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Systemtheoretische Beobachtungen III
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Systemtheoretische Beobachtungen III

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Beiträge zum Verhältnis von Theologie und Systemtheorie.
LanguageDeutsch
Release dateApr 11, 2019
ISBN9783749489015
Systemtheoretische Beobachtungen III
Author

Eberhard Blanke

Dr. Eberhard Blanke, Pastor und Kommunikationsmanager, Veröffentlichungen zum Thema Beratung, zu Kommunikationskampagnen und Public Relations sowie zum Verhältnis von Theologie und Systemtheorie.

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    Book preview

    Systemtheoretische Beobachtungen III - Eberhard Blanke

    Inhalt

    Einführung

    Buchdruck und Reformation

    Öffentliche Religion I

    Öffentliche Religion II

    Öffentliche Religion III

    Religion und (Massen-) Medien

    Public Relations von Nonprofit-Organisationen

    Christliche Kommunikationskampagnen

    Kommunikationskampagnen Ein makrotheoretischer Zugang

    „… um des Menschen willen – Zeit für Freiräume 2019"

    Wie Beratung möglich ist

    Das zwölfte Kamel

    Selbststeuerung durch Selbstbeschreibung

    Qualitätsentwicklung in der Kirche – quo vadis?

    Einführung

    Der hier vorgelegte Band ,Systemtheoretische Beobachtungen III‘ schließt an die beiden vorangegangenen Sammelbände zum Verhältnis von Systemtheorie und Theologie an.¹ Dabei liegt der thematische Schwerpunkt nun im Bereich organisationsbezogener Kommunikation.

    Der Beitrag unter dem Titel ,Buchdruck und Reformation‘ unternimmt den Versuch, den gesellschaftlichen Wandel in der Zeit zwischen 1450 und 1550 anhand der Unterscheidung von Medium und Form neu zu beschreiben. Dieser zunächst sehr eng gefasste Zugriff fördert im Verlauf der Beschreibung einige weitreichende Folgerungen zutage. Im Ergebnis können der Buchdruck und die Reformation als Doppelgespann eines strukturellen Medienwechsels und eines semantischen Epochenwechsel begriffen werden.

    Es schließen sich drei Texte zum Thema ,Öffentliche Religion‘ an, die sich auf den gegenwärtigen Diskurs beziehen, der zumeist unter der Überschrift ,Öffentliche Theologie‘ steht. Die Wahl des Begriffs ,Religion‘ soll anzeigen, dass es um die als religiös beobachtbare Kommunikation der Gesellschaft geht. In diesem Sinne wird zudem der Begriff der ,Öffentlichkeit‘ neu justiert, indem er nicht länger handlungstheoretisch, sondern kommunikations- und unterscheidungstheoretisch als Beobachtbarkeit definiert wird.

    Nach einer allgemeinen Verortung religiöser Kommunikation im Bezug auf deren mediale Anbindung unter dem Titel ,Religion und Medien‘ folgen zwei Beiträge zur Kampagnenforschung. Der erste Text ,Kommunikationskampagnen: Ein makrotheoretischer Zugang‘ diskutiert die gesellschaftliche Relevanz von Kampagnen, der zweite Beitrag thematisiert das Projekt ,Freiräume 2019‘ der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers.

    Die abschließenden drei Texte nehmen unter den Stichworten Beratung, Steuerung und Qualitätsentwicklung organisationsbezogene Themen in den Blick.

    Die Mehrzahl der Beiträge ist hier zum ersten Mal abgedruckt. Insofern ein Beitrag bereits an anderer Stelle publiziert worden ist, ist dies entsprechend vermerkt.


    ¹ Siehe Blanke, Eberhard (2017): Systemtheoretische Beobachtungen I. Norderstedt; sowie Blanke, Eberhard (2018): Systemtheoretische Beobachtungen II. Norderstedt.

