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Kuckuckssohn. Roman: Eine turbulente Familiengeschichte um heimliche Liebschaften und den unverhofft aufgetauchten schwedischen Erben eines Spielzeugfabrikanten in Schwäbisch Gmünd
Kuckuckssohn. Roman: Eine turbulente Familiengeschichte um heimliche Liebschaften und den unverhofft aufgetauchten schwedischen Erben eines Spielzeugfabrikanten in Schwäbisch Gmünd
Kuckuckssohn. Roman: Eine turbulente Familiengeschichte um heimliche Liebschaften und den unverhofft aufgetauchten schwedischen Erben eines Spielzeugfabrikanten in Schwäbisch Gmünd
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Kuckuckssohn. Roman: Eine turbulente Familiengeschichte um heimliche Liebschaften und den unverhofft aufgetauchten schwedischen Erben eines Spielzeugfabrikanten in Schwäbisch Gmünd

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Der Tod des Patriarchen einer schwäbischen Spielzeugfabrik wird zum Auslöser für heftige Erbstreitigkeiten und führt zur Aufdeckung lange zurückliegender Familiengeheimnisse, deren Spur bis nach Schweden führt. Ein überraschend aufgetauchter unehelicher Sohn sorgt für Gefühlsverwirrungen und spaltet die Familie, die in ihren Grundfesten erschüttert wird. Doch eine solch tiefe Krise bietet zugleich auch die Chance auf einen Neuanfang.
LanguageDeutsch
Release dateApr 5, 2019
ISBN9783842518438
Kuckuckssohn. Roman: Eine turbulente Familiengeschichte um heimliche Liebschaften und den unverhofft aufgetauchten schwedischen Erben eines Spielzeugfabrikanten in Schwäbisch Gmünd

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    Kuckuckssohn. Roman - Simone Dorra

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    ABSCHIED NEHMEN

    Als Elisabeth Gebhard am Morgen des 20. Februar aus dem Fenster schaute, seufzte sie unwillkürlich vor Erleichterung. Es war kalt, aber am Himmel stand nicht eine einzige Wolke. Kein Begräbnis im Regen – gottlob.

    Sie sah dem Tag entgegen wie einem anspruchsvollen Hindernisparcours, der sich nur mit einer ausgefeilten Strategie bewältigen ließ. Der Beerdigungsunternehmer würde alle Blumen und Kränze, die versehentlich hier an der Villa auf dem Kaffeeberg in Schwäbisch Gmünd abgeliefert wurden, rechtzeitig zum Dreifaltigkeitsfriedhof schaffen und dort um den schlichten Eichensarg herum dekorieren. Die Feier begann offiziell um zwölf, mit einem festgelegten Programm. Zwei Lieder des Chores, in dem Traugott Gebhard dreißig Jahre lang Bass gesungen hatte, und zwei Choräle, in die die Trauergemeinde einstimmen konnte … alles von Johann Sebastian Bach. Elisabeths Schwiegervater hatte die Musik des Thomaskantors aus Leipzig sehr geliebt. Hasch du dir amol seine Kantate a’ghört?, hatte er einmal zu Elisabeth gesagt. Die sen wie so a hoch komplizierte mathematische Formel, und am Ende goht älles uff. Großartig isch des.

    Elisabeth wurde jäh klar, dass sie nie wieder abends in Traugotts Arbeitszimmer gehen würde, um mit ihm zusammenzusitzen und bei einem Glas Rotwein mit ihm zu plaudern, während im Hintergrund das Präludium für Cello in G-Dur von Bach leise aus den Lautsprechern seiner Stereoanlage kam. Dieses Stück hatte er in den vergangenen Wochen immer wieder gehört … als wäre es die Antwort auf eine Frage, die nur er allein kannte. Und sie hätte sehr gern gewusst, welche Frage das gewesen war.

    »Lisa, bist du hier?«

    Markus. Ihr Mann war schon vor einer halben Stunde aufgestanden. Normalerweise ließ er sich mehr Zeit; aber dies war kein normaler Tag.

    »Ja, bin ich. Ich komm gleich runter.«

    Sie trat vor den Spiegel, den Markus ihr zur Hochzeit geschenkt hatte – zwei Meter hoch, mit einem üppigen Barockrahmen, den sie schon damals schrecklich kitschig gefunden hatte. Jetzt betrachtete sie ihr müdes Gesicht, das ihr zwischen vergoldeten Puttenköpfen, stilisierten Blätterranken und Rosenknospen aus weiß lackiertem Holz entgegenschaute. Sie war furchtbar blass. Aber andererseits würde bei einer Beerdigung wohl niemand von ihr erwarten, dass sie aussah wie das blühende Leben.

    »Frau Gebhard?«

    Marlies Hinderer, die als Köchin und Haushälterin für das leibliche Wohl der Familie sorgte, stand in der Tür.

