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Je nachdem, welchen Einwirkungen das Nervensystem der unmittel-

baren Umwelt ausgesetzt ist, wird dieser Schaltkreis entweder eine


starke, dominante oder aber eine schwache, untergeordnete Rolle in
der Familie und im späteren gesellschaftlichen Leben (Kindergarten,
Schule, Freunde) spielen. Solche psychologischen Aspekte wurden be-
reits von Alexander S. Neill in seinen reformpädagogischen Konzep-
ten berücksichtigt, wie er in seinem Buch „Theorie und Praxis der anti-
autoritären Erziehung“ berichtet:

„Wilhelm Reich hat darauf hingewiesen, dass wir bei plötzlicher


Furcht den Atem anhalten und ein Kind, das sich fürchtet, sein gan-
zes Leben lang den Atem anhält. Ein richtig erzogenes Kind erkennt
man an einem freien, ungehemmten Atem, mit dem es zeigt, dass es
vor dem Leben keine Angst hat.“ (Neill, 1969, S. 138)

Wie hier deutlich wird, hat dieser Schaltkreis mit Macht und Ohn-
macht sowie Angriff und Verteidigung von Territorium zu tun. Dies
betrifft sowohl räumliches als auch geistiges oder ideologisches Ter-
ritorium. Die Aktivierung dieses Schaltkreises kann daher bei einem
lauthals bellenden Hund, den der Anblick des Postboten wieder mal
auf die Palme gebracht hat, genauso beobachtet werden wie bei manch
einer hitzigen Debatte im deutschen Bundestag.

5.3 Der semantische Geschicklichkeitsschaltkreis


Der dritte Gehirnsschaltkreis wird in der Umgangssprache auch der
„Verstand“ genannt. In der Biologie bezeichnet man ihn bekanntlich
als menschliches Gehirn oder als Großhirn. Während die ersten bei-
den Schaltkreise bei allen Säugetieren existieren, verdanken wir dem
Großhirn oder dritten Schaltkreis unsere speziellen menschlichen We-
senszüge. Es ermöglicht uns die Fähigkeiten, kommunizieren zu kön-
nen, uns zu erinnern, zu verstehen, Dinge zu erschaffen und kreativ tä-
tig zu sein.

Dieser Gehirnsschaltkreis vermittelt uns den dreidimensionalen Raum.


Zu der Vorstoß-Rückzug-Prägung und der fixierten Dominanz-Unter-
werfung-Realität kommt nun die Prägung der Rechts-links-Polarität
hinzu. Im Alter von ungefähr fünf bis sechs Jahren lernt das Kind die
feinen Muskeln des Kehlkopfes (Sprechen) sowie die der dominan-
ten Hand gezielter zu benutzen, und es beginnt, zunehmend für sich
selbst zu denken. Dies geschieht durch Auswerten, Erfinden und Ver-
gleichen von Information und Symbolen.

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Ausgelöst durch das biologische Programm, den DNS-Code, vollzieht
sich in unserem Nervensystem nun folgender Prozess, welcher die
Lateralität (Seitigkeit) festlegt. Wie im ersten Kapitel bereits erwähnt,
ist das menschliche Großhirn in zwei Hälften, auch Hemisphären ge-
nannt, unterteilt. Diese sind neurologisch mit der jeweils gegenüber-
liegenden Körperseite verbunden. Gehen wir in unserem Beispiel von
einem rechtshändigen Kind aus, was ja bei den meisten Menschen der
Fall ist, so wird jetzt die Großhirnrinde der linken Gehirnhälft aktiviert.
Da diese direkt durch feine Nervenstränge mit der rechten Hand und
dem Kehlkopf verbunden ist, ermöglicht sie jetzt dem Kind sowohl
den geschickten Umgang mit der Sprache als auch das manipulieren-
de Greifen und Gestalten mit der dominanten Hand (vgl. Leary, 1982a,
S. 20).

