pedro sich wirklich schwer beherrschen, schüttelte aber ebenfalls ängstlich den Kopf. Eugenio ließ die Arme sinken. Als guter Anführer wusste er, wann er sich dem Willen seiner Bande beugen musste. »Alles klar«, seufzte er. »Okay. Gehen wir. Gehen wir einfach wieder den Weg zurück, den wir gekommen sind.«

    Sie setzten sich in Bewegung, deutlich langsamer und vorsichtiger als auf dem Hinweg. Alle hielten aufmerksam Ausschau, obwohl keiner wusste, wonach überhaupt. Pedros Anspannung legte sich nicht. Ganz im Gegenteil: Seit sie losgegangen waren, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden. Er lauschte angestrengt auf fremde Schritte oder andere Geräusche, doch er hörte nichts als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Es gab keinen Verfolger, und doch rückte ihnen jemand auf die Pelle. Gerade wollte er die anderen fragen, ob sie nicht ein ähnliches Gefühl hatten, als Eugenio plötzlich aufgeregt auf etwas zeigte. »Da! Seht euch das an, es geht wieder los!«

    Pedro konnte nicht gleich erkennen, was er meinte. Etwas bewegte sich auf einem Stück festgetrampelter Erde vor der Veranda eines Mehrfamilienhauses, so dass Pedro naturgemäß an ein Tier denken musste. Doch damit lag er falsch, denn es war nur eine Pflanze – eine Pflanze, die in rasender Geschwindigkeit wuchs.

    Zögernd näherten sie sich. Wieder zog sie ein Phänomen, das allen Naturgesetzen spottete, so in seinen Bann, dass sie nichts taten, als schweigend zuzusehen. Mit leisem Rascheln stemmte sich die Pflanze höher aus dem Boden, entfaltete ihre Blätter und streckte ihre Zweige aus, während sie in kreisenden Bewegungen nach Sonnenlicht suchte. Innerhalb von zwei Minuten war sie von einem kleinen Sprössling zu einem niedrigen Busch von einem halben Meter Höhe herangewachsen. Zum Schluss sprangen kleine rote Blüten auf wie das Popcorn in einer Pfanne.

    Eugenio pfiff leise durch die Zähne. »Also, wenn ich das meinem Onkel Gustavo erzähle … der könnte so einen Dünger gut für seine Haschplantage gebrauchen. Und wir nennen es …« Er hockte sich hin und streckte die Hand nach der Pflanze aus. »Megarijuana!«

    »Nicht!«, zischte Yanna warnend.

    Aber Eugenio hörte nicht zu und streckte den Zeigefinger nach einem der kreisenden Blätter aus. Sein Finger hatte die Pflanze noch nicht einmal berührt, als plötzlich sein abgekauter Fingernagel anfing, sich über den Finger hinauszuschieben.

    Nelson keuchte erschrocken, alle wichen einen Schritt zurück. Auch Eugenio zuckte und zog die Hand weg, als hätte er sich verbrannt. Es hatte nur zwei Sekunden gedauert, aber diese hatten gereicht, um Eugenios Fingernagel zu einer stattlichen Kralle heranwachsen zu lassen. Er sah aus wie die Klaue einer alten, reichen Frau. Eugenio glotzte seinen erhobenen Zeigefinger mit einem derart dämlichen Gesichtsausdruck an, dass Yanna und die anderen lachen mussten. Nach einem Moment der Verunsicherung lachte auch Eugenio.

    Theatralisch fuchtelte er mit seiner Klaue vor ihren Gesichtern herum. »Hört bloß auf, sonst schlitze ich euch die Kehlen auf, und dafür brauche ich nicht mal ein Messer«, rief er in gespieltem Zorn. Hinter ihnen hatte die Pflanze ihr Wachstum inzwischen eingestellt. Ihre Blätter wurden erst gelb, dann braun, schließlich verdorrten sie und fielen zu Boden. Zurück blieb nur ein vertrockneter Stängel, der aus dem Boden ragte.

    »Leute«, verkündete Eugenio feierlich. »Ich glaube, wir sind nicht mehr in Kansas.«

    Pedro hatte zwar keine Ahnung, wo Kansas lag und was der Ältere damit meinte, aber ihr Gelächter hatte die Anspannung zumindest etwas gelöst. Auch das Nagen in seinen Eingeweiden und der Eindruck, beobachtet zu werden, hatten sich verflüchtigt.

    »Kommt, gehen wir weiter«, mahnte Yanna dennoch zum Aufbruch.

    Doch sie kamen nicht weit. Ebenso wenig waren sie auf das vorbereitet, was sie hinter der nächsten Straßenbiegung erwartete, selbst nach allem, was sie in dieser Nacht bereits gesehen hatten. Simón prallte zurück und bedeutete den anderen, stehen zu bleiben.