    »Der Caterer für d’r Empfang nach der Beerdigung hat ag’rufe«, sagte sie. Es klang unheilverkündend. »Denen isch die Kühlahlag ausg’falle, ond die Blätterteigtäschle med Lachs für die Herre vom Vorschtand sen hinüber. Außerdem isch en Bote vom Rathaus komma ond hat en große Kranz mit Schleife hierher bracht anschtatt zom Friedhof. Was mach i jetzed bloß mit dem Ding?«

    Elisabeth seufzte. Der Tag hatte gerade erst begonnen, und das Chaos war bereits in vollem Gang.

    »Legen Sie den Kranz in die Waschküche«, erwiderte sie. »Der Herr vom Beerdigungsinstitut kommt in einer halben Stunde und nimmt ihn mit. Und ich ruf gleich bei dem Fischzüchter in Schorndorf an, bei dem mein Schwiegervater immer seine Räucherforellen bestellt hat. Ich bin sicher, der kann uns aushelfen.«

    Sie wandte dem Spiegel entschlossen den Rücken zu.

    »Ich zieh mich schnell an, und dann kriegen wir das schon hin.«

    Der Trauergottesdienst war gottlob gnädig kurz. Nachdem die Trauergemeinde gesungen und der Pfarrer den abschließenden Segen gesprochen hatte, rollte der Sarg auf seinem Wagen an Elisabeth vorbei in Richtung Ausgang. Sie erhob sich mit der Familie und folgte Traugott auf seinem letzten Weg quer über den weitläufigen Friedhof dorthin, wo das Grab ausgehoben worden war.

    Die Worte des Pfarrers rauschten nahezu ungehört an ihr vorüber. Schließlich war der Moment gekommen, ihr kleines Sträußchen aus Rosen und Schleierkraut in das Grab zu werfen. Die Oberfläche des Sarges war bereits teilweise unter Blumen und lockerer Erde verschwunden.

    Leb wohl, Traugott, dachte sie. Du bist so ein wunderbarer Mensch gewesen. Ich hab dich lieb. Und du fehlst mir.

    Sie trat wieder zurück und wartete, bis sich auf ihrer linken Seite die unvermeidliche Schlange derer bildete, die kondolieren wollten. Vivien berührte sie am Ellenbogen.

    »Du musst bloß bis nach dem Empfang durchhalten, Mama«, raunte sie tröstend. »Dann machen wir die Türen hinter uns zu, ich koch uns einen Tee, und du kannst dich ausruhen.«

    Elisabeth betrachtete Viviens Gesicht und stellte wieder einmal mit einer Art von sanftem, verwundertem Schrecken fest, wie sehr sie ihre schöne, kluge Tochter liebte.

    »Danke, mein Schatz«, sagte sie leise.

    Zwei Tage nach Traugott Gebhards Beerdigung verabschiedete Markus sich wie gewohnt morgens um neun und fuhr in die Kanzlei; nachmittags war er mit Dr. Pfleiderer verabredet, dem Notar der Familie, der Anfang der kommenden Woche das Testament eröffnen würde. Es war ein offenes Geheimnis, dass die eigentliche Firma vom Erbe ausgenommen war (das nun im Wesentlichen aus mehreren Immobilien und einem beträchtlichen Barvermögen bestand, dessen genaue Summe Elisabeth allerdings nicht kannte). Über ein ausgeklügeltes System von Stiftungen hatte der alte Patriarch dafür gesorgt, dass sein Lebenswerk nicht etwaigen Streitereien seiner Nachkommen zum Opfer fiel, sondern am Stück erhalten blieb.

    Was Markus anging, musste er sich finanziell wenig Sorgen machen. Elisabeths Mann bezog als Anwalt ein beruhigend solides Gehalt. Der einzige Grund, weswegen er noch mit Frau und Tochter in der Familienvilla wohnte, war der, dass Elisabeth für ihren Schwiegervater zu dessen Lebzeiten alle Firmenevents vorbereitet und eine exakte Kopie des Terminkalenders besessen hatte, den Traugotts getreue Sekretärin Ruth Schneider führte. Die beiden hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass nicht nur in der Firma, sondern auch daheim alles lief wie am Schnürchen.

    Elisabeth trank eine letzte Tasse Kaffee und fragte sich, was Ruth Schneider nun, nach Traugotts Tod, wohl tun würde – wahrscheinlich in ihrem hübschen, abbezahlten Häuschen in Rente gehen, neue Rosensorten züchten und ihren prächtigen Kartäuserkater pflegen, der dort auf seinem eigenen Sessel im Wohnzimmer residierte wie ein König.

    Die Tür öffnete sich, und Frau Hinderer steckte den Kopf herein. »Derf i abräume?«

    »Aber sicher.« Elisabeth stand auf. »Tut mir leid, dass ich getrödelt habe.«

    Die Haushälterin schnaubte. »Hen Sie doch garet. Sie sen früh dran; der Herr Julius und sei Holde sen no gar net wach, glaub i. Aber i han koi Luscht zom warte, bis die endlich nonder kommet … bis dahin isch die Wurscht grün und der Käs wird trocka.«

    Elisabeth unterdrückte ein Grinsen. Es war kein Geheimnis, dass die tüchtige Perle von Julius und seiner Frau nicht gerade viel hielt.