    Buchdruck und Reformation

    Ein Medien- und Epochenwechsel

    1. Hinführung

    Wir nehmen im folgenden eine Neubeschreibung des Miteinanders von Buchdruck und Reformation vor.² Unsere Neubeschreibung ist – wie alle anderen Beschreibungen der Reformation auch – eine Form der Wiederbeschreibung oder Redescription³, die sich dazu auf bestimmte Unterscheidungen stützt. Wir gehen in unserer Beschreibung von der leitenden Unterscheidung von Medium und Form aus und schließen daran weitere, aus dieser Leitunterscheidung entwickelte Unterscheidungen an, um einen gewissen Grad an Komplexität unserer Neubeschreibung erreichen zu können.

    Die mitlaufende These lautet, dass Medienwechsel und Epochenwechsel einander bedingen. Insofern kann jeder Epochenwechsel als Medienwechsel und umgekehrt jeder Medienwechsel als Epochenwechsel konzipiert werden.⁴ Wir wählen den Einstieg bei der Beschreibung des Medienwechsels, um daraus einen Epochenwechsel abzuleiten. Ein Medienwechsel ist zu konstatieren, soviel ist vorab festzuhalten, wenn und insoweit sich die Unterscheidung von Medium/Form im Hinblick auf die durch diese Unterscheidung konstituierten Elemente ändert. Und genau dies lässt sich anhand des Buchdrucks und der damit verbundenen Reformation zeigen.

    Buchdruck und Reformation sind, als Abbreviaturen für die Beschreibung eines Medien- und Epochenwechsels, geradezu synonym geworden. Wir führen dies darauf zurück, dass sich in der Zeit zwischen 1450 und 1550 eine neue Weise der Unterscheidung von Medium und Form durchgesetzt und stabilisiert hat, die beide Entwicklungen zusammenbindet. Wir ordnen den Begriffen Buchdruck und Reformation daher die Unterscheidung von Struktur und Semantik zu. Der Buchdruck ist das Kennzeichen historischer Strukturveränderungen, die Reformation dagegen das Kennzeichen der damit verbundenen historischen Veränderungen (in) der Semantik.

    Zunächst erläutern wir die Unterscheidung von Medium und Form, um eine Basis für die anschließenden Überlegungen zu haben. Sodann modellieren wir mit Hilfe der Medium/Form-Unterscheidung Begriffe wie Kommunikationsmedien, Verbreitungsmedien, Massenmedien sowie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bzw. Erfolgsmedien. Parallel dazu nehmen wir den Medien- und Epochenwechsel mit der Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein in den Blick. Ein Ausblick führt die Unterscheidung von Medium und Form mit dem momentan erfolgenden Medien- und Epochenwechsel unter dem Stichwort Computer bzw. Digitalisierung zusammen.

    2. Die Unterscheidung von Medium und Form

    2.1 Wir setzen die Unterscheidung von Medium/Form⁶ (oder: Form/ Medium, je nach Bedarf und Kontext) als universal anwendbar voraus: ,Alles‘ kann mit ihr beobachtet werden, genauso wie beispielsweise mit den Unterscheidungen Operation/Beobachtung, System/ Umwelt oder Struktur/Semantik. Da die Unterscheidung Medium/ Form selbstimplikativ auftritt, also selbst eine Form darstellt⁷, notieren wir im folgenden zumeist Form/Medium, insofern die linke Seite der Unterscheidung als die operativ anschlussfähige Seite gelten soll.

    2.2 Unterscheidungen wie Form/Medium notieren wir, indem wir die Begriffe durch einen Schrägstrich (solidus) trennen bzw. verbinden. Solche Unterscheidungen können auch in sich selbst verschachtelt sein, etwa durch den (Wieder-) Eintritt bzw. den re-entry⁸ einer Unterscheidung auf einer ihrer beiden Seiten. Zur Darstellung des reentry nutzen wir einen doppelten Schrägstrich, sodass der Wiedereintritt der Unterscheidung Form/Medium auf der Seite Form in der Schreibweise Form/Medium//Medium dargestellt wird. Im Falle eines re-entry der Unterscheidung Medium/Form in sich selbst würde die Schreibweise Medium/Form//Form lauten.

