Wohin mit dem Atommüll?: Das nukleare Abenteuer und seine Folgen - Ein Tatsachenbericht
By Marcos Buser
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Marcos Buser kennt den Prozess der Endlagersuche aus dem Inneren. Er war vier Jahre lang Mitglied der Kommission für nukleare Sicherheit in der Schweiz – bis er aus Protest zurücktrat. Seine Kritik: Die Leitplanken bei der Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle sind entlang der Interessen der Atomwirtschaft abgesteckt. Die Politik trabt hinterher. Aber kann und darf die Industrie eine Verantwortung übernehmen, die sich über Jahrtausende erstreckt? Marcos Buser sagt klar: Nein.
Dieses Buch beleuchtet die Geschichte der Atomenergie international und in der Schweiz: das große, utopische Versprechen und das böse Erwachen angesichts des ungelösten Entsorgungsproblems. Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung schöpfend, schildert Marcos Buser die Mechanismen der Atompolitik, die Einflussnahme der Industrie – und den Umgang mit Kritik und Warnungen. Nicht zuletzt plädiert er für eine neue Debattenkultur – eine, die Risiken offen ins Gesicht schaut, anstatt sie unter den Teppich zu kehren.
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Book preview
Wohin mit dem Atommüll? - Marcos Buser
Marcos Buser
Wohin mit dem
Atommüll?
Das nukleare Abenteuer
und seine Folgen
Ein Tatsachenbericht
Das Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung von
SES Schweizerische Energie-Stiftung
IPPNW Schweiz
AKW-nein.ch
MNA
Der Verlag bedankt sich hierfür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2019 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlag: Patrizia Grab
eISBN 978-3-85869-832-2
1. Auflage 2019
Inhalt
Vorwort
1Atomic dreams, atomic nightmares
Der Rahmen der Handlung
Aufbruch
Atoms for war, atoms for peace, atoms for … everybody!
Ärgerliche Hindernisse
Die atomaren Utopien verblassen
Widerspruch!
2Die atomare Schweiz
Ein trügerisches Vorbild
Der Einstieg ins nukleare Zeitalter
Problematische Strukturen, bedenkliche Methoden
Der vergessene atomare Abfall
Erfolgszwang Sachplan
Ein Fehlstart in die Gewissheit
Die Gräben werden sichtbar
Ein Schwindel …
… mit absehbarem Ende
Ein kleine Schlussbilanz des nuklearen Abenteuers in der Schweiz
3Vom anspruchsvollen Umgang mit unangenehmen Erkenntnissen
Schlussbetrachtung
Anhang
Anmerkungen
Wichtigste schweizerische Akteure und Institutionen
Quellen
Vorwort
Am 14. Juni 2012 trat ich aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit zurück. Unter Protest. Nach viereinhalb Jahren Zugehörigkeit. Meinem Rücktritt ging ein knapp einjähriges inneres Ringen voraus, während dessen ich nach Auswegen und Lösungen aus einer für mich unhaltbar gewordenen Situation gesucht hatte. Wenn ein Experte aus einem Gremium zurücktritt, das ihm weit über Fachkreise hinaus sowohl im In- wie Ausland Ansehen und Respekt verschafft, muss ein ernster Grund vorliegen, zumal, wenn der Schritt unter Protest geschieht. In meinem Fall war dieser Grund das, was in der Schweiz gern als »Filz« bezeichnet wird: ein System, das persönlich eng verknüpft im Hintergrund zusammenspannt und zusammenarbeitet und das die Bedingungen und Voraussetzungen nicht gewährleistet für einen interessenunabhängigen und sachgerechten Umgang mit einem der gefährlichsten Güter, das die Menschheit bisher hergestellt hat: radioaktive Abfälle.
Auf meinen Rücktritt folgten monate-, ja jahrelange Berichterstattungen in den Medien. Knapp ein Jahr nach meinem Ausscheiden aus der Kommission eröffnete die Schweizer Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen Verletzung der amtlichen Schweigepflicht gegen meinen Informanten und mich. Die Atomaufsicht und die Entsorgungsorganisation der Atomkraftwerkbetreiber waren zuvor mithilfe von zwei Untersuchungsberichten – so gut das überhaupt noch möglich war – »reingewaschen« worden. Ein Systemwechsel fand jedoch nicht statt. Die verantwortlichen Instanzen hielten an der seit Jahrzehnten bewährten Aufgabenteilung fest: Die Atomwirtschaft zog die Fäden wie bisher aus dem Hintergrund, die Aufsicht trabte brav hintendrein, die Kommissionen nickten die Entscheide verlässlich ab, die verfahrensleitenden Stellen auf Bundesebene sorgten für die politischen Mehrheiten. Wie erwartet blieben die Probleme bestehen oder mehrten sich sogar.