    Ihr Schwager hatte nach einem mit Ach und Krach absolvierten BWL-Studium zunächst versucht, als Investmentbanker an der Börse Karriere zu machen. Zwischenzeitlich heiratete er Fiona, die sich von ihm eine schicke Modeboutique in Gmünd mieten und einrichten ließ. Dummerweise fehlten Julius sowohl der Instinkt als auch das Talent für den gewählten Job, und auch die Boutique lief bei Weitem nicht so glänzend, wie Fiona sich das vorgestellt hatte. Auf diese Weise schafften die beiden es binnen weniger Jahre, einen erschreckenden Berg Schulden anzuhäufen.

    Traugott glich die Konten von Sohn und Schwiegertochter aus und bot ihnen an, mit Fachleuten und dem nötigen Knowhow auszuhelfen. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe. Als Elisabeth und Markus ihren zehnten Hochzeitstag feierten und Vivien auf das Gymnasium kam, waren Julius und Fiona erneut in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Diesmal sprach Traugott ein Machtwort. Er verschaffte Julius einen Posten in der Familienfirma, bei dem er seinen Charme nutzbringend einsetzen konnte, aber nicht einflussreich genug war, um Schaden anzurichten. Fionas Boutique wurde geschlossen, und anstatt sich eine andere Verdienstmöglichkeit zu suchen, wurde Julius’ »Holde« Teil der auch in Gmünd durchaus vorhandenen Schickeria. Dank der Tatsache, dass sie mit ihrem Mann mietfrei das Dachgeschoss der Familienvilla bewohnte, reichte das Geld, um ihr diesen Lebensstil einigermaßen zu finanzieren. Jetzt, da Traugott tot war, warteten sie und Julius mit Sicherheit nur noch darauf, ihr Erbe einzustreichen und sich damit endlich zu sanieren.

    Elisabeth zuckte die Achseln. Sie beschloss, keinen weiteren Gedanken an die Angelegenheiten von Schwager und Schwägerin zu verschwenden und sich stattdessen lieber mit Frau Hinderer an das Ausräumen von Traugotts Kleiderschrank zu machen.

    Das Wochenende verstrich, der Montag kam und mit ihm der Termin für die Testamentseröffnung. Pünktlich morgens um elf hatte sich die ganze Familie in der Kanzlei von Dr. Pfleiderer versammelt. Am Kopfende des Sitzungstisches saß der Notar in einem dunklen Anzug, die Hände auf der dicken Mappe gefaltet, die vor ihm lag.

    Er räusperte sich.

    »Zunächst einmal«, sagte er, »möchte ich nochmals erwähnen, dass die Firma Gebhard nicht Teil des Erbes ist, sondern über die ›Traugott-Gebhard-Stiftung‹ vom Vorstand weitergeführt wird. Die Reingewinne der Firma fließen ausschließlich in die Finanzierung des Unternehmens. Ist das soweit in Ordnung?«

    Allgemeines Nicken rund um den Tisch. Elisabeth sah, wie Dr. Pfleiderer seine Unterlagen durchblätterte und einen verstohlenen Blick Richtung Tür warf. Erwartete er noch jemanden?

    »Das flüssige Barvermögen beläuft sich auf eine Summe von bislang insgesamt gut 900 000 Euro«, fuhr er fort. »Es gehen Legate von jeweils 40 000 Euro an die beiden Schwiegertöchter und die Enkelin von Traugott Gebhard sowie eine Summe von jeweils 10 000 Euro an Marlies Hinderer und Ruth Schneider. Der Rest geht zu gleichen Teilen an die Söhne des Erblassers.«

    Elisabeth freute sich darüber, dass ihr Schwiegervater auch seine Haushälterin und die Sekretärin bedacht hatte. Außerdem war sie erleichtert, dass sie nicht mehr Geld bekam als Fiona; eine bestimmte Sorte Ärger musste man wirklich nicht mit aller Gewalt herausfordern.

    Julius wirkte sichtlich zufrieden.

    »Mindestens 380 000 pro Nase, großer Bruder«, sagte er und lächelte breit. »Gar nicht übel, was?«

    Dr. Pfleiderer räusperte sich erneut und warf gerade einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr, als es plötzlich klopfte.

    »Herein.«

    Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand ein Mann, den Elisabeth noch nie gesehen hatte. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig; er war hochgewachsen und schlank, mit breiten Schultern, langen Beinen und einem klaren Gesicht unter einem dichten, weizenblonden Haarschopf. Er trug Jeans, Stiefel, eine dicke Winterjacke und darunter einen Pullover mit Norwegermuster.

    »Dr Pfleiderer, I suppose?«, sagte er. »Hi, I’m Göran Åsasson. Excuse me for being late. I missed the earlier train.«

    Markus, der den Neuankömmling ebenso verwirrt musterte wie der Rest der Familie, fand als Erster die Sprache wieder und wandte sich an den Notar.