    2.3 Im Unterschied zu anderen Unterscheidungen liegt die Besonderheit der Unterscheidung von Form/Medium darin, dass sie gewinnbringend auf sich selbst angewendet werden kann, ja vermutlich erst dadurch ihre besondere Bedeutung erhält. Wir nennen eine solche Form autologisch.⁹ Die Autologie der Unterscheidung von Form/ Medium besticht dadurch, dass der re-entry auf jeder der beiden Seiten endlos angewandt werden kann. Mit anderen Worten: Jedes Medium einer Form/Medium-Unterscheidung kann selbst zur Form gegenüber einem anderen Medium werden und jede Form einer Form/ Medium-Unterscheidung kann selbst zum Medium einer anderen Form werden.

    2.4 Ein einfaches Beispiel für die in beide Richtungen verschiebbare bzw. verschachtelbare Unterscheidung Form/Medium lässt sich für das Medium Sprache beibringen. Im Medium der Sprache treten Formen auf, die ihrerseits zu Medien für weitere, andere Formen werden können. Dies ergibt, nun erneut in der Schreibweise Medium/ Form notiert, folgende Unterscheidungen: Buchstabe/Silbe, Silbe/ Wort, Wort/Satz, Satz/Text usw. In der anderen Richtung würde sich aufgrund der Schreibweise Form/Medium folgende Reihe ergeben: Silbe/Buchstabe, Buchstabe/Zeichenvorrat, Zeichenvorrat/Linie, Linie/Punkt usw. Insofern verknüpfen Medien zwei Endloshorizonte miteinander.¹⁰

    2.5 Die beiden Seiten der Unterscheidung von Form/Medium sind durch die Einheit ihrer Elemente und zugleich durch die Unterscheidung der Relationierung ihrer Elemente aufeinander bezogen.¹¹ Man könnte auch sagen, dass die Unterscheidung Form/Medium und die Unterscheidung Element/Relation senkrecht bzw. orthogonal zueinander stehen. Dies bedeutet zum einen, dass die Unterscheidung Element/Relation auf jeder Seite der Unterscheidung Form/Medium angewandt werden kann, und zum anderen, dass beide Unterscheidungen einander nicht substituieren können.

    2.6 Formen stellen strikte Kopplungen von Elementen, Medien dagegen lose Kopplungen von Elementen dar. Die jeweiligen Elemente entstehen im Gebrauch ihrer Kopplung oder Entkopplung, also im Moment der Formbildung in einem Medium. Aufgrund der strikten Kopplung von Elementen sind Formen starr und kurzlebig, aufgrund der losen Kopplung von Elementen ist das Medium fluide und dauerhaft. Medien sind ausschließlich in Formen bzw. Formbildungen beobachtbar, die das jeweilige Medium aufgrund ihrer permanenten Kopplung und Entkopplung von Elementen regenerieren. Das Medium selbst ist nicht beobachtbar. Formen sind manifest, Medien bleiben latent.

    2.7 Die Unterscheidung Form/Medium ist ausschließlich systembezogen und damit systemrelativ zu verstehen.¹² Dies gilt insbesondere für die Elemente, die durch die Unterscheidung von Form/Medium im Bezug auf ein (Sinn-) System konstituiert werden.¹³ Wir werden im folgenden vor allem die Systemreferenzen Bewusstsein, Kommunikation und (das damals im Entstehend begriffene Funktionssystem der) Massenmedien in Anspruch nehmen und quasi im Hintergrund mitlaufen lassen, ohne im Detail darauf einzugehen. Es ist aber festzuhalten, dass sich die Unterscheidung Form/Medium in zwei unterschiedlichen Weisen auf Systeme beziehen kann: entweder referiert sie auf ein- und dasselbe System und kann innerhalb dessen in beide Richtungen verschoben werden – wir hatten dies unter 2.4 im Blick auf Sprache exemplifiziert –, oder aber sie bezieht sich auf unterschiedliche Systeme. Im ersten Fall bleiben die Elemente gleich, aber die Form/Medium-Unterscheidung ändert sich (siehe 2.3). Im zweiten Fall bleibt die Form-Medium-Unterscheidung gleich, aber die Elemente unterscheiden sich und gewinnen je nach Systemreferenz eine andere Bedeutung bzw. einen anderen Sinn. So ,sind‘ Buchstaben oder Silben für Wahrnehmung etwas anderes als für Kommunikation.