Wohin mit dem Atommüll? Die Suche nach einem Standort für atomare Endlager schleppt sich seit bald fünf Jahrzehnten dahin. Die Rückschläge wiederholen sich. Die Verzögerungen nehmen kein Ende. Mit der Zwischenlagerung des hochgefährlichen Abfallguts verschieben die verantwortlichen Stellen die Probleme in die Zukunft. Auf unzählige Generationen. Nicht nur in der Schweiz. Auch nicht nur in Deutschland. Sondern in allen kernenergienutzenden Staaten der Welt. Deswegen schweigen sich die verantwortlichen Institutionen und Experten über unbequeme Wahrheiten aus. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus offiziellen Kreisen kommt kaum Einspruch gegen diese unhaltbaren Zustände. Man schweigt zu diesen Sachverhalten und macht weiter wie bisher. Im Glauben, es werde sich schon einmal eine Lösung über den bisher verfolgten Pfad finden lassen.
Wie es in Industrieländern mit demokratischen Systemen überhaupt möglich ist, dass Institutionen, die die Kontrolle über Hochrisikobereiche ausüben müssten, in eine derartige Abhängigkeit von Interessensgruppen geraten, wird in diesem Buch beschrieben. In einem ersten Teil wird der Rahmen der Handlung kurz umrissen und die bisherige Geschichte der nuklearen Expansion in einem großen, internationalen Bogen beleuchtet. Zu dieser Geschichte gehören die überrissenen Hoffnungen einer Gesellschaft in ein goldenes Zeitalter, die nukleare Aufrüstung und die Expansion der friedlichen Nutzung der Atomenergie wie auch die Misserfolge bei der Bewältigung der anstehenden Probleme. Dazu gehört auch die systematische Unterdrückung von Warnungen und Kritik durch Wissenschaftler aus den eigenen Reihen.
Diesem historischen Überblick über das internationale Geschehen folgt der zweite Teil des Buchs, der sich der Geschichte der Atomenergie in der Schweiz im Allgemeinen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle im Speziellen annimmt. Das reichhaltige Material, das vier Jahrzehnten eigener Erfahrungen und der Auswertung einer umfangreichen wissenschaftlichen Literatur entspringt, beschreibt den Umgang des politischen Systems mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle und die Illusionen einer schnellen Lösung. Es zeigt die Methoden, die bei der Abwehr eines wissenschaftlich offenen Diskurses zur Anwendung kommen, insbesondere im Rahmen des gegenwärtig laufenden Standortsuchverfahrens für geologische Tiefenlager. Schließlich thematisiert dieser zweite Teil die verdrängten Probleme im Umgang mit dem radioaktiven Legat, die nun zunehmend sichtbar werden.
Im einem kurzen dritten Teil des Buchs wird schließlich das Vorgehen der mächtigen Institutionen im Bereich der Nuklearindustrie reflektiert. Es werden Mechanismen aufgezeigt, wie diese Durchsetzung konkret strukturiert ist und wie die Steuerung eines solchen Systems erfolgt. Diese Schlussbetrachtung endet mit einer kleinen Analyse über die erforderlichen Reformen, die eingeleitet werden müssten, um bei der Bewältigung der ungelösten Probleme vorwärtszukommen.
Dieses Buch will erklären. Es will in erster Linie Mechanismen aufzeigen und Missstände benennen und gilt nur in zweiter Linie den Personen, die darin verwickelt sind. Denn diese sind austauschbar und spielen nur die untergeordnete Rolle von »Zähnen und Rädern«¹ in einer großen institutionellen Maschinerie. Es geht um grundlegende Fragen der Organisation von Sicherheit von Hochrisikoanlagen, um systemische Mängel und um Fehlfunktionen, die von einer Gesellschaft und ihren politisch verantwortlichen Institutionen bedacht und anders beantwortet werden müssten. In diesem Sinne ist dieses Buch auch als Zeitdokument zu verstehen; es soll auch künftigen Leserinnen und Lesern einen Blick in die Dunkelkammern von Machtsystemen und die Kultur des copinage unserer Zeit ermöglichen – als Gegenpol zu offenen Systemen mit funktionierender Auf-Sicht.