    »Wer ist das, bitte?«

    »Und was hat er hier zu suchen?« Julius klang deutlich aggressiver als sein Bruder. »Ich dachte, das ist eine Privatveranstaltung.«

    »Das ist es auch«, erwiderte Dr. Pfleiderer. »Welcome, Mr Åsasson. Have a seat!«

    Der Fremde nickte, streifte die Jacke ab und setzte sich dem Notar gegenüber an den Tisch. Dass er von fünf Augenpaaren gleichzeitig angestarrt wurde, schien ihm wenig auszumachen.

    »Ich darf Ihnen vorstellen: Das ist Göran Åsasson aus Schweden. Aus der Gegend von Kiruna genauer gesagt. Das liegt jenseits des Polarkreises.«

    »Danke für die Geografiestunde«, versetzte Julius sarkastisch. »Aber damit weiß ich immer noch nicht, was der Mann hier zu suchen hat.«

    »Ich habe ihn letzte Woche angerufen«, antwortete Dr. Pfleiderer. »Traugott Gebhard hatte mich gebeten, einen bestimmten Zusatz seines Testaments erst nach seinem Tod zu lesen. Deswegen kenne ich erst seit Kurzem ein wichtiges Detail, dessetwegen ich Herrn Åsasson gebeten habe, hierherzukommen. Er hat leider seinen ursprünglich vorgesehenen Zug vom Flughafen aus versäumt. Sonst wäre er schon vor einer Stunde hier gewesen, und ich müsste jetzt nicht so unvorbereitet die Bombe platzen lassen.«

    »Was für eine Bombe soll denn das sein?« Julius sah aus, als würde ihm jeden Moment der Geduldsfaden reißen. »Rücken Sie doch endlich raus damit, verdammt noch mal!«

    »Na schön.«

    Dr. Pfleiderer warf dem Schweden, der den Austausch schweigend und aufmerksam verfolgt hatte, einen entschuldigenden Blick zu.

    »Göran Åsasson ist der Sohn von Åsa Lund und Traugott Gebhard«, erklärte er. »Und das heißt, er ist Ihr Halbbruder.«

    VÄTER UND SÖHNE

    Markus erhob sich halb von seinem Stuhl. Sein Blick ging zwischen dem Notar und dem Neuankömmling hin und her.

    »Das ist nicht Ihr Ernst.«

    »Sehe ich so aus, als wollte ich Spaß machen?« Der Notar seufzte. »Ich werde versuchen, ein paar Fakten nachzuliefern, soweit sie mir aus dem Testamentszusatz bekannt sind. Herr Åsasson spricht Englisch und Schwedisch, aber nur sehr wenig Deutsch. Bei Fragen an ihn kann ich gern übersetzen.«

    »Das dürfte kaum nötig sein«, versetzte Markus ein wenig steif und setzte sich wieder. »Mein Englisch ist ausgezeichnet.«

    »Gut. Im Sommer 1976 lernte Traugott Gebhard bei einer Geschäftsreise nach Schweden Åsa Lund kennen. Die beiden freundeten sich miteinander an, und bald wurde wohl … etwas mehr daraus. Nach einigen Wochen kehrte Ihr Vater wieder nach Deutschland zurück.«

    »Wo er schon seit einem Jahr mit meiner Mutter verheiratet war«, sagte Markus.

    »Richtig.« Dr. Pfleiderer nickte. »Im Jahr darauf flog er im August noch einmal nach Stockholm und bot Åsa an, sich für sie scheiden zu lassen. Aber Åsa war nicht damit einverstanden. Sie konnte sich wohl nicht vorstellen, nach Deutschland zu ziehen … genauso wenig, wie Ihr Vater die Absicht hatte, fortan in Schweden zu leben. Jedenfalls war das das Ende dieser Beziehung.«

    »Dieser Affäre.« Markus’ Stimme klang bitter.

    Elisabeth hätte ihren Mann gern berührt, um ihn zu trösten; sie ließ es bleiben, weil er nichts so sehr verabscheute, wie Gefühle oder gar Betroffenheit öffentlich zu zeigen. Und die Tatsache, dass sein Vater seine Mutter betrogen, eine andere Frau geliebt und einen Sohn mit ihr gezeugt hatte, musste ihm gewaltig an die Nieren gehen.

    »Wissen Sie, wann Traugott davon erfuhr, dass er in Schweden ein Kind hatte?«, fragte sie.

    »Erst ein paar Jahre später«, erklärte der Notar. »Da war Åsa mit ihrem Sohn gerade in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter gezogen und finanziell in großer Not. Ihre Eltern konnten – oder wollten – sie nicht unterstützen. Also wandte sie sich in einem Brief an Traugott und bat ihn um Hilfe. Herr Åsasson hat mir Traugotts Antwortschreiben im Vorfeld bereits als Kopie zukommen lassen; es stammt zu hundert Prozent von Traugott, ich hab das von einem Grafologen überprüfen lassen. Und da es auf Schwedisch geschrieben wurde, hat Herr Åsasson freundlicherweise auch gleich eine englische Übersetzung beigefügt, die ich vorsorglich ins Deutsche übertragen habe.«

    Er nahm einen Bogen aus seiner Mappe.

