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Was für ein Zufall: Peter Bichsel und Michael Crichton kennen einander noch nicht, stehen aber

an den zwei schmalen Urinalen einer engen Herrentoilette in einem Stockholmer Hotel. Sie
sind leicht angetrunken. Um die etwas peinliche Situation aufzulockern, gibt Bichsel ein plattes
Wortspiel zum Besten, das eigentlich noch nicht mal im Deutschen funktioniert: “I’m sorry,
but I couldn’t help looking at your - stockholm. Haha.” Crichton weiß, was er meint, stellt sich
aber dumm: “You’ve seen it? But it’s not a stock product - it’s custom made. And my wife and
I enjoy its lofty size...” Er will den Faden weiterspinnen, doch Bichsel unterbricht ihn: “I get it, I
get it. Stock home. Very funny.” Lachend erkennen sie im jeweils anderen den fellow language
lover und sind einander sofort sympathisch. Sie gehen in die Hotelbar, setzen sich zu ihren
jeweiligen Gruppen, bis sich diese zurückziehen, treffen sich dann am Tresen wieder, saufen
Grappa und Whiskey, und kommen bald auf die Themen Sex und Drogen. Bichsel erzählt von
seiner Tochter und ihrem Trip durch Amerika. In der kalifornischen Wüste traf sie einen Freak in
seinem VW-Bus, warf mit ihm Pilze ein und erlebte eine wilde Nacht. Crichton wird plötzlich fast
nüchtern: “I know that story! That guy was my son!” Er weiß auch, dass die beiden die Pilze von
einer alten Schamanin gekauft hatten, die aussah wie Whoopi Goldbergs Mutter. Bichsel und
Crichton fühlen sich tief verbunden, liegen einander in den Armen und fangen jetzt ernsthaft an,
sich zu betrinken. Bichsel fragt den Barkeeper, der Connections zur Stockholmer Drogenszene
hat, ob derzeit Gäste aus Hawaii im Hotel sind. Als der Barmann das Codewort hört, zwinkert er
ihnen zu und mixt seinen Bloody Funghi - Bloody Mary mit Magic Mushrooms. Jetzt geht’s ab...
die beiden berühmten Autoren spinnen eine Story zusammen:

Apocalypse Friedrichshain

Wir schreiben das Jahr 1990. Eine mysteriöse Wolkenkonstellation schwebt über Berlin. In
der ganzen Stadt wird es finster, alles Sonnenlicht wird auf die Mainzer Straße fokussiert.
Die anarchistischen BewohnerInnen der besetzten Häuser bekommen eine Überdosis
Sonnenstrahlen ab. Sie wachsen auf das Zwanzigfache ihrer Größe (ihre Kleidung allerdings
nicht), verfallen in einen sexuellen Rausch und treiben es in allen Stellungen des Kamasutras
auf den zusammenbrechenden Dächern von Friedrichshain. Ihr Schweiß läuft wie Wasser von
ihren riesigen nackten Körpern und fließt in Bächen durch die Straßen. Doch was aussieht
wie harmloses Wasser ist kondensiertes Sonnenlicht: Wenn ein gewöhnlicher Mensch -
zum Beispiel ein Polizist, der die Mainzer Straße zurückerobern soll - mit der Flüssigkeit
in Berührung kommt, verpufft er in einer Explosion regenbogenfarbenen Nebels. Andere
Menschen, die diesen Nebel einatmen, werden genauso von Lust durchströmt wie die vierzig
Meter hohen Mainzer Monsterpunks, so dass bald nackte, engumschlungene Leiber die
Straßen Friedrichshains bedecken wie ein fleischfarbener Flokati. Die Amis, Russkis, Tommies
und Franzmänner, die noch in Berlin stationiert sind, schicken ihre Panzer und Hubschrauber,
weil sie glauben, das Chaos mit Gewalt bändigen zu können, doch: alle Alliierten irrten. Auch
ihre Soldaten sind nicht immun gegen den bunten Nebel...

Langsam geht die Sonne über Stockholm auf. Bichsel und Crichton sind inzwischen durch die
schwedische Sommernacht zum Stockholmer Hafen gewankt und spüren, dass sie die irre
Geschichte jetzt auf die Zielgerade bringen müssen. Crichton denkt sich ein Science-Fiction-
Ende aus:
Der Rausch breitet sich über ganz Berlin, ganz Deutschland, die ganze Erde aus, die
ekstatischen, grell strahlenden Körper verdichten sich zu einer relativistischen Masse und
versinken schließlich hinter dem Ereignishorizont einer nie endenden orgasmischen Singularität
wie die Sonne an einem lauen Sommerabend.

Der besoffene Bichsel dagegen wünscht sich ein pazifistisches Ende:

Als zwanzig Jahre später die Menschen durch das adrett renovierte Friedrichshain gehen,
fragen sie sich, wo eigentlich die Hausbesetzer geblieben sind. Keiner, der dabei war, möchte
daran erinnert werden: als die orgiastisch wogende Leibermasse den Höhepunkt erreicht,
schweben die Monsterpunks wie Gasballons zum Himmel und ins All, die normalgroßen
Menschen jedoch fallen in eine tiefe Ohnmacht, aus der sie Tage später erwachen wie
Adam und Eva nach dem Sündenfall. Sie schämen sich und sind schwanger. Der Senat
beschließt, die Spuren zu verwischen und stellt hunderte Millionen Mark für die Sanierung
des Bezirks bereit. Die verbliebenen ehemaligen Friedrichshainer Anarchos kaufen schon mal
Holzspielzeug und sind so tief befriedigt, dass sie keine Lust mehr auf Randale haben.

Crichton findet das Ende kacke und haut Bichsel auf die Nase. Bichsel packt Crichton und
schmeißt ihn ins Hafenbecken. Seitdem behaupten beide, der jeweils andere habe nie existiert.
Crichton berichtet von einem experimentellen Computerprogramm des CERN namens ‘Better
Pixel’, das eigentlich populärwissenschaftliche Analogien für quantenmechanische Paradoxien
finden sollte, aber nur unsinnige Geschichten produzierte, die schließlich von einem obskuren
schweizer Verlag unter einem albernen Pseudonym veröffentlicht wurden. Wenn man Peter
Bichsel heute nach dieser Nacht in Stockholm fragt, schüttelt er den Kopf, lächelt traurig und
sagt dann so leise, daß man sich fast schämt: “Michael Crichton gibt es nicht.”

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