Mein Dank gilt nicht nur jenen, die den Prozess wie auch die Niederschrift dieses Buchs begleitet und mich dabei unterstützt haben. Es waren ihrer sehr viele, und ihre Einwände und Beiträge waren richtig und wichtig. Auf diese Weise gewinnt eine Schrift auch an Klarheit. Es gilt an dieser Stelle aber auch, vielen anderen Personen meinen Dank auszusprechen, Menschen, die mir in gewiss nicht einfachen Jahren vor und besonders nach dem Rücktritt aus der Kommission zur Seite standen. Auch einige wenige Leute innerhalb der zuständigen Institutionen ließen sich durch die Verleumdungskampagnen und die Repression, die gegen mich aufgezogen wurde, nicht beirren. Ihnen gebührt dafür ebenfalls meine Wertschätzung und mein Dank. Zahlreiche andere Personen aus Institutionen wie auch betroffene Menschen sprachen mir ihre Anerkennung für das beherzte Vorgehen aus, für meine Unabhängigkeit und mein Engagement in der Sache. Ihnen allen – nahen, bekannten wie auch unbekannten Menschen –, möchte ich für diese Unterstützung an dieser Stelle ganz besonders danken.
Zürich, im Januar 2019
Marcos Buser
1
Atomic dreams,
atomic nightmares
Der Rahmen der Handlung
1
Aufbruch
Ideen sind Wegbereiter der Zukunft. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Ideen.² Und auch von gescheiterten Entwürfen. Oft ist der Weg zu einer Erkenntnis beschwerlich, lang, mitunter auch widersprüchlich und unvorhersehbar. Manche Ideen überleben sich auch, werden durch neue Vorstellungen abgelöst und versinken in der Zeit.
Dieser Entwicklungsverlauf gilt auch für die Atomenergie. An ihrem Anfang steht ein tolldreister Gedanke – »moonshine«³ werden führende Forscher diese Fiktion später nennen⁴ –, der Wissenschaft, Medien und Gesellschaft beflügelt und in einen leidenschaftlichen Rausch versetzt, aber auch Bangen angesichts der daraus erwachsenden Gefahren auslöst. Wir schreiben den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Länder Europas und Nordamerikas befinden sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Wissenschaft und Technik schreiten mit Siebenmeilenstiefeln voran und pflügen das Antlitz der Nationen und der großen Metropolen um.⁵ Die Elektrifizierung hält im Großmaßstab Einzug. Ein dichtes neues Netz von Bahn- und Straßeninfrastruktur durchzieht die Kontinente. Die Zeit pulsiert. Und mit ihr die Gesellschaft. Der spürbare Fortschritt treibt die Erwartungen an künftige Entwicklungen in ungeahnte Höhen. Sehnsüchte nach einer besseren Welt keimen wieder auf und lassen ein neues goldenes Zeitalter erwarten, wie der französische Historiker Georges Minois die utopisch-prophetische Stimmung dieser Epoche nachzeichnet: »Jeder spricht von Zukunft, und fast jeder sieht ihr mit Zuversicht entgegen.«⁶
In diese Zeit fiebriger Hoffnungen fällt auch die Entdeckung der Radioaktivität. Das geheimnisvolle Leuchten des Radiums im Dunkeln fasziniert Wissenschaft wie auch Publikum. Seinen Eigenschaften werden magische Heilkräfte zugeschrieben, die zu einer Vielzahl von Irrungen verleiten. So sollen etwa Radiumpräparate, die vor die Augen oder an den Hinterkopf gehalten werden und auf diese Weise das Auge mit Helligkeit erfüllen, Blinden das Augenlicht wieder geben.⁷ Der 1902 nachgewiesene spontane Zerfall von Uranium und Thorium lässt von der Umwandlung unedler Metalle zu Gold träumen. Ein neuer Alchemist betritt als Radiochemiker die Weltbühne. Einer der ersten Wissenschaftler, der diesem geheimnisvollen Zauber verfällt, ist der britische Chemiker Frederic Soddy, der an der Universität in Glasgow forscht und lehrt. Er und sein Mentor, der Physiker Ernest Rutherford, sind wichtige Träger der nun beginnenden Glorifizierung der neu entdeckten Radioaktivität. Vor allem Soddy entwirft überwältigende Visionen für die Menschheit, die den zahlreichen paradiesischen Fiktionen der Vergangenheit in nichts nahestehen.