    »Da heißt es unter anderem: Ich wünschte, du hättest mir damals gesagt, dass du schwanger bist. Vielleicht wäre dann einiges anders gekommen. Aber ich danke dir dafür, dass ich wenigstens jetzt etwas für dich und das Kind tun darf. Ich werde dir in den nächsten Tagen 100 000 überweisen. Solltest du mehr brauchen, dann sag es mir bitte. Ich will dir helfen, so gut ich nur kann.«

    »100 000?« Zum ersten Mal seit der verblüffenden Erklärung des Notars meldete sich Julius wieder zu Wort. »Das heißt, mein alter Herr leistet sich eine Liebschaft im Knäckebrotland, schluckt die Geschichte von dem Braten im Ofen ohne Widerspruch und lässt 100 000 springen? Das ist ja nicht zu fassen!«

    »100 000 schwedische Kronen«, sagte Dr. Pfleiderer. »Das entsprach damals nach heutigem Kurs ungefähr 15 000 Euro. Und danach hat er laut Herrn Åsasson keinerlei Zahlungen mehr geleistet; er hat zwar einen monatlichen Unterhalt angeboten, aber den hat Åsa kategorisch abgelehnt.«

    Julius schaute noch immer so angriffslustig wie fassungslos drein. »Und woher wollen wir wissen, dass dieser Wikinger da wirklich der Sohn meines Vaters ist? Vielleicht hat sie ihm das Kind ja bloß untergeschoben.«

    »Göran Åsasson wurde am 5. Mai 1978 geboren«, antwortete der Notar. »Als Åsa die Beziehung mit Traugott beendete, war er gerade erst … entstanden. Daher kann hier von ›Unterschieben‹ wohl nicht die Rede sein. Sie hat Traugott erst Jahre später um Unterstützung gebeten, als es gar nicht anders ging – und auch nur ein einziges Mal.«

    »Klar doch.« Julius schnaubte verächtlich. »Weil er wahrscheinlich der einzige von ihren Lovern war, bei dem sich diese linke Tour gelohnt hat. Und beruhigend weit weg gewohnt hat er auch noch. Also hat sie ihm ein rührseliges Märchen erzählt, und er ist prompt darauf hereingefallen.«

    »Entschuldigung?« Das war Vivien, die bislang stumm und mit großen Augen gelauscht hatte. Kein Wunder, dachte Elisabeth. Das hier ist spannender als jede Daily Soap.

    Der Notar warf ihrer Tochter ein beinahe erleichtertes Lächeln zu. »Ja?«

    »Könnte man vielleicht … es gibt doch DNA-Tests«, sagte Vivien. »Auf diese Weise könnte man bestimmt überprüfen, ob dieser Mann zur Familie gehört. Oder?«

    »Natürlich.« Das Lächeln des Notars vertiefte sich. »Und danach können wir dann endlich damit aufhören, Spekulationen über das … ähm … Liebesleben von Åsa Lund anzustellen.«

    » Vor dem Test sollten wir das auch«, fügte Elisabeth leise hinzu.

    Sie sah, dass Julius zusammenzuckte wie ein gescholtenes Kind. Dann veränderte sich ganz plötzlich sein Gesichtsausdruck.

    »Moment mal.« Er starrte den Notar an. »Haben Sie nicht vorhin gesagt, dass das Barvermögen zu gleichen Teilen an … nein. Das glaub ich jetzt einfach nicht!«

    »Die Summe wird – abzüglich der Legate für Schwiegertöchter, Enkelin, Haushälterin und Sekretärin – zu gleichen Teilen an Traugott Gebhards Söhne vererbt«, antwortete der Notar ruhig. »Und Göran Åsasson ist einer seiner Söhne – jedenfalls gehe ich bislang davon aus.«

    »Ich nicht!« Julius’ Stimme überschlug sich beinahe. »Ich meine, die kleinen Schwedinnen haben es in den Siebzigern doch ordentlich krachen lassen, oder? Da kann ja jeder kommen und Erbansprüche anmelden, bloß weil seine Mama mal mit einem reichen Fabrikanten aus Germany herumgevögelt hat!«

    Noch ehe irgendjemand in der Familie auf diesen Ausbruch reagieren konnte, erhob sich plötzlich Göran Åsasson und sah Julius scharf an.

    »I don’t care what you think about me«, sagte er kalt, »but I won’t let you keep insulting my mother. I’ve been looking forward to the chance to meet my German family – without any demands. But it’s obvious that I’m not welcome here. Guess I’ll better leave now.«

    Er wandte sich an den Notar.

    »Did you manage to book a guesthouse room for me?«

    »Of course.« Dr. Pfleiderer zog eine verlegene Grimasse. »Meine Sekretärin gibt Ihnen die Adresse und ruft Ihnen ein Taxi. Für alles, was noch zu klären ist, hab ich ja Ihre Handynummer und E-Mail.«

    »Thank you.« Göran griff nach seiner Winterjacke. »I’m at your disposal – even for that DNA test, if those people insist. I’m not afraid; I know that my mother was no liar.«

    Er warf einen flüchtigen Blick in die Runde.