    3. Kommunikationsmedien

    Über die Bedeutung der an dieser Stelle interessierenden Kommunikationsmedien Sprache und Schrift ist ausführlich geschrieben (!) worden.¹⁴ Im Sinne unserer leitenden Unterscheidung von Form/Medium sind an dieser Stelle aber vier Aspekte zu verstärken.

    Erstens sind Formen und Medien der Wahrnehmung und Formen und Medien der Kommunikation zu unterscheiden. Wahrnehmungsmedien sind etwa Luft oder Licht, Kommunikationsmedien etwa Töne oder Zeichen. Kommunikationsmedien sind also Formen in Wahrnehmungsmedien und stellen ihrerseits Medien für Formen dar, die wiederum Medien, z. B. Verbreitungsmedien, werden können. Töne benötigen Luft und Zeichen benötigen Licht.

    Wir können an dieser Stelle auch die bereits oben eingeführte Verschiebung der Form/Medium-Unterscheidung in der Richtung von Medien auf Formen, die erneut Medien für andere Formen werden können, anwenden, sodass wir die Formel erhalten: Wahrnehmungsmedien bilden Formen aus, die als Kommunikationsmedien verwendet werden können, und umgekehrt: Kommunikationsmedien sind Formen im Medium (oder: in Medien) der Wahrnehmung. Zugleich gilt, dass Kommunikationsmedien Formen erzeugen können, die zu Verbreitungsmedien werden, etwa wenn aus Texten Bücher werden.

    Zweitens scheint es für die mediale Evolution, die sich zwischen 1450 und 1550 abspielt, entscheidend gewesen zu sein, dass das Kommunikationsmedium Schrift auf Alphabete (insbesondere lateinische Buchstaben) zurückgreifen konnte. Frühere Versuche des Buchdrucks vor allem im asiatischen Raum kamen aufgrund der dort üblichen Silben- oder Wortschriften zu keinen vergleichbaren Auflöse- und Rekombinationsmöglichkeiten.¹⁵ Kurz: Die Erfindung des Buchdrucks kann in erster Linie auf diese vorgeschaltete Form/Medium-Unterscheidung von Buchstabe/Schrift zurückgeführt werden. Es ist folglich genau dieses Auflösungsniveau von Schrift in Buchstaben – und nicht etwa eine gröbere Auflösung in Silben oder eine feinere Auflösung in Punkten bzw. dots –, das als conditio sine qua non des Buchdrucks gelten kann.

    Drittens ist davon auszugehen, dass die Neujustierung von Form/ Medien-Unterscheidungen durch weitere begleitende und unterstützende Aspekte verstärkt wurde. Mit anderen Worten: Es haben mehrere Medienwechsel zeitgleich stattgefunden und damit erst das zuwege gebracht, was wir herkömmlicherweise in den Begriffen Buchdruck und Reformation zusammenfassen. Dazu gehört eine historisch teils neue, teils erneuerte Handhabung der Unterscheidung von Medium und Form im Hinblick auf (technische) Medien wie Papier, Druckfarbe, Bleilettern und Druckerpresse, sodann das Erfolgsmedium (siehe →.) Geld für hochsummige Investitionen (,finanzielle Vorlage‘, daher später ,Verlag‘), das Erfolgsmedium Macht (Landesherren versus klerikale Kontrolle), das Medium der Öffentlichkeit in Formen der Beobachtbarkeit (siehe →.) sowie das Medium Neuheit im Sinne von Informiertheit (siehe ebenfalls 5.), dessen historisches Auftreten sich u. a. mit der Entdeckung Amerikas 1495 verbindet.

    Erst dieses historisch kontingente Zusammenspiel mehrerer Medienwechsel im Sinne neuer Elemente in unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Sinnhorizonten, die sich (dann) in einer jeweils spezifischen Form/Medium-Einheit zusammenfinden, lässt es als sinnvoll erscheinen, vom Medienwechsel des 15. und 16. Jahrhunderts als Epochenwechsel zu sprechen.