⁸ In einem Vorlesungsmanuskript, das 1909 in Buchform erscheint, greift er eine Utopie des Dichters Percy Bysshe Shelley auf, der in seinem Gedicht »Feenkönigin Mab« eine paradiesische Zukunft für die menschliche Rasse entworfen hat: »Eine Gattung, die Materie transmutieren kann, wird es kaum notwendig haben, ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts zu erwirtschaften. Aus der Sicht dessen, was unsere Ingenieure mit einer vergleichsweise beschränkten Energieversorgung vollbringen, können wir uns vorstellen, wie eine solche Gattung das Festland der Wüsten umwandelt, die vereisten Pole auftaut und aus der ganzen Erde einen leuchtenden Garten Eden macht.«⁹
Auch der Biologe, Historiker und Schriftsteller Herbert George Wells, Autor berühmter utopischer Wissenschaftsromane wie Die Zeitmaschine oder Die Insel des Dr. Moreau, macht sich Gedanken zur Menschheitsentwicklung und zum technischen Fortschritt. Die Entdeckungen auf den aufstrebenden Gebieten der Radiologie und der Atomphysik verfolgt er eng. Soddys Buch über Die Interpretation des Radiums und die Struktur des Atoms, das er 1909 liest,¹⁰ steht Pate für seinen neuen Roman Befreite Welt, der 1914 erscheint und eine seltsam anmutende kryptische Widmung enthält: »Frederick Soddys ›Interpretation des Radiums‹ gewidmet. Dieser Roman, welcher dem elften Kapitel seines Buchs lange Passagen verdankt, anerkennt dessen Verdienst und schreibt [dessen Gedanken; MB] fort.«¹¹ Wells beschreibt in diesem prophetischen Roman die Entdeckung und industrielle Nutzung der Atomkraft, die Entwicklung und Herstellung von Atombomben wie auch den ersten Atomkrieg, bei dem praktisch alle großen Städte der Welt durch atomare Bombenkraft zerstört werden. Die menschliche Gesellschaft wird danach, so der Roman, von Grund auf umgepflügt. Eine Weltregierung nimmt ihre Arbeit auf. Ein neues Zeitalter entsteht, das die bisherige Ordnung hinter sich lässt. Wells legt zu Beginn der Geschichte einem Physikprofessor namens Rufus die Vision dieser neuen Ära in den Mund, die den Beschreibungen im elften Kapitel von Soddys Buch verblüffend ähnelt: »Dann wird dieser ständige Existenzkampf, dieses stete Ringen, von dem zu leben, was die Natur von sich aus gibt, nicht mehr das Los der Menschen sein. Der Gipfel dieser Zivilisation wird die Wurzel der nächsten sein. Ich habe nicht die Rednergabe, meine Damen und Herren, um der Vision des zukünftigen Wohlstandes der Menschheit Ausdruck zu verleihen. Ich sehe, wie die Wüsten fruchtbar werden, wie das Eis der Pole schwindet und die ganze Erde zu einem Paradies wird. Ich sehe, wie sich die Macht des Menschen bis zu den Sternen erstreckt …«¹² Der amerikanische Historiker Richard Rhodes wird in seinem Standardwerk Die Atombombe zu diesem mehrfachen Gedankentransfer feststellen: »Rutherfords und Soddys Diskussionen über radioaktive Umwandlungen inspirierten also jenen Science-Fiction-Roman, der schließlich Leo Szilard dazu bewegte, über Kettenreaktion und Atombomben nachzudenken.«¹³ Jahrzehnte später wird dieser Satz – »Ich sehe, wie die Wüsten fruchtbar werden, wie das Eis der Pole schwindet und die ganze Erde zu einem Paradies wird« – zu einem Bekenntnis der aufstrebenden friedlichen Nutzung der Kernenergie werden, das weltweit in unzähligen Variationen und Sprachen kolportiert werden wird.
