Wir sind auf dem Weg vom Musik- zum Flohmarkt
Die Popmusik und die sie
verwertende Musikindus-
trie gelten seit jeher als
ein Markplatz der Eitel-
keiten. Es geht im Kern
darum, die Musik an die
Hérerschaft zu bringen.
Etwas unromantisch
kénnte man dies in eine
simple Formel pressen:
Kunst plus Konsument
ergibt Kommerz! Jahr-
zehntelang ging diese so
nie festgeschriebene
Rechnung far alle Betei-
ligten wunderbar auf.
Der erste Digitalisie-
rungsschub brachte der
Branche mit der Einfai
rung der CD hohe Ge
ne, mit denen es sich lange komfortabel lebte. Zwi-
schenzeitlich kam es zu einer zweiten Revolution, zu-
sammengefasst sei sie unter den Begriffen ,internet"
und ,MP3", Illegale Downloads im Milliardenbereich
schienen die Musikindustrie beinahe in die Knie zu
zwingen, doch ein Uber Konzern- und Interessens-
grenzen hinweg erfolgter Kraftakt sorgte dafiir, dass
legale Downloads hohe Steigerungsraten erreichen
konnten, wenn auch der gleichzeitige Riickgang der
CD-Umséatze nicht kompensiert wurde. Parallel hierzu
etablierte’sich Hardware, exemplarisch genannt sei
das iPhone, aber auch die in den letzten Jahren regel-
recht explodierten Social Media wie Facebook oder
last.fm mit ihren Méglichkeiten der Interaktion und
des sozialen Austauschs von Interessen und Empfeh-
lungen ber die Vernetzung von Profilen sowie cross-
mediale Werbekampagnen der Industrie befeuerten
den neuen Konsum im Musikmarkt,
Vor allem Newcomer scheinen von diesen Entwick-
Jungen zu profitieren, so die landiéufige Meinung.
Doch auch dieser Hype hat eine Kehrseite, denn un-
Ubersehbar erodieren im digitalen Zeitalter tradierte
Muster im geselischaftlichen Sozial- und Konsumver-
halten. Der Nutzer von heute ist nicht mehr der Hérer
von gestern. Nicht umsonst gibt es Geschaftsmodel-
le, in denen zunachst eine Zielgruppe geschaffen und
HUBERT WANDJO.
2um revolutionaren Wan-
del in der Musikbranche,
Der Autor (58) ist Profes-
sor und Business-Direktor
der Mannheimer Pop-
akademie,
anschlieBend die Verwertungsmaschine angeworfen
wird, etwa bei den Casting-Formaten. Es mag zutref-
fen, dass heute jeder Fan seine eigene Band hat, zu-
mal dies fur die demokratischen Méglichkeiten des
Internets spricht. Dennoch generiert diese Vielfalt ei-
ne Art Schattenreich, in dem sich feste Affinitaten in
eine Art unverbindliche Teilnahme am musikalischen
Geschehen gewandelt haben. Diese Unverbindlichkeit
wird spatestens dann zur Willkir, wenn das Internet
als reiner Datenstrom fungiert, den man nach Belie-
ben ein- und ausschaltet. Was in diesem Zeitraum an
Musik konsumiert wird, ist dem Hérer im\ Extremfall
egal, und um den langfristigen, von individuellen Ent-
wicklungsstufen der eigenen Persénlichkeit geprag-
ten Aufbau einer Musiksammiung mit ihren Attraktio-
nen wie Coverdesign, Textbooklet oder Special Editi-
‘ons geht es dem Konsumenten in der Regel schon
lange nicht mehr. Zumal er in vielen Fallen nicht mehr
bereit ist, fiir das Produkt Musik zu bezahlen.
Nicht nur die CD gehért einer Mediengattung von
gestern an, auch das auf der privaten Festplatte ge-
speicherte MP3 gilt fr die junge Hérerschaft und fur
die Speerspitze der technologiefreundlichen Digital
Natives als nicht mehr zeitgema®. Wer Musik héren
méchte, Klinkt sich in den Stream ein und partizipiert
auf Basis der Dispositionen seines Profils oder lasst
sich im Schwarm seiner Kontakte und deren Vorlie-
ben treiben. Was hei8t das fur die Branche als ver-
wertende Instanz? Einerseits sind Anbieter von Strea-
ming-Modellen wie Spotify derzeit in aller Munde,
vergréBern standig ihr Repertoire und bieten dabei
auch eine-Plattform far Newcomer. AuBerdem hat
sich der Download-Markt etabliert, wenn auch ohne
ein bisher einheitliches Preis modell. Hier besteht an-
dererseits die Gefahr, dass an bestimmten Punkten
der digitalen Verwertungskette ein Ramscheffekt ein-
setzen kénnte. Man denke an die erst unlangst sehr
6ffentlichkeitswirksam ausgetragene Preisschlacht
zwischen Amazon und Media Markt, die viele Songs
aus ihren MP3-Stocks fiir 10:Cent verkauften,
Leidtragende dieser Entwicklung sind in erster Linie
die, denen keine andere Wah bleibt, als sich dem
Discount zu stellen und die Ware fiir den Abverkauf
2u liefern: die Kistler. Sicher kann man nicht zwin-
gend von einer dauerhaften Verramschung in der
Popmusik sprechen, doch besteht die Gefahr, dass
Teile des Markts sich in einen Flohmarkt verwandein.