    Viertens justieren der Buchdruck und sodann die Reformation das Verhältnis von mündlicher Sprache und schriftlichen Texten neu. Im Effekt kommt es dabei nicht zu einem Nullsummenspiel¹⁶, bei dem die mündliche Kommunikation verliert und die schriftliche gewinnt, sondern es kommt, vermutlich erstmalig in der Historie, zu einer Steigerung auf beiden Seiten. Die Formel kann lauten: je mehr schriftliche Kommunikation, desto mehr mündliche Kommunikation, je mehr Bücher, desto mehr Gespräche – und umgekehrt.

    In der Epoche zuvor hatte sicherlich die mündliche Kommunikation die Oberhand. Das, was in Manuskripten schriftlich vorlag, hing am Tropf der Interaktionen. Die mündliche Kommunikation gab den Kontext für die schriftlichen Texte ab. In der nun anbrechenden Epoche scheint es zunächst umgekehrt zu sein, dass die Texte den Kontext für die Gespräche abgeben, doch bald wird deutlich, dass mündliche und schriftliche Kommunikation nahezu inkompatibel auseinander driften. Beide Medien etablieren und stabilisieren ihre eigenen Formen. Es entstehen zwei voneinander unterscheidbare Form/Medium-Kontinua. So ist es faktisch unmöglich, mündliche Kommunikation eins-zu-eins in schriftliche Kommunikation zu überführen.¹⁷

    Das Auseinandertreten von mündlicher und schriftlicher bzw. gedruckter Kommunikation lässt sich beispielhaft und in erweitertem Sinne an den reformatorischen Predigten aufweisen. Die vielen mündlich gehaltenen Predigten gehen vermehrt in schriftlich-gedruckte Formen über, doch bindet dies Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht enger aneinander, sondern setzt vielmehr eigenwillige Anschlüsse auf beiden Seiten frei.¹⁸

    Für die schriftliche Kommunikation und deren Vollendung im Buchdruck kommt es damit zu folgendem Wandel: In der mündlichen Epoche wurden Manuskripte angefertigt, um festzuhalten, was gesagt wurde, bis hin zur Sage Gottes, insofern die heilige Schrift als Diktat verstanden wurde¹⁹; in der Epoche des Buchdrucks dagegen wird über das gesprochen, was geschrieben steht, und da mehr (als früher) geschrieben steht, wird auch mehr gesprochen.²⁰ Man kann darin einen Vorgriff auf die spätere Durchsetzung der Massenmedien sehen, die dann als Auslöser und Garanten für Interaktionen stehen und genau dafür die von ihnen (real) konstruierte Hintergrundrealität bereithalten. Mit anderen Worten: Interaktionen referieren auf Themen und Schemata zunächst der gedruckten Bücher, später auf Themen und Schemata der Massenmedien als eines gesellschaftlichen Funktionssystems.

    Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Wahrnehmungsund Kommunikationsmedien ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs einzuschieben. Er betrifft das Verhältnis von Schrift bzw. Buchdruck und Bild zueinander. Die gedruckte Schrift, die sich als Kommunikationsmedium durchsetzt und fortsetzt, tritt in Konflikt zu Bildern, die genau als solche wahrgenommen werden, denn Bilder können zwar zu Themen der Kommunikation werden, aber nicht selbst als Kommunikation funktionieren.²¹ Mittels Büchern und Bildern konkurrieren – jedenfalls aus Sicht der Schrift- und Buchvertreter – zwei Medien und ihre Formen gegeneinander, und zwar weil Bilder keine Ja/ Nein-Bifurkationen ermöglichen, um die es dann in den kommunikativen Sinnformen der Reformatoren geht. So erklärt sich der Bildersturm u. a. aus dem Widerstreit von Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedien und damit aus dem (beobachtbaren) Auseinandertreten der Systemreferenzen von Bewusstsein und Kommunikation (siehe 4.4).²²