    Auf einer Länge von mehreren Dutzend Metern hingen Müll und Gegenstände schwerelos über der Straße. Wolken von Kieselsteinen, die sich aus dem Straßenpflaster gelöst hatten, schwebten regungslos über dem Boden. Stühle und andere Möbel drifteten wie von Geisterhand getragen umher. Sogar ein Pickup-Truck drehte sich langsam um eine schiefe Achse. Aus den Fenstern der Häuser hingen Elektrogeräte aller Art, die wie Hunde an ihren Kabeln zu zerren schienen.

    »Zum Teufel, was ist hier nur los?«, hörte Pedro Simón leise vor sich hin murmeln.

    »Vielleicht sollten wir uns einen anderen Weg suchen«, schlug Yanna mit einer Abgebrühtheit vor, die Pedro plättete. Sie sah sich bereits nach einer Alternativroute um, doch dieses Mal spielte Eugenio nicht mit.

    »Warum denn?«, fragte er trotzig. »Der Weg ist doch frei. Was stört uns etwas harmloses Zeug, das über unseren Köpfen herumfliegt?«

    »Du hast doch einen Knall«, antwortete Yanna genervt. »Hast du nicht gesehen, was beim letzten Mal passiert ist, als du dieser Pflanze zu nahe gekommen bist?«

    »Na und, das war doch etwas vollkommen anderes«, meinte Eugenio ungerührt. »Das war eine schnell wachsende Pflanze – hier haben wir fliegende Sofas. Ich sehe da keine Verbindung.« Und mit diesen Worten ging er geradewegs auf den Bereich des schwerelos erscheinenden Trümmerfeldes zu. Keiner der anderen wagte es, ihm zu folgen. Sie sahen ihm nach und hielten gespannt die Luft an.

    Was als nächstes geschah, überraschte niemanden mehr, noch nicht einmal Eugenio: Kaum hatte er den Bereich der schwebenden Gegenstände erreicht, schien er das Gleichgewicht zu verlieren. Er ruderte mit den Armen und fiel hintenüber, doch er fiel nicht zu Boden – stattdessen trug der Schwung seiner Füße seine Beine in die Luft, bis er sich gemächlich überschlagend in die Lüfte erhob, ein Heliumballon in Form eines Jungen.

    Fluchend stürzten seine Freunde so nah an den Bereich der Schwerelosigkeit heran, wie sie es sich zutrauten. Dennoch konnten sie von dort aus nur hilflos dabei zu sehen, wie Eugenio trudelnd immer weiter aufstieg. Pedro sah, wie der Ältere sich an einen Kühlschrank klammern wollte, doch keinen sicheren Halt fand. Inzwischen war er bereits auf die Höhe des zweiten Stockwerks der angrenzenden Häuser angelangt.

    »Verdammt, irgendwie müssen wir ihn wieder runterbekommen«, rief Nelson.

    »Fragt sich nur, ob er überhaupt runterkommen will«, merkte Simón an. Denn Eugenio schien ihre Sorgen um sein Wohl nur bedingt zu teilen: Während er langsam durch das schwebende Trümmerfeld trieb, lachte er laut und ausdauernd.

    »Leute«, rief er ihnen von oben herab zu, »ich sag euch, das ist der Oberhammer!«

    »Wir brauchen ein Seil«, schlug Pedro vor, nur um festzustellen, dass Yanna ihm schon einen Schritt voraus war. Aus einem Vorgarten in der Nähe hatte sie eine Wäscheleine herbeigeschafft, an der noch ein paar Wäscheklammern und Unterhosen hingen. Sie war bestimmt zwanzig Meter lang, und trotzdem hatte Pedro Zweifel, dass sie Eugenio damit erreichen konnten. Dann aber gelang es Eugenio, sich an dem fliegenden Pick-Up-Truck abzustoßen und so wieder in ihre Richtung zu treiben, während der Truck sich mit kriechender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung bewegte. »Worauf wartet ihr denn? Na los, rettet mich, meine Bodentruppen!«, rief er wieder, immer noch lachend.

    Simón übernahm das Werfen, doch die ersten Würfe gingen daneben, weil das Seil nicht ausreichend gehorchte. Es stoppte auf halbem Weg zu Eugenio und bildete ein Gewirr sich ausbreitender Schlaufen. Erst als sie ein Ende mit einem alten Fahrradlenker beschwerten, gelang es Simón, den Flug einigermaßen zu kon­trollieren. Wieder ging ein Versuch daneben, weil Eugenio gerade auf dem Kopf schwebte und von dem festgebundenen Lenker im Kreuz getroffen wurde. Doch auch das konnte seine gute Laune kaum mindern. Beim nächsten Versuch bekam er die Metallstange schließlich zu fassen. Vorsichtig zogen sie ihn zu sich. Als Eugenio sich etwa in Augenhöhe befand, fiel er übergangslos hinunter und landete schmerzhaft auf seiner Schulter. Dennoch stand ihm ein Ausdruck unbändiger Freude ins Gesicht geschrieben.

    Die Kinder

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