In der pädagogischen Praxis, dem Alltagsleben im Kindergarten, kön-


nen wir nun beobachten, wie das Kind nicht mehr mit der Faust kritzelt,
sondern es beginnt, eine neue Handfertigkeit zu erlernen, den spiele-
rischen Umgang mit Daumen und Zeigefinger. Auch die Sätze werden
zunehmend flüssiger und weniger nachahmend, sondern entsprin-
gen zunehmend einer eigenen Gedankenwelt. Aus den bis dahin eher
unwillkürlichen Bewegungsabläufen heraus entwickeln sich in dieser
Phase nun zunehmend die Fähigkeiten, die Bewegungen zweckmä-
ßig zu handhaben. Dass sich diese Entwicklungen von Fingerfertigkeit
und komplexer Sprachfähigkeit zur gleichen Zeit beobachten lassen,
erklärt sich durch die neurologische Wechselwirkung, welche zwi-
schen der dominierenden Hand und der seitlich gegenüberliegenden
Großhirnhälfte besteht. Je besser die Vernetzung im Bereich des Schlä-
fenlappens, wo diese Funktionen lokalisiert sind, umso besser ist auch
die Geschicklichkeit der Fingerfertigkeit – und umgekehrt. Sprachwis-
senschaftliche Erkenntnisse haben längst ergeben, dass bei der kind-
lichen Sprachentwicklung die gleichen Stufen wiederholt werden, die
auch der Urmensch beim Erlernen seiner Sprache vollzogen hat. Die-
ser Schaltkreis trat in der Evolutionsgeschichte in Aktion, als die er-
sten Kunstgegenstände, z. B. die Höhlenmalereien, entstanden. In der
gleichen Epoche entstanden auch die Fähigkeiten, Feuer zu entzünden
und Steinwerkzeuge herzustellen (vgl. von Schwerin, 1987, S. 14; Lea-
ry, 1982a, S. 20).

Wirkt die familiäre und gesellschaftliche Umwelt (Kindergarten, Schu-


le) auf das Kind in diesem Alter anregend, angenehm, inspirierend
und wird seine Neugierde adäquat befriedigt, so ermöglichen die ent-

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sprechenden Prägungen einen spielerischen und vielfältigen Umgang
mit Symbolen und Informationen. Neurologisch gesehen bedeutet dies
eine stärkere Vernetzung der einzelnen Neuronen im Großhirn. Ist die
Umgebung dagegen weniger reizvoll, findet nur eine schwache Ver-
netzung statt, so bleibt das Kind ungeschickt im Umgang mit Geräten
und Symbolen. Die psychologischen Folgen sind in der sozialpädago-
gischen Arbeit bestens bekannt: Aggression und Frustration, Zurück-
gezogenheit etc.

Im Kontext seiner späteren Forschungsarbeiten gebrauchte Leary hier


ebenfalls den Begriff eines Fensters des Geistes , welches in der Zeit
zwischen dem dritten und achten Lebensjahr offen stehe. In Anknüp-
fung an Chomsky und Piaget verweist er auf den Umstand, dass das
menschliche Gehirn während dieser Öffnungszeiten am empfäng-
lichsten für sprachlichliche Eindrücke sei, und betont besonders die
Bedeutung des familären Umfeldes. Vor allem seien es die entspre-
chenden Heimmedien, welche das Kind in diesem Entwicklungszeit-
raum zu Hause vorfindet und die großen Einfluss auf die Program-
mierung der linken Hirnhälfte ausübten. Befinden sich im elterlichen
Haushalt keine Bücher und Zeitungen, sondern nur Fernsehgeräte, so
werde das Kind in der Schule später große Hemmungen in Bezug auf
den geschickten Umgang mit Fingerfertigkeit und Sprache zeigen und
die oben beschriebenen Reaktionen an den Tag legen. Hier kommt die
wichtige Bedeutung einer guten Kinderbetreuung klar zum Ausdruck
(vgl. Leary, 1993, S. 20).

5.4 Der sozio-sexuelle Schaltkreis


Dieser Schaltkreis vermittelt entsprechend die vierte Dimension: die
Zeit. In der Stammesgeschichte wurde dieser Schaltkreis vor ca. 30.000
Jahren aktiv, als sich das menschliche Leben nicht mehr in kleinen
Gruppen abspielte, sondern sich nun große Gesellschaften bildeten.
Wichtig ist hierbei ein gemeinsamer moralischer Kodex: Hier werden
die kulturellen Normen und gesellschaftlichen Werte definiert. Reli-
giöse Rituale, sexuelle Gewohnheiten, kulturelle Traditionen und po-
litische Strukturen wurden hier determiniert und konditioniert. Von
großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass in dieser
Epoche die geschlechtsspezifische Rollenverteilung festgelegt wurde.
Die Männer waren für die Versorgung der Familie und den Schutz
von Familie und Gemeinschaft zuständig und spielten die Rolle des
Alphamännchens. Die Rolle der Frau wurde dahingehend festgelegt,
die Verantwortung für die Erziehung der Kinder zu übernehmen, den

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