Wells’ Vision hinterlässt auch in der damaligen Wissenschaftsgemeinde tiefe Spuren. Frederic Soddy, der inzwischen den Nobelpreis für Chemie im Jahr 1921 erhalten hat, wird sich später besorgt über das militärische Zerstörungsvermögen der Atomenergie und die Unvernunft der Nationen zeigen.¹⁴ Aber die Entwicklung geht nun ungehindert weiter. Schon 1933 kommt es zum nächsten Ruck in der Erkenntnis um die Kettenreaktion. Leo Szilard, der bedeutende ungarische Atomphysiker, der Wells seit 1929 auch persönlich kennt und dessen Ansichten er oft als deckungsgleich betrachtet,¹⁵ wird die praktische Machbarkeit der Kernspaltung im September 1933 als erster Physiker überhaupt erkennen. An einer Ampel in London. Schlagartig. Dann vergehen weitere fünf Jahre. Einen Monat nach den Novemberpogromen 1938, die die systematische Verfolgung der Juden in Deutschland einleiten, finden die bahnbrechenden Experimente der deutschen Physiker Otto Hahn und Fritz Strassmann in Berlin-Dahlem statt.¹⁶ Bis zur richtigen Deutung der Experimente durch ihre in Schweden weilende jüdische Kollegin Lise Meitner und deren Neffen Otto Frisch vergehen noch zwei Wochen, doch Anfang des Jahres 1939 beginnt die Welt der Physiker – und mit ihr auch jene der Politiker – die Existenz der Kettenreaktion mit unglaublichem Staunen zur Kenntnis zu nehmen.¹⁷ Das »Kettenreaktionsfieber« bricht aus; so wird der spätere Vater der Wasserstoffbombe, Edward Teller, das Treiben der Physiker in den ersten Monaten des Jahres 1939 bezeichnen.¹⁸ In der entscheidenden Entwicklungszeit der Kernspaltung zwischen dem 17. Dezember 1938 und dem ersten Halbjahr 1939 werden sich Wells’ Vorhersagen – wie Szilard feststellt – bewahrheiten.¹⁹
Dann, im September 1939, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Getrieben von der Furcht, Hitlers Deutschland könne in den Besitz der Bombe kommen, lässt sich die amerikanische Regierung 1942 in einem Kraftakt sondergleichen auf den Bau der Bombe ein.²⁰ Innerhalb von gerade nur zweieinhalb Jahren schafft sie das scheinbar Unmögliche: den erfolgreichen ersten Test der neuen Waffe und den doppelten Abwurf der Bomben über Japan.²¹ Man schreibt August 1945. Wells’ Vision wird innerhalb von nur wenigen Jahren zur Wirklichkeit.
Bezeichnend für das unter dem Code-Namen »Manhattan-Projekt« erfolgreich durchgeführte Projekt ist die höchste Geheimhaltung, der es von Anfang an untersteht. Nur eine kleine Minderheit unter den vielen hunderttausend am Projekt Beteiligten – mehrheitlich führende Politiker, hohe Offiziere sowie leitende Wissenschaftler und Unternehmer – weiß tatsächlich, worum es geht.²² Von Beginn an binden die amerikanischen Militärbehörden, unter deren Schirmherrschaft das Projekt steht, die Industrie und deren Knowhow ein.²³ Ohne diese Unterstützung ist dieses mit gewaltigen staatlichen Mitteln angestoßene Großprojekt nicht zu bewältigen. Der militärisch-industrielle Komplex, wie er später häufig genannt wird,²⁴ ist sozusagen Garant für den Erfolg der Unternehmung. Geheimhaltung, Tarnung und Täuschungsräderwerk aber, die diesem Programm zugrundeliegen,²⁵ vererben sich auf die nachfolgende industrielle Tätigkeit und setzen sich später ungehindert in allen Atomprogrammen der Welt fort. Der Mechanismus ist installiert, dem alle militärischen und später auch staatlichen Institutionen unabhängig von ihrer politischen Schattierung folgen werden.
Nach zwei Weltkriegen, einer dazwischenliegenden globalen Wirtschaftskrise und insgesamt drei Jahrzehnten Krieg, Elend, Not und Zerstörung sehnen sich die Menschen nach Frieden und Wohlergehen. Die friedliche Nutzung der Atomenergie steht für Fortschritt, für Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung, für Prosperität und Wohlstand – und wird von führenden Politikern bewusst in den Gegensatz zur militärischen Bedrohung gesetzt, die durch die Atombomben sichtbar geworden ist. So verfallen die durch den Krieg ausgelaugten Länder der atomaren Verheißung, die an vorderster Front auch von Wissenschaftlern propagiert wird.²⁶ Es herrschen »millenaristische« Aufbruchstimmung und zugleich apokalyptische Furcht, die mit der Aufrüstung zu militärischen Zwecken Hand in Hand gehen.²⁷ Wells’ Bilder der blühenden Wüsten und der eisfreien Pole sind allgegenwärtig. »Eine fixe Idee gerade auch ›linker‹ Atomzeitalter-Visionen war der Traum von der Wüstenbewässerung und Erwärmung der Polargebiete durch Kernenergie«, fasst der deutsche Historiker Joachim Radkau einen Aspekt der damaligen Stimmung zusammen.²⁸ Das Bild der antarktischen »Riviera« ist weit verbreitet, und selbst Intellektuelle vom Format des deutschen Philosophen Ernst Bloch feiern das sich ankündigende Atomzeitalter mit kindlicher Naivität.²⁹ »Gigant Atom«³⁰ betritt die Weltbühne. Die »atomare Revolution« bedient alle gängigen Clichés, vom »Zauberlehrling« über den »neuen Prometheus« bis hin zum »Master of the