    4. Verbreitungsmedien

    Mit dem Buchdruck entstehen Bücher. Dieser um 1450 entstehende Medienwechsel wird möglich durch die Konzeptualisierung, Herstellung und Verwendung von Bleilettern. Die technischen Einzelheiten sind gut nachvollziehbar und vielfach beschrieben worden.²³ Die Besonderheit bei der Erfindung eines neuen Mediums – wie es nun in Form der Bleilettern verfügbar wird – liegt darin, dass es nicht auf eine (sozusagen ontologisch) festgelegte Art und Weise (Qualität) oder Anzahl (Quantität) der Elemente ankommt, die das Medium und die darin möglichen Formen definieren. Das heißt, die Art und Weise sowie die Anzahl der Elemente entstehen erst im Gebrauch.²⁴ So wurde mit unterschiedlichen Herstellungsschritten und unterschiedlichen Materialien (hier erneut: also mit vorgeschalteten Medien) experimentiert, bis sich ein zufriedenstellendes Ergebnis eingestellt hatte. Zudem wurden die Elemente sowohl in der Frühzeit als auch in den folgenden Jahrhunderten hinsichtlich ihrer Materialität (oder eher: ihrer Medialität) vielfach variiert. Im Blick auf die Anzahl der Elemente ging man zunächst, der Anzahl der Buchstaben des Alphabets entsprechend, von idealerweise (oder eher: abstrakterweise) 26 Lettern aus.

    Doch zum einen ist die Anzahl der Buchstaben im Alphabet historisch nicht ein-für-allemal festgelegt und zum anderen benötigt man zumindest Klein- und Großbuchstaben, eventuell Umlaute und Ligaturen, Satzzeichen und Abbreviaturen usw. Gutenberg hatte für die 42-zeilige Bibel rund 290 Lettern hergestellt²⁵, später ist die Anzahl wieder zurückgefahren worden, da man u. a. auf platzsparende Ligaturen verzichten konnte. Hinzu kommt die Frage der Art und Weise der Typografie, die sich nach den Anfängen mit der Textura und der Gothico-Antiqua bald vervielfacht hat. Man sieht also, dass die Elemente des Mediums Buchdruck im permanenten Wechselspiel mit den Formanforderungen variieren. Die Formen und das Medium der Lettern bedingen sich gegenseitig. In diesem Wechselspiel von Medium und Formen mit den variablen Elementen der Lettern kommt es maßgeblich darauf an zu erkennen, dass andere bzw. neue Elemente andere bzw. neue Medien und damit andere bzw. neue Formen hervorbringen. Bei der Einheit der Unterscheidung von Form(en) und Medium handelt es sich um eine dynamische, in sich rekursiv pulsierende Einheit. Die im Medium lose gekoppelten Elemente bilden Formen, die wieder zerfallen und insofern auf das Medium zurückwirken als sich abweichende oder neue Elemente ergeben, die das Medium wiederum anreichern oder mindern usw. Wir schauen uns dies am auftretenden Buchdruck nun nochmals genauer an.²⁶

    4.1 Andere Medien, andere Bücher

    Bücher gab es auch vor dem Buchdruck, aber es waren, im Vergleich zu den gedruckten, andere Bücher, das heißt andere Formen in einem anderen Medium. Nicht umsonst sprechen wir hier von Handschriften. Die Elemente des Mediums und der Formen waren die ,Handschriften‘ oder ,Schriftzüge‘, kaum schon zu begreifen als Einzel-Lettern, die dann zusammen-gesetzt wurden. Ebenso verhielt es sich mit den Elementen der Xylografien, die nicht als Buchstaben auftraten und nach der Formbildung wieder dekomponiert werden konnten, sondern man muss hier vermutlich die Holzdruckplatten selbst als Elemente begreifen, die ja nach Art und Weise und (nach) Anzahl für jeden einzelnen Druck variieren konnten. Auch die frühen Versuche des Drucks von Musiknoten waren noch nicht in der Lage, Einzelnoten als Elemente zu nutzen, sondern verwendeten ebenso wie Manuskripte oder Xylografien größere Einheiten. Erst die Idee der Lettern des Buchdrucks ermöglichte es dann, wenn auch unter großem Aufwand, Einzelnoten als Bleilettern für den Druck zu erstellen und zu setzen.

    Mit anderen Worten: Bücher sind nicht gleich Bücher,

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