    »Good-bye, Ladies and Gentlemen. Have a nice day.«

    Dann nickte er dem Notar zu und verließ den Raum.

    Für eine Weile herrschte fast ohrenbetäubende Stille.

    »Wenn man sich bei dir auf eines verlassen kann«, bemerkte Markus endlich, an seinen Bruder gewandt, »dann, dass du dich mit unfehlbarer Sicherheit danebenbenimmst. Musstest du uns dermaßen bloßstellen?«

    »Als ob das meine Schuld war«, murrte Julius. »Woher sollte ich denn wissen, dass der Kerl alles versteht, was ich sage!«

    »Der Mann ist der Sohn von Traugott?«, fragte Fiona, als hätte sie die Tragweite dessen, was gerade vorgefallen war, erst jetzt richtig begriffen. »Und wenn er das beweisen kann, dann erbt er genauso viel wie du und Markus?«

    »Präzise zusammengefasst«, bestätigte der Notar und erhob sich. »Ich würde sagen, wir sorgen jetzt erst einmal dafür, dass die Nerven sich beruhigen. Meine Sekretärin hat nebenan Kaffee, Kuchen und Laugenbrezeln hergerichtet. Wollen wir hinübergehen?«

    Allgemeines Stühlescharren setzte ein. Markus entschuldigte sich, weil er zurück in die Kanzlei musste, und Elisabeth stellte fest, dass sie weder Lust auf Kaffee noch auf Brezeln oder Kuchen hatte. Sie wollte nach Hause. Sie hatte früher oft Unterlagen in Traugotts Arbeitszimmer herausgelegt, wenn er sie in der Firma brauchte; vielleicht fand sie dort irgendetwas, das bewies, dass die Geschichte von Göran Åsasson die Wahrheit war.

    Sie war schon halb vor der Tür des Notariats, als ihre Tochter sie einholte.

    »Du lässt mich hier jetzt aber nicht allein, Mama, oder?«, sagte Vivien. »Ich hab keine Lust, dabei zuzuschauen, wie Onkel Julius und Tante Fiona beim Vespern ihren genauen Anteil am Erbe ausrechnen und über die Mutter von meinem nagelneuen Onkel herziehen.«

    »Verständlich«, meinte Elisabeth. »Du kannst gern mitkommen, wenn du möchtest.«

    »Und wie ich das möchte«, antwortete ihre Tochter energisch. »Nichts wie raus hier.«

    Zum Glück war Elisabeth mit ihrem eigenen Wagen zur Kanzlei gefahren und brauchte keine Viertelstunde zurück zur Villa. Vivien folgte ihr in Traugotts Arbeitszimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen, während ihre Mutter einen Schlüssel aus einer kleinen Alabasterschale holte und die Tür auf der rechten Seite aufschloss.

    »Es kommt mir komisch vor … dass du einfach so an Opas Sachen gehst, meine ich«, gestand sie.

    »Da war ich schon öfter dran«, gab Elisabeth ruhig zurück. »Allerdings nur an bestimmten Fächern und auch nur, wenn dein Opa mich darum gebeten hat. Jetzt würde ich gerne etwas gründlicher nachschauen.«

    Sie öffnete die Tür. Da lagen die Notizblöcke, Mappen und Umschläge, die ihr vertraut waren … aber als sie nun genauer nachsah, entdeckte sie zum ersten Mal ganz hinten, dicht an der Rückwand des Schreibtisches, ein Kästchen aus hellem Holz. In die Mitte des lose aufliegenden Deckels war ein Bild eingeschnitzt worden – ein Kreuz, umgeben von kleinen, dünn eingekerbten Symbolen, die aussahen wie einfach skizzierte Strichmännchen und Kinderzeichnungen. Elisabeth runzelte die Stirn; sie konnte sich keinen Reim darauf machen.

    Sie hob den Deckel ab und fand einen kleinen Stapel Briefe – insgesamt fünf, allesamt aus Schweden abgeschickt und an Traugott adressiert, allerdings nicht an die Villa, sondern an sein Büro in der Firma. Die Handschrift auf den Umschlägen war schräg und energisch. Unter den Briefen lag ein Foto, auf dem ein sommerlich grüner Wald zu sehen war. Eine junge Frau in roten Hosen und einer weißen, ärmellosen Bluse saß auf einem Baumstumpf und lachte strahlend in die Kamera. Langes Haar fiel ihr über die Schultern, so hell wie reifer Weizen und mit einem Kranz aus Blättern und Blüten geschmückt.

    Elisabeths Stirnrunzeln vertiefte sich. War das etwa Åsa Lund?

    Sie drehte das Foto um. Auf die Rückseite war etwas gekritzelt, in der Handschrift ihres Schwiegervaters. Midsommar 1976.

    1976. Das Jahr, in dem Traugott laut Auskunft von Dr. Pfleiderer Görans Mutter kennengelernt hatte.

    Elisabeth reichte das Bild Vivien. Die betrachtete die Aufnahme aufmerksam und las auch die Notiz auf der Rückseite.

    »Ist die aber hübsch!«, stellte sie fest. »Meinst du, das ist die Mutter von Göran?«

    »Ähnlich sieht er ihr jedenfalls«, meinte Elisabeth. »Er ist genauso blond, und er hat die gleichen grünen Augen. Zeitlich würde es auch hinkommen. Vielleicht helfen uns ja die Briefe weiter.«

    Sie legte die fünf Umschläge nebeneinander vor sich hin. Sie waren alle geöffnet worden; Elisabeth wählte den in der Mitte, zog das einzelne Blatt heraus, das darin steckte, und faltete es auseinander.

    Kiruna, 12/12 1976, las sie. Kära Traugott, så är du hemma i Tyskland igen. Tiden tillsammans med dig var underbar igen, men jag tycker fortfarande inte vi har någon framtid ihop. Kom ihåg att du är gift. Det mellan oss var en semesterkärlek och kan aldrig bli något annat.

    Sie konnte nur vermuten, was dort stand. Sie sprach fließend Englisch und passabel Französisch, aber kein Schwedisch; und nördlicher als bis Flensburg war sie noch nie gekommen.

    Sie steckte den Brief zurück, nahm den nächsten und überflog ihn. Vad vill du med mig?, stand da. Jag tror inte det är någon bra idé att du kommer nästa sommar. Diese Zeilen stammten aus dem April 1977; Elisabeth reimte sich zusammen, dass es um einen neuerlichen Besuch von Traugott im Sommer ging. Vermutlich um den, den Dr. Pfleiderer erwähnt hatte … den, bei dem Traugott mit Åsa über seine Bereitschaft zur Scheidung gesprochen hatte. Als er danach unverrichteter Dinge wieder nach Hause geflogen war, erwartete Åsa ein Kind, aber sie sagte ihm nichts davon, und ihre Liebe war offensichtlich erloschen.

    Elisabeth griff nach dem Brief, der nach dem Poststempel auf dem Umschlag zuletzt geschrieben worden war … im August 1982.

    Laxforsen, 15/8, las sie. Detta blir nog en chock för dig, men du har en son. Han heter Göran och är fyra år.

    Sie atmete tief durch. Das war auch für jemanden, der kein Schwedisch sprach, kaum misszuverstehen. Sie reichte Vivien den Brief.

    »Son heißt Sohn, oder?«, sagte ihre Tochter stirnrunzelnd. »Wie im Englischen. Offenbar stimmt es also. Und was machen wir jetzt?«

    »Ich möchte Göran diese Briefe gern zeigen«, antwortete Elisabeth. »Er kann sie mir bestimmt übersetzen. Außerdem wird es Zeit, dass jemand von uns endlich mal mit ihm redet anstatt bloß über ihn.«

    »Der ist aber bestimmt noch ziemlich sauer«, mutmaßte Vivien. »Vielleicht mag er mit keinem von uns reden … auch nicht mit dir.«

    »Dann geb ich ihm noch Zeit bis morgen, sich zu beruhigen«, beschloss Elisabeth. »Und jetzt geh ich runter zu Frau Hinderer und überrede sie, ihren berühmten Zwiebelrostbraten zu machen. Den mag dein Vater besonders gern, und nach der Sitzung bei Dr. Pfleiderer braucht er etwas, worauf er sich heute Abend freuen kann.«

    »Es ist bestimmt komisch für Papa, dass er plötzlich noch einen Bruder hat«, sagte Vivien nachdenklich.

    Elisabeth sah sie an. »Genauso komisch wie für dich, plötzlich noch einen Onkel zu haben, nehme ich an.«

    Vivien grinste. »Ich find ihn cool. Und wenn ich ihn erst besser kennenlerne, ist er bestimmt noch viel cooler.« Ihre grauen Augen funkelten. »Außerdem ist verglichen mit Onkel Julius jeder andere Onkel ein Fortschritt.«

    Elisabeth dachte an Julius’ Auftritt bei der Testamentseröffnung und gluckste in sich hinein. Wo ihre Tochter recht hatte, hatte sie recht.

    Es wurde fast zehn, bis Markus an diesem Abend nach Hause kam. Elisabeth hatte an dem Esstisch in ihrem Wohnzimmer ein Gedeck für ihn aufgelegt, eine Flasche Schwarzriesling geöffnet und den Zwiebelrostbraten von Frau Hinderer mitsamt den handgeschabten Spätzle für ihn warmgehalten.

    Er nahm – wie immer – die Krawatte ab, kam zu ihr und küsste sie, bevor er sich an den Tisch setzte.

    »Wie war dein Tag?«

    »Chaotisch«, sagte er und begann zu essen. »Nach dem Termin bei Dr. Pfleiderer hatte ich zum Glück genügend zu tun, um mich abzulenken.«

    Sie wartete, während er langsam und methodisch seinen Teller leerte. Markus war kein großer Fan von Tischgesprächen; wenn es etwas zu klären gab, tat man gut daran zu warten, bis er seine Mahlzeit beendet hatte. Also schwieg sie, bis er aufgegessen hatte, füllte sein Weinglas noch einmal nach und räumte das schmutzige Geschirr ab. Danach holte sie ein zweites Glas und goss sich selbst etwas ein.

    »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie ruhig.

    Er nahm einen kräftigen Schluck, ohne sie anzusehen.

    »Worüber denn? Dass mein Vater gerade mal ein Jahr nach seiner Heirat mit Mama mit einer anderen Frau ein Verhältnis angefangen hat?«

    Er stellte das Glas mit so viel Schwung auf den Tisch, dass ein hoher, vibrierender Ton erklang.

    »Göran ist drei Monate nach mir geboren. Im August davor ist Papa nach Schweden geflogen, um dieser Åsa Lund zu sagen, dass er sich für sie scheiden lassen will – und hat bei dieser Gelegenheit meinen nun wundersamerweise aus der Versenkung aufgetauchten Halbbruder gezeugt. Dabei hat er damals mit Sicherheit schon gewusst, dass ich unterwegs war. Er muss es gewusst haben. Und es war ihm egal.«

    »So einfach ist es bestimmt nicht gewesen.« Elisabeth nahm seine Hand. »Was es auch immer für Probleme zwischen ihm und deiner Mutter gegeben hat … du hast ihm viel bedeutet. Wie alle seine Kinder.«

    »Glaubst du?«

    Seine Hand drehte sich, und für einen langen Moment verschränkten sich ihre Finger miteinander. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach.

    »Ich war ihm nützlich«, sagte er endlich. »Auf mich konnte er sich verlassen – ich hab das richtige Studienfach gewählt, mir die richtige Kanzlei ausgesucht und die richtigen Mandanten. Sogar die richtige Frau, nicht?«

    »Ich hoffe doch, du hast mich geheiratet, weil du mich liebst«, sagte Elisabeth, um einen leichten Tonfall bemüht. »Und nicht bloß, um deinem Vater eine Freude zu machen.«

    »Sieht so aus, als hätte ich in diesem Fall zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, antwortete Markus trocken. Er ließ ihre Hand los und machte mit dem Rest seines Weins kurzen Prozess. Dann schob er den Stuhl zurück und stand auf.

    »Ich gehe jetzt besser ins Bett«, sagte er. »Morgen früh um halb acht ist eine Konferenz mit einem halben Dutzend Anwälten, die einem unserer gewichtigsten Kunden gerne qua Gesetz die Konten leer räumen würden. Da sollte ich besser ausgeschlafen sein, sonst ziehen uns die Jungs über den Tisch. Nacht, Lisa.«

    Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zum zweiten Mal an diesem Abend. Dann ging er hinaus, schloss die Tür leise hinter sich, und Elisabeth blieb vor ihrem unberührten Glas am Tisch sitzen, den herbsüßen Geschmack des Schwarzrieslings auf den Lippen.

    Am nächsten Morgen verließ Markus das Haus um drei viertel sieben. Ihre Tochter bekam Elisabeth gerade lange genug im Frühstückszimmer zu Gesicht, um mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken, dann war sie auf dem Weg zur Schule, wo sie kurz vor dem Abitur stand.

    Bislang hatte sich Elisabeth noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was sie tun würde, wenn Vivien im Herbst ihr Jurastudium in Tübingen begann. Inwieweit die Firma nach Traugotts Tod ihr Organisationstalent weiter zu nutzen gedachte, wusste sie noch nicht. Die Zeit mit kostspieligen Hobbys totzuschlagen, wie Fiona es tat, war absolut nicht nach ihrem Geschmack. Aber was dann?

    Sie band die Haare energisch zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms. Eins nach dem anderen … und jetzt war erst einmal ihr brandneuer Schwager an der Reihe. Das geschnitzte Holzkästchen steckte bereits in ihrer großen Lederhandtasche. Sie musste nur noch herausfinden, wo Göran Åsasson untergekommen war.

    Fünf Minuten und ein Gespräch mit Dr. Pfleiderer später kannte sie Namen und Adresse des Hotels, holte ihren Renault Twingo aus der Garage und machte sich auf den Weg. Der Notar hatte den Gast aus Schweden mitten in der Altstadt untergebracht, nur wenige Minuten zu Fuß vom Marktplatz und der Basilika entfernt. Wundersamerweise erspähte sie direkt vor dem Hotel Pelikan eine Parklücke und fädelte sich mit ihrem Wagen hinein.

    An der Rezeption ließ sie sich von einer jungen Dame mit dem Zimmer von Göran verbinden. Es klingelte zweimal, dreimal, viermal, und Elisabeth wartete nervös darauf, dass er sich meldete.

    »Åsasson. Hello?«

    »Guten Morgen, Göran«, sagte sie auf Englisch. »Hier ist Elisabeth Gebhard – die Frau Ihres Halbbruders Markus. Wir sind uns gestern begegnet.«

    »Okay …« Langsam und ausgesprochen reserviert. »Was wollen Sie?«

    »Ich weiß, das ist ein ziemlicher Überfall.« Elisabeths Herz pochte heftig. »Ich könnte es verstehen, wenn Sie mich nicht sehen

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